Als Ende vergangenen Jahres in der ARD der Tatort „Wem Ehre gebührt“ ausgestrahlt wurde, ließen die Reaktionen nicht lange auf sich warten. Der Film schildert die Situation einer alevitischen Familie, in der der Vater seine jüngste Tochter missbraucht. Um weiteren Nachstellungen zu entgehen, konvertiert die Tochter zum sunnitischen Islam. Die Empörung unter den Aleviten in Deutschland war enorm. Sie betrachteten die Darstellung als bewusste Diffamierungi hrer Glaubensgemeinschaft und befürchteten, dass lang gehegte Vorurteile gegenüber ihren religiösen und kulturellenTraditionen nun neu entfacht werden könnten. Um dem Anliegen eine entsprechende Öffentlichkeit zu geben, rief die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) dazu auf, an einer Großdemonstration in Köln teilzunehmen. Dem Aufruf folgten mehr als 20000 Menschen. Der Generalsekretär der AABF,Ali Toprak, forderte vom NDR eine offizielle Entschuldigung. Gleichzeitig verklagte die Alevitische Gemeinde den Fernsehsender wegen Volksverhetzung. Die vordergründige Aussage des Films ist so einfach wie gefährlich: hier die Bösen – dort die Guten. Hier die Aleviten – dort die Sunniten. Dass bei dem Streifen lang gehegte Vorurteile gegenüber den Aleviten kolportiert werden, scheint der Regisseurin Angelina Maccarone entgangen zu sein.
Andererseits ist im Nachhinein festzustellen, dass die durch den Krimi ausgelösten Ereignisse dazu geführt haben, dass das Interesse an der alevitischen Glaubensgemeinschaft gestiegen ist. So hat seither die Frage nach den Aleviten im Allgemeinen und den alevitischen Traditionen, wie sie in Deutschland gelebt und verstanden werden, beträchtlich zugenommen. Ähnliches lässt sich seit geraumer Zeit auch im wissenschaftlichen Diskurs wahrnehmen (vgl. zum Beispiel: Martin Sökefeld [Hg.], Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora, Bielefeld 2008; Ali Yaman und Aykan Erdemir, Alevism-Bektashism. A Brief Introduction, Cem Foundation Publication Nr. 16, Istanbul 2006; Élise Massicard, L’autre Turquie. Le mouvement aléviste et ses territoires, Paris 2005; Markus Dressler, Die Alevitische Religion. Traditionslinien und Neubestimmungen, Würzburg 2002).
Seit den siebziger Jahren eigenständige Vereine
Historisch gesehen liegen die Anfänge der alevitischen Glaubengemeinschaft vermutlich im 13.Jahrhundert. In dieser Zeit flohen in Persien turkmenische Stämme vor den Mongolen und ließen sich in Anatolien nieder. Die Turkmenen hatten wohl erst kurze Zeit zuvor den Islam als Religion angenommen. Neben Ali, dem Schwiegersohn Muhammads, von dem die Aleviten ihren Namen ableiten, zählt Haci Bektas Veli zu den wichtigten alevitischen Heiligen. Haci Bektas gehörte vermutlich zu einem der turkmenischen Stämme (Irène Mélikoff, Hadji Bektach. Un mythe et ses avatars. Genése et évolution du soufisme populaire en Turquie, Leiden 1998, 25-29. Als Anfang des 16. Jahrhunderts in Persien die Zwölferschia zur Staatsreligion erhoben wurde, drangen schiitische Safawiden nach Ostanatolien vor und eroberten große Teile dieser Region. Ihnen schlossen sich viele der in Anatolien ansässigen Turkmenen an. Sie kämpften an der Seite der Safawiden gegen die Osmanen. Aufgrund ihrer Bekleidung erhielten sie auch den Namen „Kizilbas¸“ (Rotkopf). Äußere Einflüsse führten dazu, dass sich im Laufe der Zeit im Alevitentum nicht nur eigenständige religiöse und kulturelle Riten und Praktiken entwickeln konnten, sondern auch eigenständige Interpretationen des Islam. Diese waren oftmals mit sozialen und politischen Forderungen verbunden und hatten zur Folge, dass die Aleviten schon in spätosmanischer Zeit Nachstellungen, Verleumdungen und Verfolgungen ausgesetzt waren. Um sich zu schützen, zogen sich die Aleviten aus der Öffentlichkeit zurück. Von nun an praktizierten sie ihren Glauben vorwiegend im Geheimen, wobei nur noch diejenigen zugelassen waren, die schon als Aleviten geboren wurden oder zuvor in die Glaubensgemeinschaft entsprechend initiiert wurden. Heute hat sich die Situation der Aleviten sowohl in der Türkei als auch in anderen Ländern der Welt grundlegend geändert. Mit Blick auf Deutschland präsentieren sich die Aleviten als eine offene „Glaubens- und Lebensgemeinschaft“ (Ismail Kaplan, Das Alevitentum. Eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft in Deutschland, Köln 2004), die sich im interreligiösen und im gesellschaftlichen Diskurs aktiv und konstruktiv einzubringen versucht.
