Die Integrierte Gemeinde, ihre Theologie und ihr Kirchenbild – das waren einmal richtige „Aufreger“. In der ersten Hälfte der achtziger Jahre zum Beispiel. Eine Zeit, in der leidenschaftlich über die Möglichkeit der Reform der Pfarrgemeinden diskutiert wurde und in der die Rede von „Kirchenträumen“ und von „Visionen“ einer erneuerten Gemeinde für viele noch einen inspirierenden Klang hatte. „Kirchenträume“ so lautete auch der Titel eines 1982 erschienenen Buches des Frankfurter Alttestamentlers Norbert Lohfink. Ausgehend vom Gesellschaftsentwurf der Tora und vom Zukunftsbild der Propheten entwarf der Autor darin ein Bild des Gottesvolkes Israel als einer „alternativen“ Gesellschaft, die sich von den Gesellschaften ihres Umfelds nach dem Willen Gottes unterschied. Ein Bild, das Lohfink im Neuen Testament keineswegs relativiert, sondern gerade bestätigt sah. Norbert Lohfinks „Kirchenträume“ erlebten mehrere Auflagen. Zu einem regelrechten theologischen Bestseller wurde das zeitgleich erschienene Buch seines jüngeren Bruders Gerhard Lohfink, Neutestamentler in Tübingen. „Wie hat Jesus Gemeinde gewollt?“ so lautete der plakative Titel dieses Buches, in dem der Autor auf der Basis der Evangelien, der Apostelgeschichte und neutestamentlichen Briefliteratur wesentliche und für ihn bleibend gültige Kennzeichen von Kirche und Gemeinde benannte. Im Mittelpunkt stand dabei eine durchgehende Praxis der Liebe und des Miteinanders innerhalb einer christlichen Gemeinde. Im Blick auf die Konsequenzen dieses exegetischen Befundes für das kirchliche Leben heute war auch Gerhard Lohfink überzeugt: Von der Bibel her ist die Kirche als „Kontrastgesellschaft“ gedacht. Ihr eigentlicher Auftrag ist es, durch eine unterscheidend christliche Lebenspraxis im Sinne der Bergpredigt „Licht der Welt“ und „Salz der Erde“ zu sein.
Es war wohl vor allem diese pointierte Gegenüberstellung von Kirche und Gesellschaft, auf die Rezensenten alarmiert reagierten. Sie befürchteten, dass damit einer Abschottung der Kirche Vorschub geleistet würde. Zudem sahen sie in der Rede von der Kirche als „Kontrastgesellschaft“ eine Abwertung der Volkskirche und der „Leutereligion“ zugunsten eines sich elitär gebärdenden Christentums. David Seeber, der damalige Chefredakteur dieser Zeitschrift, machte in einer Auseinandersetzung mit den Lohfink-Brüdern 1984 keinen Hehl aus seiner Skepsis gegenüber ihrem Kirchenbild. Das Wort von der „Kontrastgesellschaft“ könne man getrost vergessen, schrieb Seeber, „auch wenn es einschließlich des dafür betriebenen exegetischen Aufwands kirchlichen Gemeinschaften mit besonderem Standort vorübergehend geholfen hat, ihren Weg zu finden.“
Damit spielte David Seeber auf die Integrierte Gemeinde an. Denn gemeinsam waren Gerhard und Norbert Lohfink nicht nur ihre bibeltheologischen Einsichten. Gemeinsam war ihnen auch eine Erfahrung: die Begegnung mit der Integrierten Gemeinde, durch die sich nach eigenem Bekunden ihr Blick auf die biblischen Texte veränderte. „Mir hat sich auf diese Weise eine neue Dimension der heiligen Schrift erschlossen“, bekannte Gerhard Lohfink im Vorwort seines Buches. 