Neue Aufgaben für die Soziale MarktwirtschaftIn der Legitimationskrise

Die Reputation der Sozialen Marktwirtschaft scheint in weiten Kreisen Deutschlands beschädigt. Dabei darf zunächst nicht übersehen werden, dass das Konzept von Anfang an nicht so einheitlich war, wie heute behauptet wird. Zweifellos aber stehen wir vor der Aufgabe eines Umbaus der Sozialen Marktwirtschaft, wie ihn sich ihre Väter wohl kaum hätten vorstellen können.

Trotz des Konjunkturaufschwungs und gesunkener Arbeitslosigkeit seit 2006 halten die Menschen in Deutschland wenig vom bestehenden Wirtschaftssystem. Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung meinen nur noch 31 Prozent, die Soziale Marktwirtschaft sei die richtige Wirtschaftsform, 38 Prozent haben keine gute Meinung von ihr. Besonders groß ist die Ablehnung im Osten Deutschlands. Die jüngsten Skandale um die Steuerhinterziehung von Wirtschaftsführern, die Bespitzelung von Mitarbeitern in einer Lebensmittel-Kette, der hemmungslose Handel mit persönlichen Daten, hohe Managergehälter, der Sex-Skandal bei VW, Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sowie die Ängste vor der Globalisierung haben offenbar dazu beigetragen, die Reputation der Sozialen Marktwirtschaft zu beschädigen. Bundespräsident Horst Köhler hat deshalb dazu aufgerufen, für die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft zu kämpfen. Allerdings haben ihre Kritiker auf die Frage nach Alternativen auch nicht viel Überzeugendes zu bieten. Es könnte sogar sein, dass die genannten Phänomene nur wenig mit diesem Wirtschaftskonzept zu tun haben, sondern umgekehrt starke Argumente liefern, sich auf seine Ursprünge zu besinnen und daraus Imperative für eine heute notwendige Reformpolitik abzuleiten.

Politisch wirksam wurde die Idee der Sozialen Marktwirtschaft durch die Währungsreform vom 20. Juni 1948 und die von Ludwig Erhard (1897–1977), dem damaligen Direktor der Verwaltung für Wirtschaft der britisch-amerikanischen Besatzungszone, im Alleingang betriebene Aufhebung staatlicher Preis- und Mengenvorschriften. Anders als die Erfolgsgeschichte der D-Mark im Rückblick heute oft dargestellt wird, überzeugte die Reform nicht sofort. Zunächst wuchs zwar das Warenangebot, aber es stiegen auch die Preise, die Arbeitslosigkeit nahm zu und damit auch Ablehnung und Kritik. Im November 1948 riefen die Gewerkschaften zum Protest gegen diese Wirtschaftspolitik den einzigen Generalstreik der Nachkriegsgeschichte aus. Im Bundestagswahlkampf 1949 warf die SPD „Professor Erhard“ vor, die deutsche Wirtschaft „zu ruinieren“. Auch innerhalb der CDU, die im „Ahlener Programm“ 1947 noch einen „christlichen Sozialismus“ propagiert hatte, gab es große Widerstände. Erhard konnte sich jedoch schließlich mit seiner „sozialverpflichteten Marktwirtschaft“ durchsetzen – und die CDU lag dann bei den Wahlen 1949 mit 31 Prozent knapp vor der SPD mit 29,2 Prozent. Die Vollbeschäftigung wurde erst fünf Jahre später, 1954 erreicht. Die Soziale Marktwirtschaft war also trotz Marshall-Plan zunächst durchaus mit langen Durststrecken verbunden. Erhebliche Widerstände gab es übrigens auch von Unternehmerseite. Der Bundesverband der Deutschen Industrie kämpfte noch 1957 gegen einen anderen unverzichtbaren Teil des Konzepts Sozialer Marktwirtschaft, nämlich das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und die Errichtung eines Kartellamts. Dass die Wirtschaftspolitik Erhards letztlich doch zum politischen Erfolgsschlager wurde, ist besonders zwei Faktoren zu verdanken: einmal natürlich dem enormen wirtschaftlichen Aufschwung, zum anderen aber auch der Tatsache, dass mit dem Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ eine „irenische“ Formel eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus gefunden wurde, mit der es möglich war, ein von Wirtschaftswissenschaftlern entwickeltes marktfreundliches Konzept einer politischen Öffentlichkeit näher zu bringen, die von starker Skepsis gegenüber einer freien Marktwirtschaft geprägt war. „Erfinder“ der Formel war bekanntlich der Religionssoziologe, Kulturanthropologe und Wirtschaftswissenschaftler Alfred Müller-Armack (1901–1978), der sie 1946 in seinem Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ prägte, das übrigens größtenteils in einem katholischen Kloster in Vreden-Ellewick bei Münster entstanden ist.

