Marienlieder im Spiegel der GesangbuchgeschichteTradition als Mischprozess

Ein unverzichtbarer Bestandteil jedes katholischen Gesangbuchs sind Marienlieder. Gerade sie stehen im Spannungsfeld von Volksfrömmigkeit, Theologie und kirchlicher Autorität. Der Rückblick in die Geschichte dreier Marienlieder zeigt, dass Tradition ein komplexer Prozess ist, der in hohem Maß vom jeweiligen kulturellen Klima abhängig ist.

Jeder Katholik kennt Maria, breit den Mantel aus und wähnt sich dabei in einer uralten Tradition, bestätigt durch die Quellenangabe im Gotteslob (Nr.595), die mit „Innsbruck 1640“ auf den Erstdruck des Liedes verweist. Nimmt man diese Quelle wirklich in Augenschein, dann stößt man auf eine Liedflugschrift mit insgesamt vier Liedern Von unser lieben Frawen der Himmelkönigin. Eines davon ist Maria, breit den Mantel aus. Das Lied hat dort allerdings nicht vier (wie im Gotteslob), sondern 29 Strophen. Es verwundert deshalb kaum, dass es den Weg in die Gesangbücher zunächst nicht gefunden hat. In den ersten beiden Jahrhunderten seiner Geschichte hat es generell keinerlei nennenswerte Verbreitung erfahren. Dass es nicht ganz der Vergessenheit anheim gefallen ist, verdankt sich einer privaten Initiative, der 1841 von Philipp Maximilian Körner bestellten Anthologie Marianischer Liederkranz. Dort entdeckte Guido Maria Dreves, ein bedeutender Hymnologe und Kirchenliedrestaurator, das Lied wieder und ebnete ihm den Weg in die gottesdienstliche Praxis, indem er beiteten und stark gekürzten Fassung in sein 1885 erschienenes Gesangbuch O Christhie merk aufnahm. Von hier aus gelangt es – nicht ohne weitere textlichen Veränderungen und mit zwei konkurrierenden Melodien – in diverse katholische Ge-sangbücher des 20. Jahrhunderts, vor allem auch in die wirkungsgeschichtlich so bedeutende Sammlung Kirchenlied von 1938. Erst von jetzt an, erst dreihundert Jahre nach seiner Entstehung, gehört es zweifelsohne zum katholischen Kirchenliedkanon. Man sieht, dass nicht eine uralte Tradition, sondern die Restauration des 19. und 20. Jahrhunderts unsere Vorstellung vom „echten, alten“ Kirchenlied geschaffen hat. Sie suggeriert eine Weitergabe von Geschlecht zu Geschlecht, die so nie stattgefunden hat.

  1. Maria, breit den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus, laß uns darunter sicher stehn, bis alle Stürm vorübergehn, Patronin voller Güte, uns allezeit behüte.
  2. Dein Mantel ist sehr weit und breit, er deckt die ganze Christenheit, er deckt die weite, breite Welt, ist aller Zuflucht und Gezelt. Patronin voller Güte…
  3. Maria, hilf der Christenheit, zeig deine Hilf uns allezeit; mit deiner Gnade bei uns bleib, bewahre uns an Seel und Leib! Patronin voller Güte…
  4. Wann alle Feind zusammenstehn, wann alle grimmig auf uns gehn, bleib du bei uns, sei du und Schutz! So bieten wir dem Feinde Trutz. Patronin voller Güte…
  5. Dein Sohn dir alles gern gewährt, was deine Lieb für uns begehrt; so bitt, daß er uns hier verschonund droben voller Huld belohn! Patronin voller Güte..

Aus: Kirchenlied. Eine Auslese geistlicher Lieder, Freiburg 1938, 116

Eine Karriere, die im 19. Jahrhundert beginnt

Als bekanntestes Marienlied überhaupt galt noch vor ein oder zwei Generationen Maria zu lieben. Die Karriere des Lieds beginnt im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Die heute noch nachweisbaren Liedflugschriften zeigen, daß es vor allem im Umfeld von bedeutenden Marienwallfahrtsorten anzutreffen war und dort häufig als inniges und wehmütiges Abschiedslied gebraucht wurde: Nun hör ich zum Abschied die Glöcklein schon klingen / vor Trauren und Leyden kann ich nicht mehr singen – mit diesem Verspaar beginnt oft die letzte Strophe des Liedes. Obwohl die verschiedenen Textfassungen im Einzelnen stark voneinander abweichen, verfügen sie doch über einen Kern von Strophen, in dem sie weitgehend miteinander übereinstimmen. Diese Kernstrophen finden in überarbeiteter und geglätteter Form (in abweichenden Zusammenstellungen und immer wieder auch durch neue Strophen ergänzt) im Laufe des 19. Jahrhunderts Eingang in die kirchlichen Gesangbücher. Die wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Fassungen sind dabei mit den Namen Heinrich Bone und Joseph Mohr verbunden. Während die neunstrophige Fassung Mohrs, die 1916 zum Einheitslied wurde, mit einer gewissen Beliebigkeit verschiedene Hingabe- und Bittstrophen aneinanderreiht, verleiht Bone dem Text eine in sich stimmige und konzise Form.

