Wird sich der Katholikentag an seinem Leitwort messen lassen?Eine fulminante Behauptung

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat dem Osnabrücker Katholikentag, der diesen Mai stattfindet, das Leitwort „Du führst uns hinaus ins Weite“ mitgegeben. Das passt zum Katholikentag, der sich an einer Wegscheide befindet.

Die deutschen Katholikentage sind immer noch ausgesprochen erfolgreiche Veranstaltungen. Auf ihnen kommt zusammen, was sich sonst nicht so einfach trifft: gesellschaftliches Establishment und deutscher Alltag, räsonierende Wissenschaft und entscheidungsgedrängte Praxis, experimentierende Jugend und bewahrend-bedächtige Bischöfe, treue Kirchgänger und unstete Suchende – das Ganze mit internationaler Beimischung und in kirchenrechtlich-gemäßigter ökumenischer und interreligiöser Offenheit. Über 150 Jahre alt, spiegeln Katholikentage ziemlich genau die Geschichte des deutschen Katholizismus wider. Sie waren ursprünglich ein herausragendes Projekt des deutschen „politischen Katholizismus“ und des katholischen Verbändewesens und, seit dem Zweiten Vatikanum, der „Kirchlichen Räte“. Alle drei Träger der Katholikentage sind nun aber gegenwärtig in einer etwas heiklen Lage, deutlich heikler als ihre prominenteste Veranstaltung. Das wirkt natürlich auf diese zurück.

Der deutsche „politische Katholizismus“ hatte zwei große Phasen und eine tragische Phase. In die Gründungsjahre des Kaiserreiches und der Bundesrepublik fallen seine Hoch-Zeiten: einmal als agile Oppositions-, das andere mal als einflussreiche Regierungsmacht. Seine tragische Phase fällt in die Weimarer Republik, als man die Demokratie nur halbherzig und gespalten unterstützte und man sich jedenfalls der Unterstützung der Hierarchie für die Unterstützung der Demokratie alles andere als sicher sein konnte. Mit dem Ende des „katholischen Milieus“ aber begann das allmähliche Verblassen des politischen Katholizismus, weswegen es ihn genau besehen als eigenständige Größe mittlerweile praktisch nicht mehr gibt. Wofür auch sollte er heute noch stehen, gar exklusiv? Für seine klassischen Themen – Rechte der Kirche, Rechte der Familie, Option für eine sozial balancierte Marktwirtschaft jenseits von Sozialismus und Liberalismus – gilt: Entweder hat der politische Katholizismus hier das Monopol verloren, wie im Falle der sozialen Marktwirtschaft, oder es besteht kein wirklicher politischer Handlungsbedarf mehr beziehungsweise kann sich die Hierarchie mittlerweile ganz gut alleine wehren wie im Falle der „Rechte der Kirche“, oder gibt es starke innerkatholische Konflikte wie etwa beim Familienbild und der Neuordnung der Geschlechterverhältnisse. Das aber heißt: Der politische Katholizismus bildet immer weniger eine tragfähige Basis für die katholische Laienbewegung und ihre Katholikentage.

Um den Verbandskatholizismus steht es, genau besehen, nur um weniges besser. Einstmals mächtig und einflussreich, diente er lange zur Abschottung der Katholiken und Katholikinnen von der modernen protestantischen oder atheistischen Umwelt, pluralisierte er andererseits durch seine reiche interne Differenzierung die Kirche, ermöglichte er so die sanfte, weil katholisch kontrollierte Modernisierung auch des katholischen Bevölkerungsteils Deutschlands. Der deutsche Verbandskatholizismus verstand sich zudem lange eher als „Vorfeld“ der Kirche, denn als diese selbst. Seine reale Funktion als überaus effektive Sozialform von Kirche und sein Selbstbild als der Kirche vorgelagerte Laienaktivität fielen lange Zeit auseinander. Die zentrale ekklesiologische Grundannahme des deutschen Verbandskatholizismus lag in der Scheidung eines spezifisch den Laien vorbehaltenen Weltdienstes von einem der Hierarchie vor behaltenen Heilsdienst. Das Zweite Vatikanische Konzil prinzipiell überwunden. Denn in seiner Auffassung von Kirche ist die Kirche als das eine Volk Gottes aus geweihten und nicht-geweihten Gläubigen ein Sakrament des Heils in und für die Welt. Aber auch religionssoziologisch gesehen ist diese Aufteilung nicht mehr wirklich durchhaltbar, da sich Innen und Außen seit der Auflösung des katholischen Milieus auf das Bunteste durchdringen, nicht zuletzt im kirchlichen Individuum selbst.