1986 zog er die persönlichen Konsequenzen: Er gab seinen Lehrstuhl in Tübingen auf und verabschiedete sich in Richtung München, wo die Integrierte Gemeinde bis heute am stärksten präsent ist. Gerhard Lohfink war nicht der erste prominente Theologe, der sich zu diesem Schritt entschloss. Bereits zwei Jahre zuvor hatte der Freiburger Neutestamentler Rudolf Pesch seine Professur aufgegeben. Er begründete diesen Schritt ebenfalls mit der für ihn völlig neuen Kirchenerfahrung, die er durch Begegnungen mit der Integrierten Gemeinde gemacht hatte. In einer Abschiedsvorlesung deutete Pesch seinen Wechsel als „Berufung nach München“ und erläuterte, wie sich sein Denken und sein Blick auf die Kirche mit den Jahren verändert hatten. Rudolf Pesch gehört bis heute zu den renommiertesten Vertretern seiner Zunft. Seine wissenschaftlichen Kommentare zum Markusevanglium und zur Apostelgeschichte zählen zu den Standardwerken der wissenschaftlichen Exegese. In München arbeitete Pesch fortan auch mit Ludwig Weimer zusammen. Der in den siebziger Jahren bei Joseph Ratzinger in Regensburg habilitierte Fundamentaltheologe hatte sich bereits als Student der Integrierten Gemeinde angeschlossen und spielte eine zentrale Rolle bei der Formulierung ihrer Theologie. Ludwig Weimer, Gerhard Lohfink und Rudolf Pesch können bis heute als die theologischen Köpfe der Gemeinde bezeichnet werden.
In den neunziger Jahren wurde es in der kirchlichen Öffentlichkeit deutlich ruhiger um die Integrierte Gemeinde. Die Gründe dafür liegen wohl weniger an der Gemeinschaft selbst als an einer Akzentverschiebung, die sich sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft vollzog. In der Pastoral wurde das Gespräch über die innere Erneuerung der Pfarrgemeinde zunehmend überlagert von der Diskussion um Strukturreformen. Freilich hatte sich bereits zuvor die ernüchternde Erkenntnis breit gemacht, dass der viel zitierte Weg „von der versorgten zur sorgenden Pfarrgemeinde“ deutlich schwieriger und länger sein würde als ursprünglich erhofft.
Unscheinbare Anfänge
Dabei ist die Integrierte Gemeinde im Grunde heute kaum weniger „aufregend“ als damals, sondern gehört nach wie vor zu den profiliertesten Aufbrüchen und Bewegungen innerhalb der Kirche. Das gilt umso mehr, als die Gemeinde mit ihren weltweit rund 1000 Mitgliedern zweifellos eher klein ist. Das entspricht ihren fast unscheinbaren Anfängen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Traudl Wallbrecher,geborene Weiß, die inzwischen 84-jährige Initiatorin der Integrierten Gemeinde, hat immer wieder betont, dass dieses Experiment innerhalb der Kirche mit einer fast verzweifelten Frage begann. Eine Frage, die sie sich selbst als junge Frau stellte – im Jahr 1945, kriegsdienstverpflichtet in einem Münchner Krankenhaus, in das nach der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau hunderte schwerstkranker KZ-Häftlinge eingeliefert wurden: Wie war dieses Grauen möglich geworden in einem Staat, in dem die allermeisten Menschen getaufte Christen waren? Wie konnte all das im „christlichen Abendland“ geschehen? Im gleichen Jahr wurde Traudl Weiß Bundesführerin des Heliand-Mädchenbundes, den sie allerdings drei Jahre später, ermutigt insbesondere von dem Priester und Theologen Aloys Georgen, zusammen mit rund 60 weiteren Mitgliedern verließ. Sie störten sich an der Tendenz des Bundes, ungeachtet der zurückliegenden Katastrophe einfach an die romantischen und bürgerlichen Formen der Vorkriegszeit anzuknüpfen, als ob die Nazi-Diktatur einschließlich des Holocaust lediglich eine Art Betriebsunfall gewesen wäre. Traudl Weiß und ihre Mitstreiterinnen deuteten das unsagbare Grauen dagegen anders: als Anrede zur Umkehr und zu einem grundlegenden Neuanfang in der Kirche.
