Die evangelikale Bewegung in DeutschlandKein vorübergehendes Phänomen

In Deutschland hat der evangelikale Flügel des Protestantismus sicher nicht die gleiche Bedeutung wie in den USA. Aber Evangelikale unterschiedlicher Ausprägung sind auch hierzulande ein fester Bestandteil des christlichen Spektrums. Wer sie insgesamt als fundamentalistisch qualifiziert, tut ihnen Unrecht.

Wenn deutsche Medien über Evangelikale in den USA berichten, wird meist vorausgesetzt, dass Evangelikalismus und christlicher Fundamentalismus im Wesentlichen identisch sind. Verwiesen wird dafür auf die seit den achtziger Jahren zu beobachtende politische Wirksamkeit der Bewegung. Die in der Geschichte erwecklicher Bewegungen wirksame Haltung der Weltdistanz scheint sich umzuformen in eine Perspektive der Weltbeherrschung. Evangelikale üben Einfluss auf die amerikanische Politik aus. Nicht wenige waren und sind Befürworter des Irak-Krieges. Ihre endzeitlichen Erwartungen machen sie zu Pro-Israel-Lobbyisten und zu engagierten Unterstützern der Siedlerbewegung. Sie kämpfen gegen Homosexualität und Feminismus, gegen die Evolutionslehre an öffentlichen Schulen, gegen die historisch-kritische Bibelforschung, mit Hilfe exorzistischer Praktiken gegen die Dämonen und den Teufel. Das Erlebnis der Wiedergeburt als persönliche Heilserfahrung und die Überzeugung der unbedingten Geltung der Heiligen Schrift hat für viele nicht nur Folgen für ihre individuelle Lebensführung, sondern beinhaltet politische Optionen. Dies entspricht einer allgemein verbreiteten Charakteristik fundamentalistischer Bewegungen: Sie antworten auf die Krise der Moderne mit dem Bemühen, eine neue Gesellschaft auf der Grundlage der jeweiligen heiligen Texte aufzubauen.

Der Hang von Teilen des amerikanischen Evangelikalismus zur Verwischung der Grenze zwischen Religion und Politik kann allerdings im Blick auf Europa und Deutschland nicht ohne weiteres bestätigt werden. Evangelikale Strömungen gewinnen zwar auch im europäischen Kontext an Bedeutung. Dabei wird deutlich, dass sich die Evangelikale Bewegung in Deutschland – zu ihr gehören nach Angaben der Deutschen Evangelischen Allianz rund 1,3 Millionen Christinnen und Christen aus evangelischen Landeskirchen (rund die Hälfte) und den Freikirchen – keineswegs einheitlich darstellt. Sie umfasst verschiedene Richtungen und reicht vom in den evangelischen Landeskirchen verwurzelten pietistischen Gemeinschaftschristentum bis zu enthusiastischen und separatistischen Gruppen, die in Gemeinden der evangelischen Landeskirchen „unbiblische Systeme“ sehen.

Evangelikal ist nicht gleich fundamentalistisch

Allzu pauschal wird oft von den Evangelikalen gesprochen. Welche Evangelikalen sind gemeint? Die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, die zahlreiche abgrenzende Stellungnahmen zu anderen evangelikalen Initiativen wie beispielsweise der evangelistischen Aktion ProChrist und dem Konzept von besucherorientierten Gottesdiensten (Willow Creek) publiziert, oder die Deutsche Evangelische Allianz, die dieselben Initiativen unterstützt? Sind die Jesus-Freaks typisch evangelikal oder sind es die Alpha-Glaubenskurse für Erwachsene, die in sehr unterschiedlichen gemeindlichen Kontexten angeboten werden? Werden mit dem Wort evangelikal enthusiastisch geprägte Pfingstler bezeichnet oder die Mitglieder einer bestimmten Ausprägung der Brüderbewegung, die auf die Kopfbedeckung der Frau im Gottesdienst Wert legen? Unter der Chiffre „evangelikal“ werden Gruppen, Werke, Initiativen und Bewegungen zusammengefasst, die keineswegs einheitlich sind. Stellungnahmen erfordern insofern differenzierende Wahrnehmungen und Urteilsbildungen, insbesondere eine Klärung dessen, was gemeint ist, wenn von Evangelikalismus geredet wird.

