Am 29. Juni 2007 hat Benedikt XVI. das Schlussdokument der V. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik, die vom 13. bis zum 31. Mai im brasilianischen Marienwallfahrtsort Aparecida stattgefunden hatte, approbiert. Dabei wurde der Eindruck vermittelt, der Beschlusstext sei ohne relevante Änderungen akzeptiert worden. So hatte es jedenfalls die Katholische Nachrichtenagentur KNA am 18. Juli berichtet. Auch der Papst schrieb in seinem Brief an den lateinamerikanischen Bischofsrat CELAM (Consejo Episcopal Latinoamericano), er „autorisiere die Publikation des Schlussdokuments“. Einer der Präsidenten der Bischofsversammlung, Kardinal Geraldo Majella Agnelo (Erzbischof von São Salvador da Bahia, Brasilien) hatte während eines Besuchs in Deutschland Mitte Juni entsprechende Erwartungen geweckt, und Bernd Klaschka, Geschäftsführer von Adveniat, sah in der „zügigen“ und „unbürokratischen“ Freigabe einen „deutlichen Vertrauensbeweis gegenüber der Kirche in Lateinamerika“ (Adveniat-Pressemeldung, 10. Juli).
Doch ein genauerer Vergleich der approbierten Fassung (unter www.celam.org) mit dem beschlossenen Text, der unter Experten schon vor der Freigabe kursierte und vom brasilianischen Indianermissionsrat CIMI (Conselho Indigenista Missionário) auf seiner Internetseite zugänglich gemacht worden war, zeigt, dass es in immerhin 127 der insgesamt 554 Abschnitte Änderungen gegeben hat. Häufig sind es stilistische Verbesserungen oder Präzisierungen, die in die Gesamtrichtung der Textaussagen passen. Es ist nicht bekannt, wer diese Veränderungen vorgenommen hat. Häufige Einfügungen zur Bedeutung der Familie lassen an den kolumbianischen Kurienkardinal Alfonso López Trujillo denken. Der nachträglich eingefügte Hinweis, eine gute Priesterausbildung erfordere auch gut vorbereitete Theologieprofessoren (Nr. 323), stammt vielleicht sogar vom Papst selbst. Teilweise aber handelt es sich um Änderungen, die mit einer klaren Tendenz des Misstrauens und übertriebener Absicherung der Position des Lehramtes sehr deutlich in den Text eingreifen, und dies vor allem in den Aussagen, die in ersten Reaktionen nach Abschluss der Konferenz von vielen Theologen als positiv gewürdigt worden waren (vgl. z. B. www.unisonos.br/ihu).
Als besonders wichtig war herausgestrichen worden, dass die lateinamerikanischen Bischöfe nach der konfliktreichen Konferenz in Santo Domingo 1992 wieder zu der in Medellín 1968 und Puebla 1979 gewählten Methode „Sehen-Urteilen-Handeln“ zurückgekehrt seien (vgl. HK, Juli 2007,34ff).Dabei ist es im Aufbau des Textes auch geblieben, aber in Nr. 19, in der diese Entscheidung begründet wurde, ist durch die römische Endredaktion ein Satz eingefügt worden, der in seiner ganzen dogmatischen Überlast nicht anders denn als eine Distanzierung verstanden werden kann. Hier hat ein Endredakteur seine gesammelten Vorbehalte gegen die theologischen Neuaufbrüche der letzten Jahrzehnte in ein kaum lesbares Satzungetüm gepackt: „Diese Methode impliziert es, Gott mit den Augen des Glaubens, durch das geoffenbarte Wort und den lebendig machenden Kontakt der Sakramente zu betrachten, damit wir im täglichen Leben die uns umgebende Wirklichkeit im Lichte seiner Vorsehung sehen und sie entsprechend Jesu Christi beurteilen, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, um dann von der Kirche, dem mystischen Leib Christi und universellem Heilssakrament her zu handeln, in der Verkündigung des Reiches Gottes, das auf dieser Erde gesät wird und vollendete Frucht bringt im Himmel.