Dass aus dieser bewussten Abspaltung einer letztlich kleinen Minderheit des Heliand-Bundes nach einigen Jahren die Anfänge der Integrierten Gemeinde wurden, war von den Beteiligten nicht geplant. Es ergab sich zum einen durch das Zusammenwirken bestimmter Personen, die mit der Gruppe in Kontakt kamen. Dazu gehörte auch der Rechtsanwalt Herbert Wallbrecher, der mit der neuen Gemeinschaft der ehemaligen Heliand-Mädchen sympathisierte und im Jahr 1949 Traudl Weiß heiratete. Trauzeuge war Herbert Wallbrechers Jugendfreund aus Hagen, Johannes Joachim Degenhardt, der 1974 Erzbischof von Paderborn wurde und die Integrierte Gemeinde zeitlebens unterstützt hat.
Unabhängigkeit von der Kirchensteuer bis heute
Herbert Wallbrecher – er starb 1997 – trug entscheidend dazu bei, die wirtschaftlichen Grundlagen für die Entwicklung der Gemeinde zu schaffen. Denn er war willens und in der Lage, ein beträchtliches Vermögen sowie seine unternehmerische Kompetenz in das Projekt einzubringen. Was insofern von Bedeutung war, als damit die Initiativen der langsam wachsenden Gruppe ohne Hilfe von Kirchensteuermitteln und in großer Unabhängigkeit und Freiheit von kirchlichen Strukturen erfolgen konnten. Obwohl ihre Mitglieder selbstverständlich ihre Kirchensteuer entrichten, gehört diese finanzielle Unabhängigkeit bis heute zu den Kennzeichen der Integrierten Gemeinde. Zum anderen war die eigenständige Feier der Osternacht und anderer kirchlicher Feste seit den frühen fünfziger Jahren eine zentrale Erfahrung für die zunächst gegenüber den Pfarrgemeinden ganz selbständige Gruppe. Ihre Theologen griffen in einer für damalige katholische Verhältnisse unbefangenen Weise die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Exegese auf und konnten somit neu die heilsgeschichtliche Perspektive der biblischen Texte herausarbeiten, bis hin zu der für die Mitglieder der Gruppe existentiellen Einsicht, selbst Teil der lebendigen Geschichte des Gottesvolkes zu sein. Sie verstanden sich – theologisch gesprochen – immer mehr als Volk Gottes im Kleinen. Wie überhaupt die Theologie der Gruppe, aus der die Integrierte Gemeinde hervorging, bereits in diesen frühen Jahren grundlegend von dem Gedanken des „Volkes Gottes“ geprägt war, der dann später auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil in den Mittelpunkt der Kirchenkonstitution “Lumen gentium“ gerückt wurde. Damit zusammen hängt die ebenso frühe Wiederentdeckung der jüdischen Wurzeln des Christentums. Die Äußerung eines jüdisch-katholischen Mitglieds der Gruppe in den frühen fünfziger Jahren „Jesus war ein Jude und kein Christ“ ist aus heutiger Sicht vielleicht eine fast banale Aussage. Zu Ende gedacht stellt sie aber nach wie vor das Selbstverständnis vieler Christen in Frage. Für die Integrierte Gemeinde stand fest: Wenn es die Sendung des Juden Jesus war, das Volk Israel zu sammeln und neu auf den Willen Gottes auszurichten, dann musste eine an den biblische Quellen orientierte Reform der Kirche ebenfalls und vor allem anderen dieses Ziel der Sammlung des Volkes Gottes verfolgen.
Kritisiert wurde von der Gemeinde aber nicht nur die rein religiöse Haltung, die sich in der individuellen Kontingenzbewältigung erschöpft. Sie griff auch den auf der anderen Seite des kirchlichen Spektrums angesiedelten, damals „modernen“ Standpunkt an, dass die Christen im Grunde nichts anderes wollten, als alle anderen gutwilligen Menschen auch: mitzuhelfen bei der Gestaltung einer humanen Welt. Dem setzte die Gemeinde eben das Verständnis von Kirche und Gemeinde als „neue Gesellschaft Gottes“ entgegen. Eine Gesellschaft, die nicht einfach machbar ist im Sinne des Organisierens, sondern „Wunder“ und „Geschenk“ für diejenigen, die sich mit ihrer ganzen Existenz darauf einlassen.