Der Sänger bringt voller Ergebenheit der Mutter seine innige kindliche Liebe dar. Er verschreibt sich ihr, befiehlt die ihm besonders nahestehenden Menschen ihrem Schutz an und schöpft aus dieser engen Verbundenheit mit Maria Kraft und tröstende Zuversicht für die eigene Sterbestunde. Durch eine Kürzung auf fünf Strophen wird die ausschweifende Mohr’sche Fassung dem Text von Bone poetisch angeglichen und gelangt so in die Einheitslieder, welche die Deutsche Bischofskonferenz von 1947 an in allen von ihr vertretenen Diözesen zur Vorschrift machte. In dieser Gestalt erreichte das Lied seinen Wirkungshöhepunkt. Die in ihm ausgedrückte, durch die Melodie emotional noch verstärkte bedingungslose Hingabe kann leicht als übersteigert empfunden und theologisch missverstanden werden, da weder „Gott“ noch „Christus“ Erwähnung finden. Der Text konnte darum die Zensur der Glaubenswächter nicht mehr passieren, als Anfang der siebziger Jahre das Gotteslob vorbereitet wurde. Um wenigstens die beliebte Melodie zu retten, wurde ein neuer Text in Auftrag gegeben (Nr. 594). Ein tiefempfundenes Liebeslied an Maria verwandelte sich in ein theologisch korrektes, emotional aber totes und in der Verbindung mit der gefühlsbetonten Melodie passagenweise fast komisch wirkendes Gebilde, das in dieser Form kaum noch gesungen wird. Nicht mehr an eine süße, herzinniglich geliebte Mutter und Jungfrau richten sich nun die schmelzenden Töne, sondern an eine „Frau aus dem Volke“, die „Arbeit und Sorge ums tägliche Brot“ kennt.

  1. Maria zu lieben, ist allzeit mein Sinn, In Freuden und Leiden ihr Diener ich bin; Mein Herz, o Maria, brennt ewig zu dir, In Liebe und Freude, o himmlische Zier.
  2. Maria, du milde, du süße Jungfrau, Nimm auf meine Liebe, so wie ich vertrau; Du bist ja die Mutter, dein Kind will ich sein, Im Leben und Sterben dir einzig allein.
  3. Ach hätt’ ich der Herzen nur tausendmal mehr, Dir tausend zu geben, das ist mein Begehr; Nimm Freund’ und Verwandte mit Leib und mit Seel’, Nimm, was ich nur liebe, in deinen Befehl!
  4. So oft mein Herz klopfet, befehl ich mich dir; So oft ich nur athme, verbind’ ich dich mir! Dich lieb’ ich auf ewig, dich lieb’ ich allzeit, So bin ich mit Freuden zu sterben bereit.
  5. O Mutter, nun segne den ewigen Bund! Dein Name versiegle mein Herz und den Mund, Dich ruf ’ ich im Tode, dann reich’ mir die Hand Und zieh mich nach oben ins himmlische Land.

Aus: Cantate! Katholisches Gesangbuch nebst Gebeten und Andachten für alle Zeiten und Feste des Kirchenjahres (Heinrich Bone), Mainz 1847 Kultur

  1. Wunderschön prächtige, hohe und mächtige, liebreich holdselige himmlische Frau, welcher ich ewiglichkindlich verbinde mich, ja mich mit Leib und Seel gänzlich vertrau! Gut, Blut und Lebenwill ich dir geben, alles, ja alles, was immer ich bin, geb ich mit Freuden, Maria, dir hin.
  2. Weil du ganz makellos, hat dich, o schönste Ros, der himmlisch Vater sein Tochter genannt. Ja auch der göttlich Sohnin seinem höchsten Thronsich zu dir als seiner Mutter bekannt. Endlich, die Ehrennoch zu vermehren, hat dir als seiner erwähltesten Brautder Heilig Geist auch sich selber vertraut.
  3. Den ganzen Himmelsbau, nach Gott, o große Frau, ganz majestätisch und richtig regierst. Du bist die Königin, du bist die Herrscherin Himmels und Erdens, das Zepter du führst. Der Engel Scharendein Lob nicht sparen, singen, frohlocken mit fröhlichem Schall, dir als der Meisterin huldigen all.
  4. Die Sonn bekleidet dich, es unterwirfet sichzu deinen Füßen der silberne Mon. Kein Unvollkommenheitmindert dein Herrlichkeit, um dein Haupt machen die Stern eine Kron. Alles was lebet, alles was schwebet, alles was Himmel und Erden grenzt ein, muss deiner Majestät untertan sein.
  5. In diesem Jammertalseufzen wir allzumalzu dir, o Jungfrau, in Elend und Not. Maria, du allein, wollst unsre Mutter sein, wann die Seel scheidet vom Leibe der Tod. Wann wir hinreisen, tu uns erweisen Gnad und Barmherzigkeit bei deinem Thron, bitt für uns Jesum dein göttlichen Sohn!