“ Ein gutes Beispiel dafür, dass es, wie das Dokument in Nr. 100d selbst feststellt, „in der Evangelisierung, der Katechese und allgemein in der Pastoral weiterhin eine für die heutige Kultur wenig aussagekräftige Sprache“ gibt. Doch auch sonst ist die Rückkehr zu diesem, ursprünglich aus der belgischen Arbeiterjugend (Kardinal Joseph Cardijn) stammenden und in der Enzyklika Mater et Magistra in die Soziallehre übernommenen Dreischritt nur teilweise gelungen. Dies trifft auch auf den Text vor der Approbierung durch den Papst zu. Denn vielfach fehlt es im ersten Teil „Das Leben unserer Völker heute“ an analytischer Schärfe. Die Ausführungen zu aktuellen kulturellen Entwicklungen sind von großem Pessimismus geprägt, sie werden fast nur als Bedrohung wahrgenommen. Immer wieder ist sehr pauschal von einer Kultur der individuellen Selbstbezüglichkeit (Nr. 46) und des Konsums in einer Logik des „pragmatischen und narzisstischen Individualismus“ (Nr. 51) die Rede, die folgendermaßen charakterisiert wird. „Man lässt die Sorge um das Gemeinwohl beiseite, um für die unmittelbare Verwirklichung individueller Wünsche Platz zu schaffen, für die Schaffung neuer und häufig willkürlicher individueller Rechte, man drängt beiseite die Probleme der Sexualität, die Familie, die Krankheiten und den Tod“ (Nr. 44). Besonders negativ wird die Gegenwartskultur in einem späteren Abschnitt zur Ausbildung in den Priesterseminaren dargestellt (Nr. 314-327). Manche aktuellen Zeitströmungen hat man offenbar gar nicht begriffen, wenn etwa die „Gender-Ideologie“ kritisiert wird, nach der „sich jeder seine sexuelle Orientierung frei wählen“ könne (Nr. 40). Offenbar hat man kaum neuere sozialwissenschaftliche Erkenntnisse herangezogen, aus denen zum Beispiel deutlich wird, wie auch in Prozessen der Individualisierung neue Solidaritätspotenziale entstehen können. Relativ differenziert wird die ökonomische Situation analysiert, die Globalisierung mit ihren positiven und negativen Seiten bewertet (Nr. 60-73) und die ökologischen Probleme, insbesondere die des Amazonas-Beckens und der Antarktis, dargestellt (Nr. 83-87, siehe auch bei den Handlungsempfehlungen Nr. 470-475). Von den indigenen Völkern wird sogar gesagt, sie gehörten zur „ersten Wurzel der lateinamerikanischen Identität“ (Nr. 88).
Eine Analyse des Wachstums der neuen Freikirchen fehlt allerdings praktisch ganz, was angesichts der dramatischen Abwanderung aus der katholischen Kirche erstaunt. Erst im zweiten Teil (Nr. 225-226) finden sich einige wenige, aber interessante Bemerkungen zu den Freikirchen und zu pastoralen Gegenstrategien wie etwa die stärkere Ermöglichung religiöser Erfahrungen und des Lebens in Gemeinschaft. Doch auch hier hat die Endredaktion zugeschlagen. Der für eine adäquate Haltung gegenüber den Freikirchen nicht unwichtige Satz: „Eigentlich wollen viele Leute, die zu anderen religiösen Gruppen gehen, unsere Kirche gar nicht verlassen, sie suchen nur ernsthaft nach Gott.“ wurde verändert zu: „Sie versuchen, nicht ohne ernste Gefahren, Antworten auf einige Wünsche zu bekommen, die sie nicht, wie es eigentlich sein sollte, in der Kirche gefunden haben“ (Nr. 241 bzw. 225). Erst im dritten Teil, in dem es um das „Handeln“ geht, finden sich manche sehr gelungene Passagen, etwa zum Thema der neu zu entwickelnden Stadtpastoral (Nr. 509-519) oder der neuen Medien wie auch eine positive Wertung der Chancen des Internets (Nr. 484-490).