Die Sprache, in der die Gemeinde in dieser Zeit ihre Theologie und damit verbunden auch ihre „Kirchenkritik“ zu vermitteln suchte, zeugte nicht nur von intellektueller Schärfe. Sie war auch Ausdruck ausgeprägten Selbstbewusstseins, das wiederum von der Überzeugung rührte, das „Eigentliche“ des Christlichen neu erfahren zu haben. Dass gerade dieses Selbstbewusstsein und der damit verbundene missionarische Impetus Abwehrreaktionen auslösten, kann kaum verwundern. Gleichzeitig ließ die Integrierte Gemeinde aber keinen Zweifel daran, dass sie sich der katholischen Kirche zugehörig fühlte und mit ihrem Experiment auf die Reform der ganzen Kirche zielte. Der Wille zur Einheit mit dem Bischof und mit der Ortskirche stand für sie außer Frage und sie wollte diese Einheit in Form der kirchlichen Anerkennung auch juristisch dokumentiert sehen.
Ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein
Der Blick in die Texte der in den sechziger und siebziger Jahren herausgegebenen Schriftenreihe „Die integrierte Gemeinde“ ist auch fast 40 Jahre später noch reizvoll. Ohne dass sie sich bis dahin selbst so genannt hatte, bekam die Gemeinschaft im Übrigen durch den Titel dieser Hefte ihren Namen. Er gilt bis heute und wird auch in den Statuten verwendet. Es ist ein sperriger und doch treffender Name. Denn er verweist auf das für das Selbstverständnis der Gemeinde entscheidende Stichwort „Integration“. Die Gemeinde strebt nach eigenem Bekunden die „vita communis“, das gemeinsame Leben ihrer Mitglieder an. Auf dem Hintergrund des paulinischen Bildes von der Kirche als Leib mit vielen Gliedern und dem Haupt Jesus Christus versuchen die Einzelnen, ihr Leben miteinander zu verknüpfen, „je nach ihren Möglichkeiten und ihrer Berufung“, wie es beispielsweise in den Statuten der Integrierten Gemeinde in der Diözese Münster heißt. „Sie ergreifen gemeinsame Initiativen, insbesondere auf dem Gebiet der handwerklichen und künstlerischen Gestaltung, der Wirtschaft, der Medizin und der Pädagogik. Sie wohnen – soweit möglich und sinnvoll – gemeinsam in Integrationshäusern.“
Ganz bewusst knüpft die Integrierte Gemeinde mit dem Weg der „vita communis“ an die Tradition der Klöster an, in denen die ganze Kirchengeschichte hindurch versucht wurde, das im Neuen Testament grundgelegte Bild der christlichen Gemeinde umzusetzen. Im Gegensatz zu den zölibatär lebenden Orden geht es der Gemeinde aber gerade darum, dass auch Verheiratete und Familien mit Kindern auf eine umfassende Weise in der Nachfolge Jesu leben und die Kirche mit aufbauen können. Anders als beispielsweise in den israelischen Kibbuzim steht das Privateigentum des Einzelnen nicht in Frage. Ungeachtet intensiver gegenseitiger Hilfe und Unterstützung bleibt jeder verantwortlich für seinen Lebensunterhalt, seinen Beruf und seine finanziellen Verhältnisse. Nicht zuletzt ist er damit frei, die Gemeinde jederzeit wieder verlassen zu können. Aus diesem Grund haben auch viele der heute 23 Priester der Integrierten Gemeinde einen Beruf erlernt, in dem sie auch arbeiten.