In globaler Perspektive finden sich heute die augenfälligsten Formen engagierter Christlichkeit in denjenigen Bereichen des Christentums, die aufklärungskritisch und konservativ geprägt sind. In seiner vor 15 Jahren gehaltenen Berner Abschiedsvorlesung meinte der im März dieses Jahres verstorbene reformierte Theologe und Ökumeniker Lukas Vischer: „Der Traditionalismus in allen seinen Formen – Evangelikalismus, Fundamentalismus, Integrismus – hat bessere Chancen. Alle Positionen, die mit einem klaren Profil herkommen, können von vornherein mit einem Vorsprung an Plausibilität rechnen und vermögen Menschen auch zu übergreifenden Projekten zu mobilisieren.“ Innerhalb der protestantischen Landschaft ist unübersehbar, dass sich erwecklich geprägte Strömungen, deren Ziel die Wiederentdeckung urchristlicher Missionsdynamik und Gemeinschaftsbildung ist, überaus schnell und wirksam ausgebreitet haben. Auch der Katholizismus hat durch die Anerkennung und Akzeptanz der katholischen charismatischen Erneuerung dem protestantischen Erweckungschristentum in sich Raum gegeben und in einzelnen Anliegen aufgenommen. Zwar zeigen sich solche Entwicklungen in Afrika, Lateinamerika und Asien deutlicher als im europäischen Kontext. Sie werden jedoch auch hier zunehmend erkennbar und verbinden sich mit den Impulsen, die vom Pietismus, der Erweckungsbewegung und freikirchlichen Gemeinschaftsbildungen ausgehen. Während noch vor wenigen Jahrzehnten Strömungen des konservativen Protestantismus von Seiten wissenschaftlicher Theologie und Religionsforschung als eine im Wesentlichen vergangene Erscheinung angesehen wurden, zeigt sich inzwischen immer deutlicher, dass es sich hierbei um ein dauerhaftes Phänomen handelt.

Man wird der Ausbreitung evangelikaler und pfingstlichcharismatischer Strömungen nicht gerecht, wenn man diesen Vorgang vornehmlich mit dem negativ besetzten Begriff Fundamentalismus beschreibt. Die Konjunktur des Begriffs deutet zwar auf eine verbreitete Sache hin. Im Kontext pluralistischer Gesellschaftssysteme verstärken die Kompliziertheit und „neue Unübersichtlichkeit“ des Lebens die Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit, nach Reduktion von Komplexität. Zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus gibt es Zusammenhänge und Übergänge – beide Bewegungen sind transkonfessionell und international orientiert, beide konkretisieren sich in zahlreichen Initiativen und Werken, in beiden sind modernitätskritische Orientierungen wirksam – der Hauptstrom des Evangelikalismus unter-scheidet sich jedoch vom Fundamentalismus. Ein herkömmlicher kirchlich-theoscheidung auf und bezeichnet mit fundamentalistisch denjenigen Bereich evangelikaler Frömmigkeit, der hinsichtlich des Bibelverständnisses die Auffassung ihrer wörtlichen Inspiriertheit mit den Postulaten Unfehlbarkeit und absolute Irrtumslosigkeit verbindet. Freilich bedarf auch eine solche Begriffsbestimmung weiterer Differenzierungen. Um in historischer Perspektive von christlichem Fundamentalismus im engeren Sinn des Wortes sprechen zu können, reicht das Motiv der wörtlichen Inspiriertheit und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift als Definitionskriterium noch nicht aus. Es müssen weitere Motive hinzukommen: die konservative politische Gesinnung und der Wille, religiös begründete Überzeugungen auch politisch durchsetzen zu wollen. Politisierte Formen des christlichen Fundamentalismus in diesem engeren Sinne stellen jedoch in Deutschland, anders als in den USA, keinen hoch organisierten und politisch einflussreichen Faktor dar. Sie artikulieren sich beispielsweise in christlichen Kleinparteien, wie der Partei Bibeltreuer Christen (PBC) oder der Christlichen Mitte (CM). Die PBC hatte viele Jahre einen Vorsitzenden, der aus der Pfingstbewegung kam. Die CM, die vor allem durch ihre anti-islamische Propaganda hervortritt, ist in rechtskonservativen katholischen Milieus verwurzelt. Aus allen bisherigen Wahlergebnissen wird sichtbar, dass beide Parteien politisch einflusslos bleiben. Insofern ist es richtig, wenn Martin Marty und andere sagen, dass Deutschland zum „fundamentalismusschwachen Gürtel“ gehöre,„der von Europa über Kanada und die nördlichen Teile der Vereinigten Staaten bis nach Japan reicht“. Diese Hinweise bedeuten jedoch nicht, dass christlich-fundamentalistische Orientierungen in ihren politischen Implikationen bedeutungslos wären und vernachlässigt werden können, wie dies die Praxis des Homeschoolings und Plädoyers für die Aufnahme des Kreationismus in Schulbücher zeigt. Der christliche Fundamentalismus in seinen unterschiedlichen Spielarten stellt sich in unserem Kontext vor allem als kirchenpolitische und ökumenische Herausforderung dar.

