Es hat sich seit dem 18. Jahrhundert eingebürgert, dass Päpste Lehrschreiben mit der Gattungsbezeichnung Enzyklika veröffentlichen, wobei es dem jeweiligen Bischof von Rom überlassen bleibt, wie oft und zu welchen Themen er sich in dieser Form äußert. Johannes Paul II. hat eine stattliche Reihe von Enzykliken hinterlassen, von der programmatischen Antrittsenzyklika „Redemptor hominis” vom Frühjahr 1979 bis zur Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia” vom Frühjahr 2003 (vgl. HK, Mai 2003, 223ff.), die zu einer Art Vermächtnis geworden ist. Auf die erste Enzyklika aus der Feder Benedikts XVI. konnte man durchaus gespannt sein, schließlich war ein ausgewiesener Theologe und geistlicher Schriftsteller Papst geworden. Die Erwartungen wurden denn auch nicht enttäuscht: „Deus caritas est”, am 15. März 2006 veröffentlicht (vgl. HK, März 2006, 115ff.), erwies sich als theologisch dichter Text, der bis in die Diktion (vor allem des ersten Teils) hinein die persönliche Handschrift des päpstlichen Verfassers und seine Vorprägungen erkennen ließ.
Dem folgte im Frühjahr 2007 mit dem Buch „Jesus von Nazareth” eine Veröffentlichung ganz eigener Art, zu der es in der neueren Papstgeschichte keine Parallele gibt: Ein Papst schreibt ein theologisches Werk zu einem Zentralthema des christlichen Glaubens, das unter doppeltem Autorennamen erscheint (Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI.). Jetzt hat Benedikt XVI. seine zweite Enzyklika veröffentlicht: „Spe salvi” vom 30. November 2007. Sie schließt an die erste insofern direkt an, als sie einer zweiten der drei „göttlichen Tugenden” Glaube, Liebe und Hoffnung gewidmet ist. Sie unterscheidet sich dadurch von „Deus caritas est”, dass sie nicht in zwei stilistisch wie thematisch unterschiedliche Teile gegliedert ist, sondern sich als Text aus einem Guss präsentiert. Dadurch entfernt sich „Spe salvi” noch deutlicher von Konventionen der Gattung Enzyklika als schon „Deus caritas est”.
Sogar Adorno wird zitiert
Zitiert werden an keiner Stelle Dokumente früherer Päpste, an lehramtlichen Verlautbarungen begegnet nur der von Johannes Paul II. approbierte „Katechismus der Katholischen Kirche”. Dafür finden sich reichlich Kirchenväterzitate, besonders viele aus den Werken des Heiligen Augustinus, und – man höre und staune – Zitate nicht nur aus dem Werk von Immanuel Kant, sondern auch aus der „Negativen Dialektik”, dem Hauptwerk von Theodor W. Adorno. Der katholisch getaufte Frankfurter Jude Adorno hätte es sich wohl kaum vorstellen können, einmal in einem päpstlichen Lehrschreiben zitiert zu werden. Benedikt XVI. zeigt sich in der neuen Enzyklika einmal mehr als gelehrter Theologe, vor allem in den Passagen (Nr. 7 bis 9), in denen er sich mit dem Problem einer angemessenen Übersetzung von Stellen aus dem Hebräerbrief beschäftigt und verschiedene Übersetzungsvarianten seit der alten Kirche Revue passieren lässt. Gleichzeitig ist er aber auch in „Spe salvi” der Meister der eindringlichen theologischen Meditation, der sich fast im Predigtstil mit bildhafter Rhetorik an sein Publikum wendet: „Aber der Stern der Hoffnung ist aufgegangen – der Anker des Herzens reicht bis zum Thron Gottes. Nicht das Böse wird im Menschen entbunden, sondern das Licht siegt: Leid wird – ohne aufzuhören, Leid zu sein – dennoch zu Lobgesang” (Nr. 37).
Ein ausgesprochenes Kabinettstück ist dem Papst in dem Teil der Enzyklika gelungen, der unter der Überschrift steht: „Ewiges Leben – was ist das?”. Hier entwickelt er in einer verständlichen, aber in keiner Weise platten oder frömmelnden Diktion eine Vorstellung vom ewigen Leben in seinem Verhältnis zu den Sehnsüchten und Ängsten des Menschen: „Wir möchten irgendwie das Leben selbst, das eigentliche, das dann auch nicht vom Tod berührt wird; aber zugleich kennen wir das nicht, wonach es uns drängt. Wir können nicht aufhören, uns danach auszustrecken, und wissen doch, dass alles das, was wir erfahren oder realisieren können, dies nicht ist, was wir verlangen” (Nr. 12). Das Thema Hoffnung steht derzeit nicht sehr weit oben auf der theologischen und kirchlichen Tagesordnung. Es ist schon über 40 Jahre her, dass die „Theologie der Hoffnung” von Jürgen Moltmann erschien, die weit über den deutschen Sprachraum hinaus für Aufsehen sorgte. Der Tübinger Theologe zeichnete den christlichen Glauben damals als von der Hoffnung auf das Reich Gottes gespeisten Antrieb zur Weltveränderung. Er ließ allerdings seiner Vision von der Kraft und Anschlussfähigkeit christlicher Hoffnung als nächstes das Buch „Der gekreuzigte Gott” folgen, eine Besinnung auf die Tradition der Kreuzestheologie und ihre Implikationen für das christliche Leben.