Das Stichwort „Integration“ steht aber auch für den Anspruch der Gemeinde, die Kluft zwischen Alltag und Gottesdienst, zwischen „Welt und Gottesherrschaft“ zu überwinden. Sie ist überzeugt davon, dass kein Bereich ausgespart werden darf, wenn Christen glaubwürdig von „Erlösung“ reden wollen. Sie stellt sich der Frage, ob und wie es möglich ist, die zentralen Felder der Wirtschaft, der Medizin, der Kunst und der Pädagogik aus dem Impetus des Evangeliums heraus zu gestalten, um dadurch auch realitätstaugliche Lösungen für die Nöte der Gesellschaft vorlegen zu können. In diesem Zusammenhang führen Personen, die zur Integrierten Gemeinde gehören, in gemeinsamer Initiative private, staatlich anerkannte Schulen wie ein Gymnasium, eine Realschule, eine Grund- und Hauptschule, ebenso einen Kindergarten. Zudem haben Ärzte und Krankenschwestern bereits in den siebziger Jahren eine kleine Krankenstation aufgebaut, aus der sich die Privatklinik St. Cosmas in München Neubiberg entwickelt hat. Darüber hinaus betreiben Mitglieder der Gemeinde ärztliche Gemeinschaftspraxen, Apotheken, aber auch verschiedene Handwerks- und Industriebetriebe, darunter eine Pumpenfabrik in Wangen im Allgäu; nicht zu vergessen den Verlag Urfeld mit Sitz in der von der Integrierten Gemeinde erworbenen und umgebauten ehemaligen Knabenschule in Bad Tölz. Die Betriebe werden in der Regel von den jeweiligen Unternehmern in wirtschaftlicher Eigenständigkeit und Eigenverantwortung geführt. Dass aus den Gewinnen ebenso wie aus dem uneigennützigen, der gemeinsamen Sache verpflichteten finanziellen Engagement vieler Einzelner dann trotzdem Mittel in die gemeinsamen Projekte fließen, steht außer Frage. Sonst hätte die Integrierte Gemeinde beispielsweise niemals das riesige, einst im Besitz des Jesuitenordens gewesene Areal der Villa Cavalletti in Grottaferrata, unweit von Rom erwerben können. Hier hat sie im Jahr 2003, ausdrücklich ermutigt von Kardinal Joseph Ratzinger, ihr bislang wohl mutigstes Projekt begonnen: die „Akademie für die Theologie des Volkes Gottes“.
Ziel der Akademie ist es zunächst, allen Interessierten, unabhängig von ihrer Vorbildung, auf verständliche Weise zentrale Themen der Theologie zu vermitteln. Dies soll nicht aus der fragmentarischen Sicht einer einzelnen theologischen Fachdisziplin geschehen. Vielmehr soll der „rote Faden“ einer die Fächer übergreifenden Theologie erkennbar werden, die auch durch das Leben in der Gemeinde und durch das Miteinander der Dozenten geprägt ist. Dass die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament bei den Kursen der Akademie eine entscheidende Rolle spielt, entspricht dem Grundimpetus der Integrierten Gemeinde von der „Wiedereinwurzelung des Christlichen im Jüdischen“. Beim Angebot der in der Regel deutschsprachigen Wochenkurse für jedermann soll es freilich nicht bleiben. Die Integrierte Gemeinde strebt die Anbindung der Akademie an eine Universität an. Damit hätten Studierende die Möglichkeit in der Villa Cavalletti bestimmte Ausbildungsmodule zu belegen und die entsprechenden Scheine zu erwerben. Konkrete Vereinbarungen mit der Lateran-Universität in Rom stehen bevor. Die für den Besucher fast betörende Schönheit dieses Ortes und des von Gemeindemitgliedern Schritt für Schritt umgestalteten Hauses verweist auch auf den von der Integrierten Gemeinde immer wieder betonten Zusammenhang von Glaube und Form. Sie will deutlich machen, dass der Glaube eine weltgestaltende Kraft ist. Dementsprechend spielt die Frage nach der Ästhetik eine wichtige Rolle. Auch die Häuser, die Räume, der Tisch und natürlich die Kunst sollen die „Schönheit der Wahrheit“ aufweisen, wie die Gemeinde in ihrer Selbstdarstellung betont: „eine Gestalt, die der Würde des Menschen und Gottes Plan entspricht“. Dies gilt ebenso, wenn die Integrierte Gemeinde Gottesdienst feiert. Nüchternheit und Festlichkeit kommen dabei in gleicher Weise zum Tragen. Und das im Zusammenklang mit einer anspruchsvollen, aber nicht abgehobenen Kirchenmusik, für die in erster Linie der Musiker und Komponist Peter Schneider verantwortlich ist.