Charakteristisch ist die Betonung persönlicher Glaubenserfahrung

Grundsätzlich kann gesagt werden: Fundamentalismus ist ein Bewertungsbegriff. Mit ihm werden die Schattenseiten und Fehlentwicklungen protestantischer Erweckungsfrömmigkeit bezeichnet. Er ist eine zentrale Gefährdung des Evangelikalismus. Religiöse Hingabebereitschaft kann missbraucht werden. Die Orientierung an charismatischen Führungsgestalten kann das Erwachsenwerden im Glauben verhindern. Die Berufung auf den Geist kann funktionalisiert werden für ein problematisches Macht- und Dominanzstreben. Das gesteigerte Sendungsbewusstsein einer Gruppe kann umschlagen in ein elitäres Selbstverständnis, das sich scharf nach außen abgrenzt, im Wesentlichen von Feindbildern lebt und Gottes Geist nur in den eigenen Reihen wirken sieht. Evangelikale Gruppen werden in dem Maße fundamentalistisch, in dem sie die Frage nach christlicher Identität hauptsächlich und primär durch Abgrenzung beantworten: antipluralistisch, antihermeneutisch, antifeministisch, antievolutionistisch.

Die evangelikale Bewegung versteht sich als transkonfessionelle Missions- und Erneuerungsbewegung. Ihre Wurzeln liegen im Pietismus, Methodismus und in Erweckungsbewegungen. Vorläufer hat sie in Bibel- und Missionsgesellschaften, in der Bewegung der Christlichen Vereine junger Männer und Frauen, der Gemeinschaftsbewegung sowie der 1846 in London gegründeten Evangelischen Allianz. Bereits diese geschichtliche Entwicklung belegt, dass der Evangelikalismus an vorfundamentalistische Strömungen anknüpft und innerhalb der Bewegung ein breites Spektrum an Ausprägungen der Frömmigkeit erkennbar wird. Auf der einen Seite steht die Heiligungsbewegung, aus der die Pfingstfrömmigkeit erwuchs, auf der anderen Seite steht ein sozial aktiver Typus evangelikaler Frömmigkeit, der Beziehungen aufweist zum Social Gospel. Ähnlich weit wird das Spektrum, wenn die gegenwärtige evangelikale Bewegung in ihrer weltweiten Verbreitung und Verzweigung ins Blickfeld kommt. Sie hat in unterschiedlichen Kontinenten durchaus verschiedene Profile. In Europa geht es neben konfessionsübergreifenden missionarischen und evangelistischen Aktivitäten unter anderem auch darum, überschaubare Ergänzungen und Alternativen zu landes- beziehungsweise volkskirchlichen Einrichtungen zu entwickeln. In Südafrika setzen sich evangelikale Kreise kritisch mit ihrer eigenen Tradition auseinander und sind darum bemüht, Evangelisation und soziale Verantwortung in einen engen Zusammenhang zu bringen. Sowohl die Frömmigkeitsformen wie auch die theologischen Akzente im Schriftverständnis, in den Zukunftserwartungen, im Verständnis von Kirche und Welt weisen kein einheitliches Bild auf. Gleichwohl lassen sich gemeinsame Anliegen in Theologie und Frömmigkeit benennen.