Wunderschön prächtige, Volksliedfassung, um 1750, aus den Quellen des 18. Jahrhunderts rekonstruiert von Christiane Schäfer (Wunderschön prächtige, Tübingen 2006, 69 f.), hier gekürzt und mit kleinen Glättungen gottesdienstlich handhabbar gemacht.

Ist Tradition das, was Kommissionen beschließen?

Aber ist das die einzige Möglichkeit, mit einem solchen Text umzugehen? Ist Tradition das, was Kommissionen beschließen, oder das, was im Glauben des Volkes lebt? Sind nicht die Einheitslieder von 1947 von derselben Autorität gebilligt worden wie das Einheitsgesangbuch von 1975, nämlich von der Deutschen Bischofskonferenz? Ist ein Lied, das gerade wegen seiner Emotionalität den Gläubigen lieb und wert war, wirklich nicht mehr zu retten? Theologisch betrachtet richtet sich der Text an Maria als die geistliche Mutter aller Menschen. Die Idee der geistlichen Mutterschaft prägte die Marienfrömmigkeit des 19. Jahrhunderts maßgeblich. In ihr drückte sich die tiefe Verbundenheit zwischen den Menschenkindern und der Gottesmutter aus. Ein Grundvertrauen, das Hoffnung auf Trost im Leiden, auf gnädige Zuwendung sowie auf Beistand während des Lebens und in der Todesstunde spendete. Eine Hoffnung, deren auch der heutige Mensch bedarf, sei er noch so aufgeklärt. Aber diese Hingabe und dieses Vertrauen bringt man Maria nur deswegen entgegen, weil sie die Mutter des Gottessohnes, die Gottesmutter ist. Daher wird in solchen Texten, auch wenn sie es nicht eigens erwähnen, Gott doch immer mitgedacht und verehrt. Kein Gebet, kein Lied, kein liturgischer Text kann immer alle theologisch oder dogmatisch relevanten Aspekte ausdrücklich nennen, sie bedürfen immer der Einordnung in ihren unausgesprochen mitgedachten Kontext. Das gilt auch für Maria zu lieben. In einer Marienandacht mit den richtigen Texten umgeben oder am Schluss einer feierlichen Messe gesungen, wird der Gottesbezug des Textes immer deutlich und eine Verselbständigung der Marienverehrung nicht zu befürchten sein.

Aus dem Gotteslob-Stammteil verschwunden, aber in 24 Diözesananhänge aufgenommen, ist Wunderschön prächtige ebenfalls bis heute sehr weit verbreitet. Anhänge sind für den Philologen keine untergeordneten Nebensachen. Sie sind näher am „Volk“, weiter weg von steuernden Zentralgewalten, und präsentieren deshalb echter, was Tradition in der Wirklichkeit der Texte bedeutet. In den einzelnen Regionen unterscheidet sich Wunderschön prächtige nach Text, Melodie und Quellenangaben in vielfältiger Weise. Man muss ein wenig ausholen, um die verschiedenen Typen nach ihrer Herkunft sortieren zu können. Die Suche nach dem Ursprung führt auch bei diesem Lied nicht zu einem „Autor“, der das „Original“ verfasst hätte, sondern verliert sich nach rückwärts in einer weit zerstreuten Flugschriftenüberlieferung, deren älteste Belege in die Mitte des 18. Jahrhunderts datieren. Rekonstruiert man daraus die ursprüngliche Fassung als geistliches Volkslied, so besteht sie im Kern aus einer Art Gelöbnis in der ersten Strophe, einer Verlobung mit und Versprechung an Maria, der man sich willig zuschwört. Die Strophen 2, 3 und 4 beschreiben immer höher aufgipfelnd Maria als dem dreieinigen Gott dreifach verbundene Mutter des Sohnes, Tochter des Vaters und Braut des Heiligen Geistes sowie als majestätische Regentin des Himmels, bekleidet von der Sonne, den Mond zu ihren Füßen, von Sternen bekrönt. Zu dieser wunderschön prächtigen, hohen und mächtigen, liebreich holdseligen himmlischen Frau beten dann in der fünften Strophe die im Jammertal, die in jeder Hinsicht der Hilfe bedürftig sind. Sie beten um Hilfe nicht nur in ihren irdischen Nöten oder Bedrängnissen, sondern sie rufen Maria an als Geleiterin über die Schwelle des Todes und als Anwältin beim letzten Gericht.