Müller-Armack war freilich nicht der einzige, der in diese Richtung gedacht hatte. Ähnliche Konzepte hatten Wirtschaftswissenschaftler wie Franz Böhm (1895–1977), Walter Eucken (1891–1950) und Hans Großmann-Doerth (1894– 1944), die Begründer der „Freiburger Schule“, entwickelt. Zu ihr werden neben Müller-Armack häufig auch Wilhelm Röpke (1899–1966) und Alexander Rüstow (1885–1963) gezählt. Die beiden letzteren könnte man allerdings auch als „Istanbuler Schule“ bezeichnen, weil sie wegen ihres offenen Widerstands gegen den Nationalsozialismus Deutschland verlassen mussten und in der Türkei Asyl und wissenschaftliche Betätigungsmöglichkeiten gefunden hatten. Von Rüstow stammt der Begriff „Neoliberalismus“. Er gebrauchte ihn wohl zum ersten Mal während einer wissenschaftlichen Tagung 1932 in Paris und meinte damit das genaue Gegenteil dessen, was man heute üblicherweise darunter versteht. Die damaligen „Neoliberalen“ kritisierten massiv den Laissez-faire-Kapitalismus, forderten einen starken, die Wirtschaft regulierenden Staat, der über den Partikularinteressen stehen sollte, und propagierten die Einsicht, dass ein freier Markt nur dann wirklich funktionieren und dem Gemeinwohl dienen kann, wenn er einer vom Staat geschaffenen Rahmenordnung unterworfen wird. Aus diesem Grund wurde die Freiburger Schule auch mit der Bezeichnung „Ordoliberalismus“ in Abgrenzung zum Laissez-faire-Liberalismus und seiner Minimalstaatsvorstellung („Nachtwächterstaat“) des 19. Jahrhunderts belegt.

Christliche Denktraditionen spielten eine wichtige Rolle

Unbestritten spielten für die genannten Gelehrten bei der Entwicklung dieser Konzepte auch christliche Denktraditionen eine wichtige Rolle. Bereits in der von Dietrich Bonhoeffer und der Leitung der Bekennenden Kirche angeregten „Freiburger Denkschrift“ von 1942/43, die überwiegend von der Freiburger Schule erarbeitet worden war, wurden erste Überlegungen zu einer Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit angestellt. Dabei konnte die Gruppe an die Sozialethik sowohl der evangelischen wie der katholischen Kirche anknüpfen, wie sie sich angesichts der Sozialen Frage im 19. Jahrhundert im sozialen Protestantismus und im Sozialkatholizismus entwickelt hatte. Die Autoren sahen in den Forderungen nach personaler Freiheit und sozialer Gerechtigkeit Kernforderungen des Christentums. Aber. sie wandten sich gegen diejenigen Ideologien, die eine der beiden Forderungen auf Kosten der anderen überbetonten (Liberalismus beziehungsweise Sozialismus) und suchten nach einer Synthese zwischen den Extremen. Vor allem Röpke übersetzte die klassischen Prinzipien katholischer Soziallehre – Personalität, Solidarität und Subsidiarität – in ein wirtschaftspolitisches Konzept eines „dritten Weges“. Müller-Armack erläuterte beim Evangelischen Kirchentag 1950 in Essen die Soziale Marktwirtschaft als diejenige Wirtschaftsordnung, die „die Ziele der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit zu einem praktischen Ausgleich“ bringt.