Über die Aleviten in Deutschland gibt es keine gesicherten Zahlen. Nach eigenen Angaben sind es rund 600 000 bis 700 000, was nahezu einem Drittel der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland entsprechen würde. Als in Deutschland Anfang der sechziger Jahre türkische Gastarbeiter angeworben wurden, kamen auch viele Aleviten ins Land. So haben die Aleviten Ende der siebziger Jahre damit begonnen, eigenständige Vereine zu gründen. Im Jahre 1979 kam es zur Gründung einer ersten Föderation, das heißt einem Zusammenschluss von 30 Ortsvereinen. Die Föderation nannte sich Föderation der Patrioten Vereine (Yurtseverler Birliˇgi Federasyonu). Diese Organisation löste sich schon bald wieder auf. Die Diskussion über einen erneuten Zusammenschluss einzelner Ortsvereine blieb jedoch bestehen. So kam es im Jahre 1986 zur Gründung der Haci Bektas¸Veli Kulturvereine (HBVKD). Die HBVKD forderten von den Mitgliedern vor allem eine stärkere Besinnung auf die religiösen Traditionen. Begriffe und Inhalte wie „alevitischer Glaube“, „authentisches Alevitentum“ und „alevitische Werte“ wurden lebhaft diskutiert. In den folgenden Jahren kam es zu weiteren Vereinsgründungen, von denen sich einige auch der HBVKD anschlossen, andere nicht. Schließlich wurde die Idee der Gründung einer übergeordneten Dachorganisation erneut aufgegriffen. Ziel der Organisation sollte sein, die Vernetzung der Initiativen einzelner Ortsvereine zu koordinieren und das Alevitentum in der Öffentlichkeit bekannter zu machen. In Ginsheim-Gustavsburg (Hessen) kam es im Jahre 1991 tatsächlich zu einer entsprechenden Vereinsgründung. Im Laufe der Zeit wurde die Dachorganisation mehrfach umbenannt; nicht zuletzt durch das Sivas-Massaker wuchs die Zahl der Aleviten, die sich organisieren wollten. Am 2. Juli 1993 fand in Sivas in Zentralanatolien ein verheerender Anschlag auf eine Gruppe alevitischer Künstler statt. Die Gruppe war zu einer Tagung in einem Hotel zusammengekommen, als aufgebrachte Sunniten das Hotel in Brand setzten. Dabei wurden 37 Menschen getötet. Dieses Ereignis hatte eine so nachhaltige Wirkung, dass es sich identitätsstiftend in die lange Leidensgeschichte der alevitischen Glaubensgemeinschaft einreihen sollte und bis heute das kollektive Bewusstsein der Gläubigen bestimmt. Am 21. September 2002 schließlich fand erneut eine Satzungsänderung statt, bei der auch der Name der Aleviten Gemeinde geändert wurde. Seither trägt die Gemeinde den Namen Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. (Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu/AABF). Neben der Namensänderung wurde auch eine inhaltliche Neuausrichtung der Gemeinde angestrebt (einen ausgezeichneten Überblick über die Geschichte der Aleviten in Deutschland findet sich bei Martin Sökefeld, Struggling for Recognition. The Alevi Movement in Germany and in Transnational Space, 2008; Krisztina Kehl-Bodrogi, „Was du auch suchst, such es in dir selbst!“ Aleviten [nicht nur] in Berlin, Berlin 2003, 37–44). Heute sind von den rund 130 alevitischen Vereinen in Deutschland 107 Mitglied in der AABF, Tendenz steigend. Bis zur Satzungsänderung im Jahr 2002 verfolgte die alevitische Gemeinde vor allem politische Ziele. Sie definierte sich als „eine demokratische Vereinigung“, die ihre Aufgaben vor allem darin sah, „Tätigkeiten im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen“ und die „kulturelle Identität“ der Aleviten zu bewahren. Mit der Neufassung der Satzung im Jahr 2002 