Für evangelikale Theologie und Frömmigkeit charakteristisch ist die Betonung der Notwendigkeit persönlicher Glaubenserfahrung in Buße, Bekehrung/Wiedergeburt und Heiligung sowie die Suche nach Heils- und Glaubensgewissheit. In Absetzung von historisch-kritischer Bibelforschung – vor allem liberaler Ausprägung – wird die Geltung der Heiligen Schrift als höchster Autorität in Glaubens- und Lebensfragen unterstrichen. Entsprechend der theologischen Hochschätzung der Heiligen Schrift ist eine ausgeprägte Bibelfrömmigkeit kennzeichnend. Als Zentrum der Heiligen Schrift wird vor allem das Heilswerk Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gesehen. Der zweite Glaubensartikel wird im theologischen Verständnis und in der Frömmigkeit akzentuiert. Die Einzigartigkeit Jesu Christi wird pointiert hervorgehoben. Evangelikale Religionstheologie ist exklusivistisch geprägt. Gebet und Zeugendienst stehen im Mittelpunkt der Frömmigkeitspraxis. Gemeinde beziehungsweise Kirche werden vor allem von ihrem Evangelisations- und Missionsauftrag her verstanden. Die Ethik wird vor allem aus den Ordnungen Gottes und der Erwartung des Reiches Gottes heraus entwickelt. Mit diesen Akzenten in Theologie und Frömmigkeit ist der personale Aspekt des Glaubens betont, während die Bedeutung der Sakramente zurücktritt. Das Verhältnis zwischen evangelikaler Bewegung und katholischer Kirche gestaltete sich über lange Zeit eher distanziert. Inzwischen sind von beiden Seiten zahlreiche gemeinsame Anliegen entdeckt worden, keineswegs nur in Fragen der Ethik (etwa Ehe, Familie, Homosexualität, Abtreibung). Durch seine Modernitäts- und Relativismuskritik spricht Benedikt XVI. vielen Evangelikalen aus dem Herzen, ebenso in den religionstheologischen Überlegungen von „Dominus Iesus“ und der Christuszentriertheit vieler seiner Predigten. Kristallisationspunkt der Sammlung der Evangelikalen im deutschsprachigen Raum ist die Deutsche Evangelische Allianz (DEA), die sich zunehmend in Richtung einer evangelikalen Allianz entwickelt hat, und die Lausanner Bewegung. Zentrale Dokumente der Bewegung sind die Allianz-Basis (in Deutschland/Österreich und der Schweiz in unterschiedlichen Fassungen) und die Lausanner Verpflichtung von 1974, die durch das Manila-Manifest (1989) bekräftigt und weitergeführt wurde. Vor allem mit der Lausanner Verpflichtung bekam die verzweigte und vielgestaltige evangelikale Bewegung ein wichtiges theologisches Konsensdokument, welches zeigt, dass sie sich nicht allein aus einer antiökumenischen und antimodernistischen Perspektive bestimmen lässt, sondern in ihr die großen ökumenischen Themen der letzten Jahrzehnte aufgegriffen werden (etwa die Verbindung von Evangelisation und sozialer Verantwortung, Engagement der Laien, Mission und Kultur). Im Unterschied zur ökumenischen Bewegung, in der Kirchen miteinander Gemeinschaft suchen und gestalten, steht hinter der evangelikalen Bewegung das Konzept einer evangelistisch-missionarisch orientierten „Gesinnungsökumene“, in der ekklesiologische Eigenarten und Themen bewusst zurückgestellt und im evangelistisch-missionarischen Engagement und Zeugnis der entscheidende Ansatzpunkt gegenwärtiger ökumenischer Verständigung und Verpflichtung gesehen wird. Evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Gruppen geht es nicht um die offizielle Kooperation und Gemeinschaft von Kirchen, wie dies in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) geschieht, sondern um eine transkonfessionell orientierte Gesinnungsgemeinschaft auf der Basis gleichartiger Glaubenserfahrungen und -überzeugungen.