Die geläufige Rede von der Sozialen Marktwirtschaft darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Konzept von Anfang an nicht so einheitlich war, wie es diejenigen gerne hätten, die es damals und heute für ihre jeweils eigenen Interessen beanspruchen wollten beziehungsweise wollen. Es sind mindestens zwei grobe Richtungen zu unterscheiden, eine stärker ordoliberale und eine stärker sozialpolitische. Für den ordnungspolitischen Puristen Eucken, letztlich aber auch für Erhard war klar, dass der freie Markt selbst bereits „sozial“ sei, weil er durch die freie Preisbildung und durch den Wettbewerb solche Verhältnisse hervorbringe, die einerseits allen möglichst große Chancen böten, andererseits aber auch einseitige Machtkonzentrationen verhinderten. Deshalb konnte Erhard immer wieder betonen: „Die Begriffe ,frei‘ und ,sozial‘ decken sich nämlich; je freier die Wirtschaft ist, um so sozialer ist sie auch.“ Nach dieser Auffassung fügt also das Beiwort „sozial“ dem Begriff der „freien Marktwirtschaft“ eigentlich nichts Neues hinzu. Demgegenüber vertraten Müller-Armack, Röpke und Rüstow die Auffassung, dass der Markt so etwas wie ein „Halbautomat“ sei, der durchaus der Lenkung bedürfe, und zwar nicht nur durch eine möglichst konstant zu haltende Rahmenordnung, sondern auch durch sozial- und konjunkturpolitische Ziele. Auch für die letzteren war „Marktkonformität“ ein wichtiges Kriterium für die zu ergreifenden Maßnahmen, aber der instrumentelle Charakter des Marktmechanismus und seine Unterordnung unter sozialpolitische Ziele kommen bei ihnen stärker zum Ausdruck. Das Adjektiv „sozial“ hat hier also eine zusätzliche, die freie Marktwirtschaft qualifizierende Bedeutung, weshalb Müller-Armack darauf bestand, Soziale Marktwirtschaft mit großem „S“ zu schreiben. Es liegt durchaus in der Konsequenz dieses Denkens, dass Müller-Armack 1962 nach der ersten Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Überwindung der größten Not nun für eine zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft ein neues „gesellschaftspolitisches Leitbild“ forderte und sich gegen eine schleichende Ökonomisierung der für die Soziale Marktwirtschaft seiner Meinung nach unverzichtbaren meta-ökonomischen Ziele wandte. Sein Konzept ist deshalb offen für eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Und es ermöglicht eine Ergänzung durch weitere Zielsetzungen, etwa durch das Ziel einer besseren Erhaltung der Umwelt in Richtung einer „ökologischen und sozialen Marktwirtschaft“.

Die päpstlichen Sozialenzykliken sind eher von Kapitalismus-Kritik geprägt

Nach Einschätzung des katholischen Zeithistorikers Heinz Hürten ist die Soziale Marktwirtschaft in erster Linie ein Werk evangelischer Unions-Politiker gewesen, obwohl es keine Zweifel gibt, dass sie auch mit der katholischen Sozialethik vereinbar ist. Aber in großen Teilen des Sozialkatholizismus nach dem Zweiten Weltkrieg gab es weiterhin Skepsis und Kritik, beispielsweise auch bei Oswald von Nell-Breuning und seinen Nachfolgern in St. Georgen. Auf der anderen Seite befürworteten der spätere Kölner Kardinal Joseph Höffner und ein großer Teil seiner Schüler die Soziale Marktwirtschaft ohne Einschränkung, teilweise sogar in der eher ordoliberalen Variante. So betonte Höffner in einer Ansprache vor der Deutschen Bischofskonferenz 1985: „Die katholische Soziallehre hält die Marktwirtschaft für die richtige Grundform der Wirtschaftsordnung.“ Erst im Nachsatz folgt dann: „Sie (die katholische Soziallehre) ist jedoch davon überzeugt, dass ihr ein humanes Leitbild gegeben werden muss.“ Die päpstlichen Sozialenzykliken von Johannes XXIII., Paul VI. und anfangs auch Johannes Paul II. sind eher von Kapitalismus-Kritik als von positiven Aussagen zur Marktwirtschaft gekennzeichnet. Erst in Centesimus Annus (1991), nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, wird der freie Markt als Instrument und damit die Soziale Marktwirtschaft von päpstlicher Seite voll sozialethisch akzeptiert. Im gemeinsamen Wort der Kirchen in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ von 1997 wird die Soziale Marktwirtschaft, auch wenn an vielen Stellen Korrekturbedarf angemeldet wird, als Grundkonzept ohne Einschränkung befürwortet. „Es ist (...) kein Wirtschaftssystem in Sicht, das die komplexe Aufgabe, die Menschen materiell zu versorgen und sie sozial abzusichern, ebenso effizient organisieren könnte wie die Soziale Marktwirtschaft“ (Nr. 145).