wurde eine deutliche Akzentverschiebung vorgenommen. Seither beschreibt sich die Gemeinde vermehrt in religiösen Kategorien und identifiziert sich als eine „Glaubensgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“. Dieser deutliche Perspektivwechsel ist vor allem dadurch zu erklären, dass die nach außen gerichteten Aktivitäten mit neuen Prioritäten versehen wurden. So bemüht sich die Alevitische Gemeinde seit dem Jahr 2000 vor allem um die Zulassung eines eigenständigen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. „Die Kinder sollen im normalen Rahmen ihres Alltags das vertiefen, was sie von ihren Eltern kennen“, fordert Ismail Kaplan. Der Bildungsbeauftragte der Alevitischen Gemeinde macht damit deutlich, worauf es der Gemeinde in Zukunft ankommen wird: Jugendarbeit und das Bemühen, alevitischen Religionsunterricht in Deutschland flächendeckend anbieten zu können. Im Land Berlin findet seit 2002 alevitischer Religionsunterricht statt; nach der Anerkennung als Religionsgemeinschaft durch die Länder Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Hessen gibt es seit dem Schuljahr 2006/2007 in Baden-Württemberg (zunächst an zwei Grundschulen in Mannheim und Villingen-Schwenningen) und seit diesem Schuljahr (2008/2009) auch in Bayern eigenständigen Religionsunterricht. Diese neueren Entwicklungen haben der Alevitischen Gemeinde viel Anerkennung und Sympathie eingebracht.
Keine Trennung zwischen Heiligem und Profanem
„Alevi“ bedeutet dem Wortsinn nach Anhänger Alis. Als solche verstehen sich auch andere islamische Glaubensgemeinschaften wie etwa die Zwölferschia, die im Iran die Staatsreligion bildet, oder die Nusairier oder Alawiten. Mit diesen Gruppen haben die anatolischen Aleviten in Deutschland vor allem vier Elemente gemeinsam: das islamische Glaubensbekenntnis, die Verehrung der zwölf Imame, die Trauer um das Martyrium von Alis Sohn Husain sowie die Ablehnung der ersten drei Kalifen. Darüber hinaus kennt das anatolische Alevitentum eine Vielzahl eigenständiger Glaubenstraditionen, die von anderen Muslimen weder praktiziert noch anerkannt werden. In Gesprächen hört man Aleviten daher gerne sagen, dass die wichtigsten Unterschiede zwischen ihnen und anderen Muslimen zuallererst darin bestehen, dass sie keine Moscheen besuchen, die täglichen Pflichtgebete nicht als bindend betrachten, im Monat Ramadan nicht fasten und nicht nach Mekka pilgern. Diese äußeren Aspekte sind die Folge bestimmter Interpretationen von Gott, Mensch und Welt, die dem alevitischen Glauben zu Grunde liegen.
Wer sich für die theologischen Grundlagen einer Religion interessiert, beginnt zumeist mit der Frage nach Gott. Die alevitische Glaubensgemeinschaft macht da keine Ausnahme. Aleviten bezeugen Gott als den Einen und Einzigen. Sie bezeugen dies, indem sie das islamische Glaubensbekenntnis rezitieren („Es gibt keinen Gott außer Gott und Muhammad ist sein Gesandter“) und dieses durch den Zusatz ergänzen „und Ali ist sein Freund.“ Nach alevitischem Verständnis zeichnet sich Gott durch bestimmte Eigenschaften aus. Gott wird vor allem als Schöpfer des Kosmos betrachtet, in dem der von Gott geschaffene Mensch eine herausragende Stellung einnimmt. Gott ist nach alevitischem Verständnis allgegenwärtig, was in der Konsequenz heißt, dass es eigentlich auch keine Trennung zwischen „Heiligem“ und „Profanem“ gibt. Gott ist dem Menschen als „heilige Kraft“ zugegen, welche der Mensch in seinem Leben als „Energie“ oder/und „Macht“ erfährt.