Der „Aufbruch der Evangelikalen“ im deutschsprachigen Raum konkretisiert sich in zahlreichen missionarischen Aktionen, Konferenzen, Gemeindetagen, theologischen Arbeitsgemeinschaften (die in den letzten Jahren einen Kompetenzgewinn verzeichnen können) und überaus erfolgreichen publizistischen Aktivitäten, die sich teilweise in Parallelstrukturen zu kirchlichen Initiativen vollziehen. Das Profil der evangelikalen Bewegung in Deutschland ist einerseits durch das Gegenüber zur pluralen Volkskirche und Kritik an bestimmten kirchlichen Entwicklungen bestimmt, andererseits auch durch konstruktive Kooperation in verschiedenen Initiativen und Bereichen. Der baptistische Theologe und Ökumeniker Erich Geldbach weist mit Recht darauf hin, dass die evangelikale Bewegung in steigendem Maße durch „intellektuelle Offenheit und irenischen Geist“ gekennzeichnet ist. Diese Einschätzung trifft jedoch nicht gleichermaßen auf alle Ausdrucksformen des Evangelikalismus zu. Auch im deutschsprachigen Kontext werden verschiedene Typen und Ausprägungen des Evangelikalismus erkennbar, die sich berühren, überschneiden, teilweise auch deutlich unterscheiden. Es gibt den klassischen Typ, der sich in der Evangelischen Allianz, der Gemeinschaftsbewegung und der Lausanner Bewegung konkretisiert und Angehörige von evangelischen Landeskirchen und Freikirchen miteinander verbindet. Dieser Strang knüpft an die „vorfundamentalistische“ Allianzbewegung an und stellt den Hauptstrom der evangelikalen Bewegung dar.

Unterschiedliches Verhältnis zur ökumenischen Bewegung

Für den fundamentalistischen Typ ist ein Bibelverständnis charakteristisch, das von der absoluten Irrtumslosigkeit (inerrancy) und Unfehlbarkeit (infallibility) der „ganzen Heiligen Schrift in jeder Hinsicht“ ausgeht (vgl. Chicago-Erklärung). Kennzeichnend ist ebenso sein stark auf Abgrenzung gerichteter, oppositioneller Charakter im Verhältnis zur historischkritischen Bibelforschung, zur Evolutionslehre, zu ethischen Fragen (Abtreibung, Pornographie, Feminismus etc.). Da ein fundamentalistisches Schriftverständnis unterschiedliche Frömmigkeitsformen aus sich heraus entwickeln kann, differenziert sich der fundamentalistische Typ in verschiedene Richtungen. Der bekenntnisorientierte Typ möchte an die konfessionell orientierte Theologie, die altkirchlichen und die reformatorischen Bekenntnisse anknüpfen und konkretisiert sich in der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ und der „Konferenz Bekennender Gemeinschaften“. Der missionarisch-diakonisch orientierte Typ hebt die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Evangelisation hervor, in der Evangelisation und soziale Verantwortung in ihrer engen Zusammengehörigkeit akzentuiert werden. Dieser Typ ist unter anderem in der „Dritten Welt“ bei den „social concerned evangelicals“ verbreitet, im deutschsprachigen Raum ist er eher unterrepräsentiert. Er findet seinen Ausdruck unter anderem in Projekten, die an einer Kontextualisierung von Evangelisation und Mission interessiert sind. Der pfingstlich-charismatische Typ ist eine auf den Heiligen Geist und die Charismen (unter anderem Prophetie, Heilung, Glossolalie) bezogene Frömmigkeit und differenziert sich seinerseits nochmals vielfältig aus und hat mindestens drei verschiedene Richtungen ausgebildet: innerkirchliche Erneuerungsgruppen, pfingstkirchliche Bewegungen, neocharismatische Zentren und Missionswerke, die sich als konfessionsunabhängig verstehen, theologisch und in der Frömmigkeitspraxis eine große Nähe zur Pfingstbewegung aufweisen.