Der Schritt nach Afrika
Zu den Initiativen der Integrierten Gemeinde gehört auch ihr Engagement in Afrika, das vor rund 30 Jahren mit dem Besuch des tansanischen Bischofs Christopher Mwoleka in München begann. Er zeigte sich so beeindruckt, dass er die Gemeinde bat, auch in seiner Diözese Rulenge tätig zu werden. Mitglieder der Integrierten Gemeinde nahmen daraufhin in den folgenden Jahren rund 50 erwachsene Afrikaner zusammen mit vielen Kindern in ihre Wohnungen und Häuser auf und ermöglichten ihnen über Jahre hinweg sowohl eine Berufsausbildung als auch das Kennenlernen der Gemeinde. Mitte der achtziger Jahre kehrten die Tansanier gemeinsam mit deutschen Gemeindemitgliedern in ihre Heimat zurück, um dort den Aufbau einer Gemeinde zu beginnen. Heute betreut die Integrierte Gemeinde in Tansania unter anderem die Pfarrei St. Nikolaus in Mikese in der Diözese Morogoro. Dort hat sie einen Kindergarten und eine Grundschule eingerichtet, die auch von Muslimen und Angehörigen der Stammesreligionen besucht werden. Zur Pfarrei gehören acht Außenstationen, in denen sich die Gläubigen regelmäßig zum Gebet und zur Mithilfe bei konkreten Projekten versammeln. Dabei kann die Integrierte Gemeinde gut an die Pastoral der Kleinen Christlichen Gemeinschaften anknüpfen, die in Tansania wie in vielen afrikanischen Ländern die Grundlage der kirchlichen Arbeit bildet.
Wärmt die Integrierte Gemeinde das Herz des Papstes?
Bei einem Überblick über die Projekte, die mit den Jahren aus dem Leben der Integrierten Gemeinde heraus entstanden sind, muss auch der so genannte „Urfelder Kreis“ Erwähnung finden. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Mitgliedern der Gemeinde und Angehörigen unterschiedlicher israelischer Kibbuzim, säkularer und religiöser. Entscheidend beteiligt an dieser Initiative war der jüdische Historiker und Pädagoge Chaim Seeligmann aus dem Kibbuz Givat Brenner, der 1985 im Zuge seiner Erforschung gemeinschaftlicher Lebensformen auch auf die Integrierte Gemeinde stieß. Nach einer ersten Begegnung ließ Seeligmann den Kontakt nicht mehr abreißen und berichtete auch in seinem Umfeld über die Gemeinde. 1995 kam es schließlich zu einem einwöchigen Treffen israelischer Kibbuzniks und Gemeindemitgliedern in Urfeld am Walchensee. Seitdem trifft sich der „Urfelder Kreis“ jährlich – in Bayern, in Rom oder auch in Israel.