Der Mensch auf dem Weg zur Einheit mit Gott
Muhammad war der erste, in dessen Leben sich die „heilige Kraft“ äußerte. Ausgehend von Muhammad wird seither diese Kraft jedem Menschen übertragen. Auch Menschen, die sich nicht als religiös verstehen, sind qua ihres „Menschseins“ mit dieser ihnen innewohnenden Kraft ausgestattet. So wird der Mensch als das vollkommenste und schönste Lebewesen im Universum betrachtet. Gott zeigt seine Schöpfermacht und Schönheit vor allem durch und im Menschen. Der Mensch wird daher auch als güzel tanrim („mein schöner Gott“) bezeichnet. Bezeichnungen dieser Art lassen eine Unterscheidung zwischen Gott und Mensch zeitweise nur noch schwer ersichtlich werden. Wenngleich nicht immer identifiziert mit Gott, so wird der Mensch doch zumindest als Ebenbild oder besser gesagt als „Wiederspiegelung Gottes“ bezeichnet. Aufgrund seiner Gottgeschaffenheit gebührt dem Menschen daher auch höchster Respekt. So ist bei Yunus Emre zu lesen: „Ich bin das Äußere und das Innere. Das Erste und der Letzte bin ich. Ich bin sein Ebenbild und mein Ebenbild liegt in seinem Wesen. Ich bin der Erhabene.“ Nach dem alevitischen Glauben hat Gott zwei weitere charakteristische Eigenschaften, die unmittelbare Auswirkungen auf das Menschenbild haben: Gott ist Güte und Barmherzigkeit, der den Menschen in Alltag dazu aufruft, das in ihm selbst angelegte und zur Vollkommenheit strebende Potenzial entsprechend des göttlichen Anspruchs auszuschöpfen.
Nach alevitischem Glauben steht der Mensch vor dem Anspruch, sein Leben nach den von Gott gegebenen Maßstäben zu führen. Ismail Kaplan betont in diesem Zusammenhang, dass „Gott den Menschen ursprünglich in Vollkommenheit geschaffen hat (...) Er hat alle Menschen gleichwertig geschaffen. Ich muss mir das immer wieder bewusst machen. Dann erkenne ich auch, dass ich kein Recht habe, dem anderen Gewalt oder Unrecht anzutun. Vielleicht kann ich das ganz kurz so formulieren: Alles das, was ich will, dass es mir nicht zugefügt wird, soll ich auch den anderen Menschen nicht zufügen. Wenn wir anders handeln, dann handeln wir gegen Gottes Willen.“ Aussagen dieser Art implizieren die Vorstellung, dass dem Menschen eine durch Gott gegebene Einheit zugrunde liegt. Der Mensch hat diese Einheit zu einem gewissen Grad verloren, doch ist er zeitlebens auf der Suche nach ihr. Er kann sie überall finden: in sich selbst, in der Schöpfung, in der Gemeinschaft mit Menschen. Die dem Menschen innewohnende Einheit wiederzuerlangen ist das eigentliche Ziel menschlichen Lebens. Sinan Erbektas, Vorsitzender der alevitischen Gemeinde in Worms, hebt ähnlich hervor: „Der alevitische Glaube kennt kein oben und unten – es gibt vielleicht ein innen und außen, aber es gibt nicht die Vorstellung, dass es irgendetwas gäbe, wo Gott nicht ist. Unser Glaube sagt, dass Gott überall ist. Aus dieser Vorstellung resultiert auch unsere Ethik. Das heißt, ich darf als Alevit dem anderen kein Leid antun. Warum? Weil der andere ein Geschöpf Gottes ist, ja, er ist eine Emanationsform Gottes.“
Die alevitische Vorstellung, die sich mit dem Streben des Menschen nach der Einheit verbindet, hat ihren Ursprung in der klassischen Tradition des Sufismus. Dieser geht davon aus, dass der Mensch sich für einen Weg entscheidet, von dem er annimmt, dass er ihn zu der alles umfassenden Einheit mit Gott führt. Dieser Weg wird im Alevitentum unter dem Begriff „4 Tore – 40 Stufen“ (dört kapi kirk makam) näher erläutert. Auf seinem geistlichen Weg durchläuft der Mensch einen Prozess, der ihn von einer unvollkommenen zu einer immer vollkommeneren Ebene führt. Jedes Tor zeichnet sich seinerseits wiederum durch zehn einzelne Stufen aus, die der Gläubige zu bewältigen hat. Im Einzelnen werden die vier Tore folgendermaßen bezeichnet: das erste Tor ist das „Tor der Scharia“. Auf dieser