Die kirchlichen Räte schließlich, die dritten und jüngsten Träger der Katholikentage, entstanden in einer gewissen Spannung zum Verbändewesen. Sie wollten die innerkirchliche Kommunikations- und Partizipationskultur verändern und schafften dies ja auch im gewissen Sinne. Wichtiger aber noch: Die durchaus überschaubare Öffnungs-, Avantgarde- und Demokratiefunktion der Räte interessiert heute nur noch diejenigen, die den „katholischen Herrschaftsverband“ als solchen für sich mindestens grundsätzlich anerkennen. Das aber sind auch innerhalb der praktizierenden Katholiken und Katholikinnen immer weniger.

Da ist es umso bemerkenswerter, dass trotz dieser eher heiklen Lage ihrer Träger die Katholikentage sich nicht nur behaupten, sondern in den letzten Jahren und Jahrzehnten gar ein eigenes Profil, eine eigenständige trägerunabhängige Dynamik und Plausibilität entwickelt haben. Sie wurden immer deutlicher ein unverzichtbarer Bestandteil der deutschen kirchlichen Kultur, ja der bundesrepublikanischen Gesellschaft überhaupt. Zugespitzt gesagt: Selbst wenn das ZdK zu nichts anderem nütze wäre, als zur Veranstaltung der Katholikentage, müsste es das ZdK geben. Als Veranstaltungen auf der Basis von Laieninitiativen mit Einladung der Hierarchie wurden die Katholikentage trotz der unübersehbaren Krise ihrer Träger und trotz ihres eigenen, ganz anderen Herkunftskonzepts de facto zu wirklichen Ereignissen einer „Volk-Gottes-Kultur“ in Deutschland. Waren sie lange Zeit politische Kampfveranstaltungen des zuerst marginalisierten, später mit-regierenden Katholizismus, so sind sie heute aus-, aber auch einladende Großereignisse der deutschen katholischen Kirche mit zunehmend pastoralem Charakter.

Das beinhaltet im einzelnen drei Verschiebungen: Aus den Katholikentagen als Orten der Demonstration politischer Handlungsfähigkeit der katholischen Kirche wurden Orte pastoraler Erlebnisse und Erfahrungen; aus Orten der Demonstration kirchlicher Geschlossenheit entstanden Orte der Erfahrung der Pluralität heutiger katholischer (und ökumenischer) Glaubenspraxis; und aus Orten der intensiven Erfahrung der eigenen, bekannten Kirche entwickelten sich die Katholikentage zu Orten einer „anderen Kirchenerfahrung“, ja für manche gar zum Ort einer ganz eigenständigen, wenn nicht bisweilen sogar singulären Kirchenerfahrung. Katholikentage gehören damit zu jenen Handlungsfeldern der Kirche, die, ähnlich wie etwa die Kategorialpastoral, von der gemeindlichen Milieuverengung nicht so stark betroffen sind, sich ihr freilich auch nicht, wie etwa die Caritas, ganz entziehen können.