In der nunmehr 60-jährigen Entwicklung lassen sich sechs Phasen unterscheiden, erstens die Jahre des deutschen „Wirtschaftswunders“ 1948 bis 1966, zweitens die Zeit der ersten konjunkturellen Probleme 1967 bis 1978, insbesondere der Ölkrise 1973 und ihrer Folgen, in der versucht wurde, durch eine wirtschaftliche Globalsteuerung, das heißt durch Konjunkturprogramme und Subventionen, das bisherige hohe Wachstum aufrecht zu erhalten. In den Jahren 1979 bis 1989/90 wurde dann drittens zwar das Scheitern der Globalsteuerung deutlich. Bevor jedoch Konsequenzen gezogen wurden, sorgte der Wiedervereinigungsboom ab 1990 in einer vierten Phase zunächst für eine Verdeckung der ökonomischen Probleme, die jedoch dann nach der Jahrtausendwende nur umso deutlicher zutage traten. Bei der Feierstunde zum 60. Geburtstag der Sozialen Marktwirtschaft am 12. Juni dieses Jahres sprach der Bundesfinanzminister und Sozialdemokrat Peer Steinbrück davon, dass die „notwendigen Maßnahmen in den neunziger Jahren von allen Parteien zu lange aufgeschoben“ worden seien. Die rot-grüne Koalition hatte sogar zuerst die zaghaften Reformansätze der letzten Jahre der „Kohl-Regierung“ teilweise wieder rückgängig gemacht – später jedoch, nicht nur in der Rentenversicherung, weit härtere Maßnahmen ergriffen. In einer fünften Periode seit 2003, deren Beginn durch die „Agenda 2010“ markiert wird, gibt es unter dem enormen Druck steigender Arbeitslosigkeit, geringen Wachstums und hoher Staatsverschuldung erste Reformen der Systeme sozialer Sicherung und der Finanzierung des Staates, die jedoch heftige Widerstände, nicht zuletzt eine dramatische Krise der SPD hervorgerufen haben. Obwohl nach Meinung vieler Ökonomen die Reformen in den meisten Punkten eigentlich gar nicht weit genug gegangen waren, sind in einer sechsten Phase seit 2006 im Kontext eines konjunkturellen Aufschwungs erste Ergebnisse der Reformpolitik spürbar geworden, vor allem ein deutlicher Rückgang der Arbeitslosigkeit. Entgegen weit verbreiteter Wahrnehmung sind seitdem auch nicht mehr „die Armen immer ärmer“ geworden. Vielmehr ist nach den kürzlich vom DIW veröffentlichten, 2007 erhobenen Daten des Sozio-ökonomischen Panels die „Armutsrisikoquote“ von 18 Prozent auf 16,5 Prozent zurückgegangen. Angesichts des weiteren Rückgangs der Arbeitslosigkeit in den Jahren 2007 und 2008 spricht viel dafür, dass die Armutsrisikoquote heute deutlich unter 16,5 Prozent liegt. Allerdings haben die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt, die höheren Steuereinnahmen und die politische Konstellation der großen Koalition auch zu einem Erlahmen des Reformeifers geführt, so dass dringend notwendige weitere Schritte wieder auf die lange Bank geschoben werden.

Die ersten Jahrzehnte der Sozialen Marktwirtschaft waren nicht nur Jahre hohen Wachstums, sondern auch Jahre eines kontinuierlichen Ausbaus sozialer Sicherheit. Ein erster Schritt dazu wurde – gegen die Voten Erhards und anderer Ökonomen – 1957 mit der dynamischen Rente getan. 1961 kam das Bundessozialhilfegesetz, 1969 das Arbeitsförderungsgesetz, auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde in diesem Jahr eingeführt. Kindergeld ab dem ersten Kind gibt es seit 1975 und wurde seitdem mehrfach angehoben. 1976 folgte eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer in den Betrieben. Ende der siebziger Jahre mussten dann allerdings auch schon erste Korrekturen vorgenommen werden, die bereits damals vom Vorwurf des „Sozialabbaus“ begleitet waren, so 1977 zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen, 1978 zur Rentenanpassung (nettolohnbezogene Rente) und eine erste Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen für Arbeitslose. Obwohl hiermit an einigen Stellen Leistungen bereits eingeschränkt wurden, wurden sie an anderen Stellen weiter ausgebaut, so durch die Einführung des Erziehungsgeldes 1985, die Berücksichtigung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung 1986, großzügige Vorruhestandsregelungen ab 1988 und die Pflegeversicherung 1995. Sicherlich sind diese und andere Leistungsausweitungen nicht alle über einen Kamm zu scheren. Viele haben tatsächlich zu mehr sozialer Gerechtigkeit beigetragen. Andere, wie beispielsweise die Maßnahmen des Familienleistungsausgleichs, sind eigentlich immer noch nicht ausreichend. Wieder andere, wie beispielsweise die Vorruhestandsregelungen, werden heute sehr kritisch gesehen. Wie sie auch immer beurteilt werden, vieles spricht dafür, dass sie jedenfalls in der Summe eine zu hohe Belastung darstellen, dadurch die Staatsverschuldung gesteigert, über die hohe Abgabenlast das wirtschaftliche Wachstum beeinträchtigt, über falsche Anreize die individuelle Leistungsbereitschaft geschwächt und die Allokation von Produktionsfaktoren verzerrt haben. Der letzte ausgeglichene Bundeshaushalt, der ohne Neuverschuldung auskam, liegt 40 Jahre zurück. Die Staatsquote (sämtliche Ausgaben des Staates und der Sozialversicherungen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt), 1960 noch bei 33 Prozent, erreichte schon 1975 einen ersten Höhepunkt von fast 49 Prozent. 2007 betrug sie 43,9 Prozent.