Basisgemeinden gelten nicht mehr als Zeichen der Vitalität der Kirchen
Eingriffe der Endredaktion in einige Abschnitte zu den Basisgemeinden haben das „Kontinentale Netz der Basisgemeinden“ bereits zu einem Protestbrief an die Bischöfe veranlasst. Die Formulierung in Nr. 194, die Bischöfe wollten „entschieden das Leben und den prophetischen und heilig machenden Auftrag der Basisgemeinden bestätigen und ihnen einen neuen Impuls geben“ wurde ganz gestrichen. Der einfache Aussagesatz, die Basisgemeinden seien ein „Zeichen der Vitalität der Kirche“ (Nr. 195) wird zu dem Konditionalsatz transformiert, sie würden sich in ein solches Zeichen „für die Ortskirche“ „verwandeln“, wenn sie an der Einheit mit ihrem Bischof und dem Pastoralprojekt der Diözese festhielten (im approbierten Text Nr. 179). Die Aufforderung zu einer „tief greifenden Erneuerung dieser reichen kirchlichen Erfahrung unseres Kontinents“ (Nr. 195) wird ersetzt durch den Satz: „In ihrem Bemühen, den Herausforderungen der Gegenwart zu entsprechen, werden die Kirchlichen Basisgemeinden darauf achten, den reichen Schatz der Tradition und des Lehramtes der Kirche nicht zu verfälschen“ (Nr. 179) – wobei das Futurum, das hier verwendet wird, im Spanischen auch die Bedeutung eines Imperativs hat.
Um diese Passagen hatte es schon auf der Konferenz von Aparecida selbst einigen Wirbel gegeben, die sonst wegen der Freiheit des Dialogs und des Geistes der Kollegialität im Vergleich zur Konferenz von Santo Domingo sehr gelobt worden war. Wie Carlos Francisco Signorelli, Vertreter des Nationalen Laienrates Brasiliens (CNLB) und Gast bei der Versammlung in Aparecida berichtete (Meldung der Nachrichtenagentur ADI-TAL vom 8.8.07, www.adital.com.br), waren die genannten Passagen zu den Basisgemeinden bei der letzten Plenarsitzung am 30. Mai schlichtweg verschwunden. Entsprechend den Regeln der Konferenz wurde in letzter Minute das Votum von mehr als sieben Bischofskonferenzen eingeholt, um den Text in das Schlussdokument doch wieder einzufügen. Aber Kardinal López Trujillo sprach sich im Plenum vehement gegen eine Wiedereinfügung aus. Eine Abstimmung brachte nur eine Mehrheit von 72 gegen 50 Stimmen, während 79 Stimmen nötig gewesen wären (absolute Mehrheit). Trotzdem fanden sich die Passagen dann doch im Schlussdokument, was damit begründet wurde, dass die Weglassung ein Versehen gewesen sei. Doch warum dann die ganze Diskussions- und Abstimmungsprozedur? Durch die massiven Eingriffe der Endredaktion haben die Gegner der Basisgemeinden nun doch einen Teil ihrer Ziele erreicht – allerdings auf Kosten der Glaubwürdigkeit der Kirche und der Autorität des approbierten Textes. Signorelli hat jedenfalls angekündigt, er und der brasilianische Laienrat würden, sollten die Änderungen nicht rückgängig gemacht werden, die ursprünglich beschlossene Fassung als das gültige Dokument von Aparecida ansehen.
Ein drittes, sehr positives Element des Dokuments von Aparecida ist die eindeutige Bekräftigung der „Option für die Armen“. Schon der Papst selbst hatte am 13. Mai in seiner Eröffnungsansprache den Weg dafür geebnet, indem er betont hatte, die vorrangige Option für die Armen sei implizit im christologischen Glauben an den Gott enthalten, der für uns arm geworden sei, damit wir durch seine Armut reich würden (2 Kor 8,9). Der Begriff taucht in verschiedenen Varianten 23 Mal auf, in Kapitel 8.3 gibt es einen eigenen Abschnitt dazu, in dem die erwähnte Passage aus der Eröffnungsrede des Papstes zitiert wird (Nr. 392). Auch hier sah sich die Endredaktion allerdings veranlasst, den Satz „Dennoch ist diese [Option] weder exklusiv noch ausschließend“ einzufügen. Und an einer anderen Stelle, in Nr. 100b, wurde von der Endredaktion im Zusammenhang mit der Option für die Armen hinzugefügt, diese sei oft von einer „rein soziologischen und gar nicht evangeliumsgemäßen Anthropologie beeinflusst“ gewesen. Doch auch in diesem Punkt gilt, dass schon der beschlossene Text Kritik verdient. Denn gerade angesichts der stark christologischen Qualifizierung der Option für die Armen muss irritieren, dass in dem Abschnitt über die Orte der Begegnung mit Christus (Nr. 24 ff.) die Armen erst an letzter Stelle vorkommen. Vorher werden der Glaube der Kirche, die Heilige Schrift, die Heilige Liturgie, die Gemeinden und das persönliche Gebet sowie unter Verweis auf die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanums die Hirten genannt. Erst danach, allerdings besonders eindrücklich, tauchen mit Bezug auf Mt 25 die Armen als Orte der Begegnung mit Christus auf: „Wie oft bekehren uns die Armen und die Leidenden! In der Anerkennung dieser Gegenwart und Nähe [Christi in den Armen] und in der Verteidigung der Rechte der Ausgeschlossenen geht es um die Treue der Kirche zu Christus.“
Mit der Methode Sehen-Urteilen-Handeln, der Würdigung der Basisgemeinden und der Option für die Armen sind zentrale Ergebnisse der theologischen Neuaufbrüche in Lateinamerika, die man mit der „Theologie der Befreiung“ verbindet, auch in Aparecida präsent. Es genügt jedoch ein kurzer Blick in die Texte von Medellín (1968), um zu spüren, dass Aparecida meilenweit entfernt ist von deren analytisch scharfer, zukunftsoffener und mutig zupackender Sprache. Die Aussagen über die Option für die Armen bleiben stark auf einer spirituellen Ebene, auch wenn abstrakt öfter strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft gefordert werden. Gar nicht zur Sprache kommen die gesellschaftlichen (und auch innerkirchlichen) Konflikte, die man sich einhandeln muss, wenn man wirklich für die Armen eintreten möchte.
Ähnlich abstrakt bleibt die Rede von den lateinamerikanischen Heiligen (auch der noch nicht kanonisierten), die für ihren Glauben sogar ihr Leben gelassen haben. In diesem Zusammenhang hätten beispielsweise durchaus Bischof Oscar Arnulfo Romero und andere erwähnt werden können (vgl. Nr. 98 und 275). Aber offenbar tun sich die lateinamerikanischen Bischöfe nach wie vor schwer, die Konflikte aufzuarbeiten, die in den harten Zeiten der siebziger und achtziger Jahre auch innerhalb der Kirche massive Fronten provoziert haben und nach wie vor auf Versöhnung warten, weil sie, wie sie selbst in Nr. 36 andeuten, „viele Verletzungen hinterlassen haben, die noch nicht verheilt sind“. Mit der Angst vor Konflikten hat möglicherweise auch das Fehlen von Aussagen über das Engagement katholischer Laien in politischen Parteien zu tun, obwohl gerade dies notwendig wäre, um die Gesellschaft zu verändern.
Die bemerkenswerte Selbstkritik der Bischöfe wurde wegredigiert
Neben den schon erwähnten starken Teilen des Dokuments wären noch weitere zu würdigen. So fällt das ausgesprochen positive Urteil zur Volksfrömmigkeit auf (Nr. 258-265). Bemerkenswert ist auch, mit welcher Deutlichkeit für die Bildung als öffentliches Gut (Nr. 481-483) insgesamt, aber auch eine bessere Bildung aller Mitglieder der Kirche (Nr. 276-283) und eine bessere Katechese, auch für Erwachsene (286-300), eingetreten wird, bei der auch auf persönliche Entwicklungsprozesse Rücksicht genommen (Nr. 281) und das Ziel echter persönlicher Glaubensüberzeugung (Nr. 312) angestrebt werden müsse. Ausgangspunkt der katechetischen Arbeit bilden dabei nicht theologische Inhalte, sondern die lebendige Begegnung mit Christus (Nr. 24 ff.).