Kirche als eine breit engagierte und solidarische Pastoralgemeinschaft

Daraus ergeben sich nun aber auch einige Perspektiven für die Zukunft der Katholikentage. Zu meiden wäre etwa die Versuchung der Kontinuitätsfiktion, die unirritiert das eigene schrumpfende Milieu reinszeniert und Katholikentage als Großtreffen der Berufs- und Engagementkatholiken formatiert. Zu meiden wäre auch umgekehrt die Versuchung des Opportunismus, der sich den fremd gewordenen Milieus andient, von diesen aber nur verachtet wird. Zu meiden (und Gott sei Dank auch konsequent gemieden) wäre auch die Nischenfalle, wie sie exemplarisch etwa das „Forum deutscher Katholiken“ und sein Kongress „Freude am Glauben“ verkörpert. Der drohenden Milieuverengung kann man entgegenwirken, indem man auf dem Katholikentag wirklich alle in der Kirche existierenden Milieus inklusive Caritas, Bildungssektor, Kategorialpastoral präsentiert, nicht nur das akademische und politische, aber auch nicht nur das Gemeindemilieu. Die Kirche ist weit vielfältiger tätig, als sie sich bisweilen in ihrem Blick auf sich selbst klar macht. Die Erfahrungen von kirchlichen Sozialpädagoginnen in der Sozial- und Familienhilfe etwa, die Erfahrungen der Alten-, Krankenhaus-, Gefängnis-, Notfallseelsorge oder auch jene der Religionslehrerinnen und Religionslehrer: Sie sind ein reicher Realitätsschatz der deutschen Kirche und auch der bundesdeutschen Wirklichkeit überhaupt. Die hier gesammelten Erfahrungen mit dem Versuch, die Botschaft Jesu in Wort und Tat in unserer heutigen Realität zu präsentieren, zeigen, was die deutsche katholische Kirche heute eben auch ist: eine wirklich breit engagierte und solidarische Pastoralgemeinschaft.

Ein Leitwort in der Polarität von Behauptung und Erfahrung

Der Katholikentag könnte sich noch stärker vom Treffen des deutschen Laienkatholizismus zum Treffen des katholischen Volkes Gottes in Deutschland weiterentwickeln. Der Katholikentag könnte auch noch demonstrativer und noch selbstbewusster Kommunikationsangebote an andere Milieus wagen. Beide Male wird es viel kommunikative Intelligenz und Kreativität brauchen, um auch nur die methodisch richtigen Formen und Orte zu finden. Der Weg aber könnte noch weiter führen vom Treffen „unter uns“ zum Treffen „mit anderen“. Katholikentage würden damit verstärkt Orte werden, wo die realen und oft unterschätzten Stärken der Pastoral der deutschen katholischen Kirche präsentiert und erfahrbar werden. Rechnet man zur Pastoral der Kirche, wie theologisch geboten, auch die Caritas, die Bildungsarbeit, die Kategorialpastoral, die kirchlichen Schulen etc., dann sollte dieses Spektrum in seiner faszinierenden Breite und Kompetenz wirklich erkenn- und erlebbar werden. Das wäre dann der endgültige Schritt auf dem Weg von der „Heerschau“ zur „Leistungsschau“.

Nun hat das ZdK dem nächsten, dem Osnabrücker Katholikentag das Leitwort „Du führst uns ins Weite“ mitgegeben. Das eröffnet in der beschriebenen Lage der Katholikentage eine große Chance, beinhaltet aber auch Gefahren. Beides spiegelt sich in der Ambivalenz des Leitwortes selbst. Es kann, realistisch gewendet, den Katholikentag weiter auf seinem Weg führen, Ort einer faszinierenden Volk-Gottes-Kultur zu sein, oder, postulatorisch verwendet, diesen Weg versperren. Die Stärke dieses Leitworts ist: Es macht genau diese Gabelung unmittelbar sichtbar. Denn dieses Leitwort stellt eine fulminante Behauptung auf. Behauptungen haben nun aber stets eine starke Vorder- und eine prekäre Rückseite. Ihre starke Vorderseite ist ihr Geltungsgestus: Er nimmt für sie ein, gibt Versprechen ab und schafft kognitive Sicherheit. Ihre prekäre Rückseite ist ihre Verifikation. Sie schafft Distanz, zieht die Versprechen in Zweifel und schafft Zonen des Ungewissen.