Das gewohnte Deutungsschema
Benedikt XVI. widmet jetzt in seiner Hoffnungsenzyklika ein Kapitel der Umwandlung des christlichen Hoffnungsglaubens in der Neuzeit. Er setzt bei dem frühneuzeitlichen Fortschrittsoptimismus von Francis Bacon an und nennt die Französische Revolution sowie die marxistische Revolution als Belege für das Scheitern des Versuchs, eine gesellschaftliche Ordnung unter dem Banner einer von Gott gelösten Freiheit und Vernunft zu schaffen. Dem hält er die Notwendigkeit einer „Selbstkritik der Neuzeit im Dialog mit dem Christentum und seiner Hoffnungsgestalt” (Nr.22) entgegen. Der Papst bleibt damit seinem gewohnten Deutungsschema treu: Die Neuzeit ist demnach zur menschlichen Selbstermächtigung entartet, weil sie den Glauben an eine letzte Hoffnung von Gott her zurückgedrängt oder sogar bekämpft hat. Dass die Neuzeit nicht nur die revolutionäre Entartung gebracht hat, sondern auch den mühsamen, aber letztlich doch erfolgreichen Kampf um die Durchsetzung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Freiheiten und der Menschenrechte, wird zwar nicht geleugnet, bleibt aber deutlich unterbelichtet. Die „wahre Gestalt christlicher Hoffnung” umschreibt Benedikt XVI. dann auf überzeugende Weise. Er spricht davon, dass nicht die Wissenschaft, sondern die Liebe den Menschen erlöse(Nr.26),dass es über die kleineren odergrößeren Hoffnungen, die das alltägliche Leben der Menschen leiten, Gott als die große Hoffnung brauche (Nr.30):„Gerade das Beschenkt werden gehört zur Hoffnung. Gott ist das Fundament der Hoffnung” (Nr.31). Im letzten Teil seiner zweiten Enzyklika widmet sich der Papst Lern- und Übungsorten der Hoffnung, wobei an erster Stelle das Gebet zu stehen kommt. Am Beispiel eines vietnamesischen Märtyrers aus dem 19. Jahrhundert entfalteter die Leid überwindende Kraft der Hoffnung und betont in diesem Zusammenhang, das Maß der Humanität bestimme sich ganz wesentlich im Verhältnis zum Leid und zum Leidenden. Aber diese Leidensfähigkeit hängt an der Weise und an dem Maß der Hoffnung,„die wir in uns tragen und auf die wir bauen” (Nr.39). Schon in seiner „Einführung in das Christentum” von 1968 hat sich Joseph Ratzinger im Rahmen der Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses mit dem Thema Gericht beschäftigt. Jetzt beschreibt er in „Spe salvi” das Bild des Letzten Gerichts als Bild der Hoffnung und gleichzeitig als „Bild der Verantwortung” (Nr.44). Gerechtigkeit und Gnade müssten in ihrer rechteninneren Verbindung gesehen werden:„Die Gnade löscht die Gerechtigkeit nicht aus. Sie macht das Unrecht nicht zu Recht. Sie ist nicht ein Schwamm, der alles wegwischt, so dass am Ende doch alles gleich gültig ist, was einer auf Erden getan hat” (ebd.).
Die Kirche kommt nicht vor
In diesem Kontext versucht Benedikt XVI. auch eine Deutung des Fegefeuers als das „Rein gebrannt werden in der Begegnung mit dem richtenden und rettenden Herrn” (Nr.48) und verteidigt die Vorstellung eines „beiderseitigen Gebens und Nehmens” zwischen Lebenden und Verstorbenen.„Wer empfände nicht das Bedürfnis, seinen ins Jenseitsvorangegangenen Lieben ein Zeichen der Güte, der Dankbarkeit oder auch der Bitte um Vergebung zukommen zu lassen?” (ebd.).
In der Enzyklika „Deus caritas est” spielte das Thema Kirche insofern eine Rolle, als sie im zweiten Teil Leitlinien für ihr caritatives Handeln vorlegt. In der neuen Enzyklika dagegen bleibt die kirchliche Gegenwart mit ihren Spannungen und Problemen ausgeblendet, ist von der Kirche als lebendiger und gleichzeitigärgerlich defizitärer Hoffnungsgemeinschaft nicht ausdrücklich die Rede. An einer Stelle erwähnt der Papst zumindest die Bedeutung der großen Gebetstradition der Kirche, das notwendige „Ineinander von gemeinschaftlichem und persönlichem Gebet” (Nr.34).„Spe salvi” konzentriert sich ganz auf die christliche Hoffnung als solche, auf Gott als entscheidendes Hoffnungsgut und auf das Verhältnis zwischen den„kleinen” Hoffnungen und der „großen” Hoffnung. Darin liegt die Stringenz dieses Textes, aber daran zeigen sich auch seine Grenzen. In ihrer theologischen Konzentration hat die Enzyklika gleichzeitig etwas sehr Subjektives und ist damit kennzeichnend für die Art und Weise, in der Benedikt XVI. sein Lehramt praktiziert.