Dieses in seiner Art grandiose Gebilde lebte hundert Jahre am Rande des kirchlich approbierten Raumes, bis es in gezähmten Gestalten in die offiziellen Gesangbücher einzudringen begann. Der prächtige Bau des Gedichts wurde dabei geschwächt, die theologische Kontur vertieft, die mythologische abgeflacht, aber es blieb ein großes Lied. Johannes Kardinal von Geissel, Heinrich Bone und Joseph Mohr lassen sich als die Hauptbeteiligten eines Prozesses ausmachen, der dazu führt, dass schließlich in den Gesangbüchern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Elemente der Volksliedfassung und der Fassungen von Geissel, Bone und Mohr in immer neuen Mischungen auftauchen. Das Lied war beliebt, aber überall in anderer Gestalt. Die Gotteslob-Kommission versuchte erst gar nicht, eine zentrale Fassung für alle Diözesen zu schaffen oder durchzusetzen. Wahrscheinlich wäre ihr das auch nicht gelungen. In den 24 Diözesananhängen, in die das Lied Aufnahme gefunden hat, erscheint Wunderschön prächtige in annähernd fünfzehn verschiedenen Versionen, wobei der neoliberale Zeitgeist der siebziger Jahre in unterschiedlicher, meistens poetisch schädigender Weise am Werk gewesen ist.

Auch Vielfalt ist eine Qualität

Lebendige Tradition kann und darf dezentral und regional sein. Nicht nur Einheit ist eine Qualität, sondern auch Vielfalt. Marienlieder sind, wie man sieht, räumlich variable und zeitlich prozesshafte Gebilde. Sie sind nicht ein für alle Mal fertig wie ein Goethe-Gedicht, an dem in der Regel niemand herumändern will. Ihre Form leistet meistens wenig Widerstand, ist vielmehr oft leicht zu handhaben und lädt Begabte und Unbegabte zum Weiterschreiben ein. Sie haben ursprünglich meistens keinen greifbaren Autor. Sie sind Glaubenszeugnisse, keine Originalkunstwerke. Sicher wurden sie einmal von Individuen geschaffen, aber diese Individuen betrachteten sich nicht als Copyrightinhaber, sondern als Sprachrohre eines Glaubens, der kollektiv war und den Gott ihnen geschenkt hatte. Oft werden die Verfasser Ordensleute gewesen sein. Die In-Spiration (wörtlich: die Einhauchung des Heiligen Geistes) betrachteten sie als Gottesgabe, nicht als Privateigentum.

Aus solchen Gottesgaben bildet sich, wenn sie von anderen Gläubigen und von den kirchlich Verantwortlichen angenommen werden, der faktische Glaube als Bestandteil einer kollektiven Mentalität. Kollektive Mentalitäten verfügen zwar über eine große, in sich ruhende Schwerkraft, sind aber dennoch, nimmt man die Generationen als Maßstab, nicht unbeweglich, nicht unveränderlich. Der Glaube wandelt sich, das ist aus dem Blickwinkel des Philologen selbstverständlich.

Tradition ist ein komplizierter Mischprozess, auf den viele Faktoren einwirken – kirchliche Institutionen von ganz oben bis ganz unten, aber ebenso regionale Produktivität, die Genialität Einzelner und die Empfänglichkeit ausgewählter Kollektive. Sie alle, natürlich auch die kirchlichen Autoritäten, zeigen sich in hohem Maße abhängig von kulturellen Klimata, denen sie unterworfen sind und die sie nur wenig beeinflussen können. Im Bann dieser Klimata hat man die jahrhundertealte Marienfrömmigkeit unserer Beispiellieder erst restaurativ zu kanalisieren versucht, um ihr dann die Zügel des neoliberalen Zeitgeists anzulegen. Dieser beginnt sich derzeit aufzulösen. Man darf gespannt sein, welche Gestalt die drei hier vorgestellten Lieder in den Diözesananhängen des Nachfolge-Gesangbuchs zum Gotteslob haben werden, das derzeit vorbereitet wird.

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