Dass die Integrierte Gemeinde aber seit einiger Zeit wieder verstärkt im Gespräch ist, hat weniger mit diesen Initiativen als mit der Wahl Kardinal Joseph Ratzingers zum Papst und mit den darauf folgenden Veröffentlichungen über die Person und das Denken Benedikts XVI. zu tun. So mutmaßte der Journalist Alexander Kissler, dass die Integrierte Gemeinde in den Augen des Papstes sozusagen die Idealform von Kirche verkörpert. „Sie war und ist der Ort, an den Benedikt XVI. denkt, wenn er träumt von einer mutigen, kreativen Minderheitenkirche, wie es sie nur einmal gab, damals in den Jahren nach Christi Tod und Auferstehung und Himmelfahrt“, formuliert Kissler in seinem Buch „Der deutsche Papst“ in überschwänglicher Weise. Damit inspirierte Kissler sogar die „Bild am Sonntag“ in Person ihres zum Überschwang stets neigenden Vatikan-Korrespondenten Andreas Englisch, über die „geheimnisvolle Gemeinde aus Bayern“ zu berichten. Und über die Liebe des Papstes zu dieser Gemeinde, „deren Arbeit seit 30 Jahren sein Herz wärmt und deren Schutzpatron er ist“. Dieses vorgebliche Wissen darum, wovon der Papst träumt und was sein Herz wärmt, mutet zwar etwas seltsam an. Und so „geheimnisvoll“ wie der Bild-Journalist suggeriert, kommt die Integrierte Gemeinde gar nicht daher. Wer will, kann sich ausführlich über sie informieren (im Internet unter www.kigonline.de). In der Tat aber steht außer Frage, dass es deutliche Verbindungslinien zwischen dem deutschen Papst und der Integrierten Gemeinde gibt. Der damalige Regensburger Theologieprofessor Joseph Ratzinger gehörte in den siebziger Jahren zu den wenigen Theologen, die Kontakt zu der so unkonventionellen und kritischen Gemeinschaft suchte. Ratzinger feierte mit ihr Gottesdienst und bestärkte sie grundsätzlich in dem Anliegen, das später auch Eingang in die Statuten der Gemeinde fand: In der modernen und säkularisierten Gesellschaft das Evangelium so zu leben, dass auch Fernstehende wieder einen Zugang zum Glauben der Kirche finden können.
Der ersten Begegnung sollten viele folgen. Nachdem der Regensburger Professor zum Erzbischof von München und Freising ernannt worden war, trug er entscheidend dazu bei, dass die Kirche das „Findelkind“, mit dem sie zunächst nicht viel anfangen konnte, endlich adoptierte. Im Herbst 1978 errichteten Joseph Ratzinger als Erzbischof von München-Freising und Johannes Joachim Degenhardt als Erzbischof von Paderborn in ihren Diözesen die Integrierte Gemeinde kirchenrechtlich als Apostolische Gemeinschaft im Sinn des Konzilsdekrets über das Apostolat der Laien. Heute gibt es Integrierte Gemeinden oder Niederlassungen auch in den Diözesen Münster, Paderborn, Augsburg und Rottenburg-Stuttgart und über Deutschland hinaus in Rom, Frascati, Wien, in den Diözesen Morogoro und Daressalam in Tansania sowie in Budapest und Pécs in Ungarn und in Jerusalem. Um jeden Zweifel über ihren Standort auszuräumen, führt die Gemeinde seit einigen Jahren ganz bewusst den Zusatz „Katholisch“ in ihrem Namen.
Durch die Wahl des Papstes bestätigt
Joseph Ratzinger ließ auch als Präfekt der Glaubenskongregation die Kontakte nicht abreißen. Im Jahr 1993 weihte er in Rom fünf Theologen der Gemeinde zum Priester. 1999 feierte er mit der Gemeinde im Dom zu Frascati einen Gottesdienst zu deren 50-jährigen Bestehen. Auch zur Eröffnung der „Akademie für eine Theologie des Volkes Gottes“ in der Villa Cavalletti ließ er ein persönliches Grußwort verlesen. Für seine innere Nähe zu dieser Gemeinschaft spricht auch die Tatsache, dass er in den neunziger Jahren dreimal seinen Sommerurlaub dort verbrachte – in einem Gemeindezentrum in Wolfesing bei München, gemeinsam mit seinem Bruder. Im Blick auf diese gemeinsame Geschichte ist es durchaus naheliegend, wenn die Integrierte Gemeinde die Wahl Joseph Ratzingers zum Papst, als so etwas wie eine Bestätigung ihres Weges betrachtet, als ein Ankommen in der Mitte der Kirche. Inzwischen hat sie die rund 30-jährige Begleitung durch Joseph Ratzinger noch einmal reflektiert und in einem bemerkenswerten Band mit vielen Bildern und aufschlussreichen Texten dokumentiert. Darin wird deutlich, dass es von Anfang an, noch vor den ersten Begegnungen, eine Art Seelenverwandtschaft zwischen Benedikt XVI. und der Gemeinde gab. Diese liegt – sehr vereinfacht formuliert – in der gemeinsamen Überzeugung begründet, dass ungeachtet aller kirchenpolitischen und strukturellen Fragen die Reform der Kirche daran hängt, dass sich die Christen auf ihr „Eigenes“ besinnen. Dass sich ihr Engagement gerade als Minderheit nicht darin erschöpfen darf, an möglichst vielen Stellen des gesellschaftlichen Lebens ihre Stimme zu erheben und um Einfluss auf die politischen Entscheidungen zu kämpfen, sondern dass sie darauf aus sein müsse, ein anderes gesellschaftliches Konzept vorzuleben.