Schon die Väter der Sozialen Marktwirtschaft warnten vor einer Versorgungsmentalität

Von den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft wurden schon die ersten Schritte und das dahinter vermutete Anspruchsdenken hart kritisiert. In seinem 1957 publizierten Buch „Wohlstand für alle“ kritisierte Erhard „die wachsende Sozialisierung der Einkommensverwendung, die um sich greifende Kollektivierung der Lebensplanung, die weitgehende Entmündigung des Einzelnen und die zunehmende Abhängigkeit vom Staat“. Diese Entwicklungen führten „hin zum Versorgungsstaat (...), an dessen Ende der soziale Untertan und die bevormundete Garantierung der materiellen Sicherheit durch einen allmächtigen Staat, aber in gleicher Weise auch die Lähmung des wirtschaftlichen Fortschritts in Freiheit stehen wird“. Auch Müller-Armack beklagte 1975, allmählich würden „antimarktwirtschaftliche Elemente in unsere wirtschaftspolitische Umwelt eingeführt“. Er beobachtete und kritisierte die „Verteufelung des Gewinns ohne Einsicht in dessen ökonomische Funktion“ und befürchtete angesichts verbreiteter antimarktwirtschaftlicher Einstellungen ein Scheitern der Sozialen Marktwirtschaft. Besonders wichtig war den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft die Verpflichtung und Befähigung zur Eigenverantwortung. Von Rüstow stammt ein Bonmot, das dies anschaulich zum Ausdruck bringt: „Brauchst du eine hilfreiche Hand, so suche sie zunächst am Ende deines rechten Armes.“ Auch Oswald von Nell-Breuning warnte immer wieder vor einer verbreiteten Versorgungsmentalität: „Die heute weit verbreitete Haltung, in jeder Schwierigkeit (...) nach Fremdhilfe, insbesondere nach Staatshilfe zu schreien, verstößt gegen das Subsidiaritätsprinzip. (...) Wenn alle, anstatt den Staat zu tragen, sich an ihn hängen wie das kleine Kind an die Schürze der Mutter, dann ist die staatsbürgerliche Moral bereits zusammengebrochen (...).“ Der Verweis auf „Eigenverantwortung“ kann sicherlich auch ideologisch zur Rechtfertigung unsozialer Einschränkungen missbraucht werden. Ein Beispiel dafür ist die an Zynismus kaum mehr zu überbietende „Studie“ von Chemnitzer Wirtschaftswissenschaftlern, die behaupten herausgefunden zu haben, man könne von 132 Euro im Monat leben. Auf der anderen Seite ist es jedoch auch eine Tatsache, dass Sozialleistungen Eigeninitiative verhindern können und damit den Betroffenen langfristig eher schaden als nützen. Um solche Abhängigkeiten sowie die Risiken der Ausbeutung des Systems und zu hohe Belastungen zu vermeiden, ist durchaus zu fordern, wie das im Impulstext der Kommission VI der Deutschen Bischofskonferenz „Das Soziale neu denken“ 2003 formuliert wurde, „die Grenze zwischen einem solidarisch abgesicherten klaren Gewährleistungsrahmen für alle und dem Bereich der Eigenverantwortung neu zu ziehen“.