Besonders kennzeichnend für die Generalversammlung von Aparecida ist die Ausrufung eines allgemeinen „Missionszustands“ (Nr. 213). Die katholische Kirche Lateinamerikas hat begriffen, dass sie nicht mehr davon ausgehen kann, dass die Menschen sozusagen automatisch den katholischen Glauben teilen und Mitglieder der Kirche bleiben. Vielmehr bedarf es großer Anstrengungen, um Glaube und Kirche dort lebendig zu erhalten beziehungsweise zukunftsfähig zu machen. Die V. Generalversammlung will die Kirche in Lateinamerika zu einem großen „missionarischen Impuls“ (Nr. 548) in Form einer „kontinentalen Mission“ (Nr. 551) erwecken. Vor dem Hintergrund dieses kraftvollen Aufrufs mag man die erwähnten Änderungen der römischen Endredaktion für nebensächlich halten. Aber allein die Tatsache, dass sich eine kleine Gruppe von Redakteuren beauftragt sah, vor der päpstlichen Approbation ein von 162 Repräsentanten aller Bischofskonferenzen Lateinamerikas und der Karibik beschlossenes Dokument derart zu bearbeiten, spricht nicht dafür, dass die katholische Kirche in einer modernen Kultur angekommen ist, zu deren Kennzeichen es immerhin gehört, dass Legitimität und Glaubwürdigkeit, wenn nicht über demokratische, so doch wenigstens über transparente Verfahren hergestellt werden. Wenn nämlich die katholische Kirche in Lateinamerika im modernen beziehungsweise postmodernen Kontext heute ihre starke Stellung behaupten möchte, wird sie nicht umhin kommen, darüber nachzudenken, welche alten Gleise möglicherweise verlassen werden müssen. Auch in Lateinamerika gehen Priesterberufungen zurück, wird der Zölibat für Weltpriester mehr und mehr in Frage gestellt, reagieren Menschen mit Unverständnis auf autoritäre Strukturen, gibt es eine zunehmende Distanz zwischen dem, was die Gläubigen selbst für erlaubt und geboten halten, und der offiziellen moralischen Lehre der Kirche. Auch in Lateinamerika verstehen immer weniger, insbesondere jüngere Frauen, warum ihnen das Priesteramt verschlossen bleibt. Damit sind zentrale Konflikte, die die katholische Kirche in Europa schon länger beschäftigen, auch in Lateinamerika angekommen. Wird die Kirche die Kraft dazu haben, sich in den nächsten Jahren konstruktiv mit diesen für ihre eigene Zukunft so wichtigen Themen zu befassen? In Aparecida ist es ihr noch nicht gelungen.
Traurig stimmen gerade deshalb die endredaktionellen Eingriffe in die Passagen, in denen die Bischöfe selbstkritisch ihre eigene kirchliche Situation reflektierten. So wurde die Klage über einen „gewissen Klerikalismus“ genauso gestrichen wie die Feststellung, es fehle an einem „Sinn für Selbstkritik“. Die Klage über „Moralismen, die die Zentralität Christi schwächen“ fällt ebenso der Zensur zum Opfer wie die Kritik an der „Diskriminierung der Frau und ihre[r] häufige[n] Abwesenheit in den pastoralen Organismen“ (Nr. 109 bzw. 100b). Aus dem Schuldbekenntnis, „wir Katholiken“ hätten uns „häufig“ vom Evangelium entfernt, wird ein Schuldbekenntnis für „einige Katholiken“, die sich „gelegentlich“ vom Evangelium entfernt hätten (Nr. 115 bzw. 100i).
Wer – im besten Sinn des Wortes – missionieren will, muss auch bereit sein, sich selbst missionieren zu lassen, das heißt auch, offen zu sein für Lernprozesse, für notwendige Abschiede vom Gewohnten, für mutige Neuaufbrüche. Da reicht es nicht, den bisher gegangenen Weg nur energischer fortzusetzen. Wenn dieser Prozess erfolgreich verlaufen soll, wenn Christus in einer sich beschleunigt modernisierenden lateinamerikanischen Gesellschaft wieder stärker präsent werden soll, dann werden sich Christen insgesamt und die katholische Kirche in einer Weise verändern, wie sich das selbst ihre kühnsten Vertreter noch nicht träumen lassen. Die Kirche des Konzils und die lateinamerikanische Kirche von Medellín hatten damals zumindest in großen Teilen die Offenheit und den Schwung dazu, das machte auch ihre Anziehungskraft für europäische Christen aus. In Aparecida wurde der gute Wille dazu proklamiert. Aber es ist zu befürchten, dass große Teile der heutigen katholischen Hierarchie in Lateinamerika und in Rom in Selbstblockaden verstrickt bleiben, die ihnen auf absehbare Zeit die notwendige eigene Umkehr als Voraussetzung für eine missionarische Ausstrahlung unmöglich machen.