Keine Abwertung der Volkskirche
Für die Integrierte Gemeinde kommt es auf das „Wir“ an. Und sie wird – nicht anders als jede Aufbruchsbewegung in der Kirche – immer darauf achten müssen, dass dieses „Wir“ sich nicht um sich selbst dreht, sondern sich einladend und ohne Vorurteile nach außen hin öffnet. Dem Vorwurf, sie sei abgehoben oder gar elitär und im Gegensatz zu den Pfarrgemeinden nicht offen genug, wird sie vermutlich trotzdem nicht entkommen. Dass dieser Vorwurf trifft, darf freilich bezweifelt werden. Zumal sich die Integrierte Gemeinde trotz ihrer ganz eigenen Entwicklung keineswegs als Alternative oder gar Gegenmodell zur Pfarrgemeinde versteht. Sie will nach eigener Aussage auch keine Sonderform des Kirchlichen sein, sondern durch ihre Praxis deutlich machen, wie die Pfarrgemeinden unter den veränderten Bedingungen dieser Zeit lebendig werden können. Für dieses Bemühen steht auch ihr langjähriges Engagement in den Pfarreien in Walchensee und Hergensweiler in der Diözese Augsburg, die von Priestern der Integrierten Gemeinde betreut werden.
Die in den achtziger Jahren virulente Frage, ob die Integrierte Gemeinde mit ihrem Modell einer „unterscheidend christlichen“ Lebenspraxis einer Abwertung des volkskirchlichen Milieus das Wort redet, dürfte sich fast erledigt haben. Denn die Volkskirche ist weithin im Verschwinden begriffen. Wo die pastorale Realität nüchtern betrachtet wird, finden sich die Pfarrgemeinden längst als Minderheit vor, als „kleine Herde“, die zwischen neuer Patchwork-Religiosität und einem sich breit machenden „massenhaften Gewohnheitsatheismus“ (Ulrich H. J. Körtner) ihren Stand und ihr Profil finden muss. Diejenigen, die heute versuchen, ihre Pfarrgemeinden lebendig zu erhalten, werden eine Gemeinschaft wie die Integrierte Gemeinde wohl immer weniger als Gefährdung des Mainstream denn als wertvolle Anregung und Hilfe sehen. Dabei wäre es aber ein Missverständnis, wenn die Praxis der Integrierten Gemeinde sozusagen als Konzept, als eine Art Pastoralplan für die Reform der Pfarrgemeinde gesehen würde. Denn gerade an diesem Punkt denkt die Gemeinde wiederum streng „theologisch“. Seelsorgestrategien sind für sie zweitrangig, drittrangig. Es ist Gott, der handelt. Oft anders als geplant.
Angesichts dieser wiederum durch sein Leben in der Integrierten Gemeinde gewonnenen Erkenntnis hat Gerhard Lohfink Ende der neunziger Jahre seinen alten theologischen Bestseller aus dem Jahr 1982 noch einmal neu geschrieben. Unter dem Titel „Braucht Gott die Kirche?“ versucht er deutlich zu machen, dass die Sammlung des Volkes Gottes in der Bibel von Anfang an jenseits der Planbarkeit und Machbarkeit verläuft. Dass sie sich auch heute nur in dem Maße entfaltet, in dem ganz unterschiedliche Menschen bereit sind, sich „herausrufen“ zu lassen und neu zusammenzufinden : „Ihr seid mein Volk.“