Ohne Zweifel stehen wir heute vor neuen und großen Herausforderungen. Angesichts des durch die Globalisierung steigenden Wettbewerbsdrucks, der Verwerfungen durch den demographischen Wandel und der notwendigen drastischen Maßnahmen zur Abmilderung des Klimawandels stehen wir vor einem Umbau der Sozialen Marktwirtschaft, wie ihn sich ihre Väter wohl kaum hätten vorstellen können. Insbesondere muss auch nach einem global gültigen und durchsetzbaren Regelwerk gesucht werden. Deshalb kann der Bezug auf „die“ Soziale Marktwirtschaft nicht bedeuten, über ein klar abgegrenztes Konzept mit eindeutigen Handlungsrezepten zu verfügen. Für Müller-Armack war Soziale Marktwirtschaft ein „Wirtschaftsstil“ und deshalb alles andere als ein statisches Konzept, vielmehr ein durchaus zukunftsoffenes Entwicklungsprogramm. Kriterium für die Richtigkeit von Reformen kann nicht sein, ob sie sich durch Bezug auf die Schriften der Väter der Sozialen Marktwirtschaft rechtfertigen lassen oder nicht. Deshalb kann und darf der Begriff auch nicht einseitig für die Durchsetzung partikularer Interessen vereinnahmt werden; ein Eindruck, der beispielsweise bei der von Arbeitgeberverbänden getragenen „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ entsteht – was nicht bedeutet, dass alle von ihr vorgeschlagenen Reformen falsch wären. Vielmehr muss es heute darum gehen, durch eine genaue Wirkungsanalyse sozial- und wirtschaftspolitischer Maßnahmen abzuschätzen, ob sie wirklich zu mehr sozialer Gerechtigkeit und besserer Umweltverträglichkeit – und das in globaler Dimension – beitragen. In der gegenwärtigen Situation liegt ein großes Problem darin, dass viele Menschen, die die Wirkungszusammenhänge nicht überschauen, kein Vertrauen mehr in den Sachverstand von Politikern und Experten aufbringen, sondern sich durch populistische Anklagen und Versprechungen verführen lassen. Es ist leider oft so, dass auf den ersten Blick gut gemeinte Maßnahmen (wie beispielsweise die Einführung eines hohen allgemeinen Mindestlohnes) für diejenigen, denen man damit helfen will (den Geringqualifizierten) äußerst nachteilige Folgen haben können (höhere Arbeitslosigkeit). Manche Entwicklungen, beispielsweise die Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland, werden total überschätzt. Viele Maßnahmen wirken auch erst langfristig, so dass bis zum Erreichen der angestrebten Effekte eine Durststrecke zu überwinden ist, die natürlich politisch ausgebeutet werden kann, um die Verantwortlichen solcher Maßnahmen zu diskreditieren. Es ist in einer Ordnung, die auf die Handlungsfreiheit der Einzelnen und deren Steuerung durch Spielregeln setzt, auch nicht möglich, jedes Mal, wenn es zu unerwünschten Ergebnissen kommt, direkt korrigierend einzugreifen oder die Regeln immer wieder zu ändern. Die langfristige Verlässlichkeit allgemeiner Regeln ist oft wichtiger als die Sicherstellung richtiger Handlungen in jedem Einzelfall. Wenn kurzfristiges Denken, unmittelbares Schielen auf Meinungsumfragen, Gieren nach Verhetzungspotenzialen, aktionistischer Interventionismus und populistische Versprechungen das politische Feld beherrschen, ist leider kaum mehr mit dem Mindestmaß an Rationalität in den Entscheidungsprozessen zu rechen, die wir zur Lösung der Probleme dringend brauchen. Aber bei allen Klagen darf nicht übersehen werden: Streit gehört zum politischen Prozess wie der Wettbewerb zur Marktwirtschaft. Nur sollten alle gesellschaftlichen Kräfte, übrigens auch die Kirchen, sich um das rechte Maß im Verhältnis von moralisierender Anklage und Sachaufklärung bemühen. Denn auch zu viel moralische Energie kann destruktiv sein, wenn das Streben nach dem Richtigen und Guten nicht von der Sachkenntnis um Ursachen und voraussehbare Wirkung begleitet wird. Letzteres ist in Sachen Sozialer Marktwirtschaft wieder neu und besser zu lernen.

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