Zu allen Typen gibt es entsprechende Gruppenbildungen und Grundlagentexte. Erst in den letzten Jahren ist die Weitläufigkeit der evangelikalen Bewegung auch im deutschsprachigen Raum offensichtlich geworden, unter anderem durch Annäherung und verstärkte Kooperation zwischen Evangelikalen und Charismatikern.

Zur ökumenischen Bewegung, wie sie durch den Genfer Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen vertreten wird, hat der oben genannte missionarisch-diakonisch orientierte Typ die größte Affinität, während der fundamentalistische Typ die größte Distanz zu ihr hat. In deutlicher Skepsis gegenüber der Ökumene stehen auch der bekenntnisorientierte und der pfingstlich-charismatische Typ, vor allem der nicht konfessionsgebundene Teil der charismatischen Bewegung und große Bereiche der Pfingstbewegung. Dialoge zwischen Vertretern des ÖRK wie auch von Seiten der katholischen Kirche und Repräsentanten der evangelikalen Bewegung werden gegenwärtig verstärkt gesucht und können anknüpfen an eine Reihe ökumenischer Verständigungsprozesse, die in den siebziger und achtziger Jahren stattfanden. Das Selbstverständnis zahlreicher Gemeinschaftsbildungen und Aktionen als „überkonfessionell“ oder „interkonfessionell“ kann falsche Assoziationen wecken. Es suggeriert ökumenische Weite, dabei geht es eher um ein bestimmtes christliches Profil und weniger um die Anerkennung von Vielfalt.

Vor allem dann, wenn Vertreter evangelikaler oder pfingstlichcharismatischer Bewegungen dazu neigen, ihre Glaubensform absolut zu setzen und nur evangelikal orientierte Gläubige als Christinnen und Christen anerkennen, provozieren sie Vorbehalte und Unbehagen. Die Antwort auf die Frage „Wer ist ein Christ?“ lässt sich angemessen nicht allein durch Bezugnahme auf eine besondere Frömmigkeitsform beantworten. Vielmehr ist anzuerkennen, dass es unterschiedliche authentische christliche Lebens- und Frömmigkeitsformen gibt. Der Lernprozess, sich als Teil einer größeren, durch Vielfalt gekennzeichneten Ökumene zu verstehen, steht vielen evangelikalen Gemeinschaftsbildungen und Initiativen noch bevor.

In einer ökumenischen Studie zu transkonfessionellen Bewegungen aus dem Jahr 1976 wurde darauf hingewiesen, dass die Herausforderung evangelikaler Bewegungen für die historischen Kirchen darin liegt, „angesichts einer oft formellen, unverbindlichen Christlichkeit (…) die Notwendigkeit persönlicher Entscheidung und Verpflichtung zu erkennen und zu betonen(…) und alle Formen kirchlichen Lebens,christlichen Zeugnisses und kirchlichen Dienstes (…) unter die Norm der Heiligen Schrift zu stellen“. Ein solches Anliegen hat seine Berechtigung. Evangelikale Bewegungen sollten ihrerseits darum bemüht sein, fundamentalistischen Verfestigungen des Glaubens entgegenzuwirken. Die Gemeinschaft der christlichen Bewegungen und Kirchen kann in Treue zum Evangelium ihren Weg nur jenseits von Fundamentalismus und Relativismus gehen.

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