Stufe geht es zunächst um die äußere Einhaltung religiöser und ethischer Regeln. Das zweite Tor ist das „Tor des mystischen Pfades“. Es steht für den inneren Weg, den ein Suchender gehen muss. Das dritte Tor heißt „Tor der Erkenntnis“. Der Gläubige, der dieses Tor durchschreitet, begibt sich auf den Weg der Selbsterkenntnis. Das vierte und letzte Tor heißt „Tor der Wahrheit“ und führt zum „Einvernehmen“ mit der Wirklichkeit Gottes. Der Gläubige beschreitet den alevitischen Pfad der Vervollkommnung im Vertrauen darauf, dass sein „Herz“ als „Haus Gottes“ der Ort ist, wo er „Gott in sich selbst“ findet. Das Wissen um die Einwohnung Gottes gibt ihm Kraft, den mühsamen Weg bis zum Ende zu gehen. Um den Weg der „4 Tore – 40 Stufen“ erfolgreich gehen zu können, bedarf es einer entsprechenden geistlichen Führung. Der „Leiter des Pfades“ (pir oder dede) begleitet den Gläubigen und gibt ihm Anteil an seinen eigenen geistlichen Erfahrungen. Hat der Gläubige alle 40 Stufen durchlaufen und hat er letztlich das vierte Tor bis zum Ende durchschritten, wird er zum „vollkommenen Menschen“ (insan-i kamil). Die Entscheidung darüber, auf welcher Stufe der Vervollkommnung der Gläubige ist, trifft jeder für sich selbst. Keiner, auch nicht der geistliche Begleiter, kann letztlich darüber befinden, welche Stufe der Gläubige gerade durchläuft. Auch vollzieht jeder für sich selbst die Entwicklung, die er auf dem geistlichen Weg macht. Der geistliche Begleiter ist dabei tatsächlich nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein vertrauensvoller und erfahrener Begleiter, der dem Gläubigen hilft, das eingeschlagene Ziel zu erreichen.
Aufgrund des gegenwärtigen Interesses am alevitischen Glauben stehen die anatolischen Aleviten in Deutschland vor großen Herausforderungen. Einerseits gilt es, die Situation in den Vereinen vor Ort in Blick zu nehmen und dort die nicht selten vorhandenen Spannungen zwischen den Generationen und den verschiedenen ethnischen Gruppen auszugleichen. Weiterhin finden sich die Aleviten auch mehr und mehr im innerislamischen Dialoggeschehen wieder. Die Frage nach der Zugehörigkeit zum Islam taucht dabei immer wieder auf. Auch die von außen an die Aleviten herangetragenen Fragen nach ihrem Selbstverständnis sowie nach den religiösen, kulturellen und theologischen Grundlagen ihres Glaubens erfordern eine entsprechende Positionierung.
Darüber hinaus werden in jüngster Zeit vor allem die Stimmen jüngerer Aleviten laut, die von ihren Geistlichen (dede) lebensnahe und überzeugende Einführungen in ihren Glauben erwarten. Nicht umsonst fordern die Aleviten in Deutschland seit geraumer Zeit die Errichtung eines universitären Lehrstuhls für alevitische Theologie. Sollte dies geschehen, wären die Aleviten selbst allerdings noch in der Bringschuld. Es müsste ihnen in absehbarer Zeit gelingen, eine Theologie vorzulegen, die sowohl historischen, philosophischen als auch systematischen Fragen standhalten kann. Alles in allem befindet sich die alevitische Glaubensgemeinschaft in Deutschland in einer noch offenen Situation. Mit Blick auf die Entwicklung in den vergangenen Jahren kann jedoch festgestellt werden, dass sich das anatolische Alevitentum als eine religiöse Gemeinschaft artikuliert und obwohl im Bezugsrahmen des Islam eingebunden, sich in der Öffentlichkeit immer deutlicher mit ihren eigenständigen Traditionen und Ritualen zu präsentieren vermag; Traditionen, die sie von anderen Muslimen unterscheiden. Mit Blick auf die Zukunft werden daher alle, die derzeit im interreligiösen Dialog in Deutschland Verantwortung tragen, gut daran tun, die anatolischen Aleviten in ihrem Selbstverständnis wahrzunehmen und sich dafür einzusetzen, dass diese Glaubensgemeinschaft zukünftig noch häufiger als bisher in das interreligiöse Dialoggeschehen miteinbezogen wird.