Indem sich das ZdK für das Leitwort „Du führst uns hinaus ins Weite“ entschieden hat, hat es sich für beide Seiten dieser Behauptung entschieden, für ihre starke wie für ihre schwache, für den Geltungsgestus wie für die offene Frage der Verifikation. An dieser polaren Struktur des Leitwortes kommt der Katholikentag nicht vorbei. Sollte er es versuchen, fiele er in den Spalt zwischen Behauptung und Bewahrheitung oder, theologisch gewendet, von Dogma und Pastoral. Die Katholiken stünden als Menschen da, die etwas Großartiges behaupten, ohne es belegen zu können. Das ist nicht so und darf deshalb auch nicht so erscheinen. Es muss auch nicht so erscheinen. Die Polarität von Behauptung und Erfahrung markiert das Heikle dieses Leitworts, aber auch seine große Chance. Denn diese Polarität eröffnet den Zugang zur Entscheidungszone jeder Religion, der Wahrhaftigkeit. Diese Polarität birgt aber auch eine der größten Versuchungen des Christentums in Zeiten seiner Entmachtung: die realitätsblinde Selbstvertröstung. Die Spannung von Behauptungsstärke und Bewahrheitungsfragilität teilt das Leitwort mit jenen beiden Größen, auf die es Bezug nimmt: dem Glauben der Christen („Du führst uns“) und der Zukunft von Individuum, Gesellschaft und Menschheit („ins Weite“). Auch der Glaube wie die Zukunft haben eine starke Vorderund eine prekäre Rückseite. Glauben wie Zukunft sind Träger von Hoffnungen und werden als Versprechen gehandelt. Beiden ist damit aber auch die Frage eingeschrieben, ob sie halten, was sie versprechen. Diese Fragen müssen notwendig offen bleiben, denn sonst wäre der Glaube Wissen oder wir wären Gott, der allein die Zukunft kennt. Es gibt keinen Glauben an dieser Polarität vorbei und eine Beschäftigung mit der Zukunft erst recht nicht. Die dritte Komponente des Leitworts, die Zukunft, macht das Motto des Katholikentags noch zusätzlich höchst ambivalent. Denn deren Lage ist sehr ungewiss, um das Mindeste zu sagen. Erstmals seit langem darf die nachfolgende Generation froh sein, wenn es ihr nicht schlechter geht als der vorhergehenden. Es gilt eben wirklich: Wir leben in einer Zeit, da die Vergangenheit unbrauchbar, die Gegenwart unüberschaubar und die Zukunft unplanbar geworden ist. Es ist mutig, in dieser Lage zu behaupten, man wüsste den Weg in die Zukunft und gar einen guten. In solch einer Lage kann Weite Befreiung, in Zeiten der Globalisierung aber auch Verlorenheit bedeuten, das „Du“ kann ein liebendes oder ein verführerisches Wesen sein, „Führer“ können es gut oder, wahrscheinlicher, schlecht mit uns meinen, und dieses „uns“ schließlich, das ist gleich ganz prekär geworden: Welche unserer multiplen Zugehörigkeiten meint es gerade?

Was verbindet das ZdK mit dem Leitwort des Katholikentags?

Das Motto „Du führst uns hinaus ins Weite“ hat im Übrigen einen identifizierbaren Sprecher. Das ZdK als Repräsentationsorgan der deutschen katholischen Kirche steht für dieses Motto ein und interpretiert es auf der Basis seiner Intentionen. Wer ein Motto ausgibt, der wird gefragt, was es mit ihm zu tun hat und was es über ihn aussagt. Da liegt angesichts des Katholikentagsmottos schnell ein Verdacht nahe: Hier will sich eine Institution, die um ihre Zukunft fürchtet und zumindest von außerkirchlichen Kreisen eher mit konservativer Enge assoziiert wird, im immer dunkleren Wald ihrer prekären Existenz Weite und Zukunft zubilligen. Der Katholikentag wird alles tun müssen, um diesen Verdacht begründet zu entkräften.

Das Motto des Katholikentags besitzt einen unüberhörbaren eschatologischen Unterton: „Du führst uns ins Weite“ heißt zuletzt: Du führst uns zu Dir. Das aber heißt: Gott führt uns vor sein Gericht. Die Weite Gottes ist nicht einfach die Erfüllung unserer Extensionssehnsüchte, sie ist auch das Gericht über uns. Freilich ein Gericht, bei dem zusammenfällt, was vor der Eschatologie nie ganz zusammenkommt: Gerechtigkeit und Liebe. Der Ps 18, aus dem das Motto ja stammt, hat, wie das letzte Gericht, auch diesen Unterton der Gefahr, freilich bezogen nicht auf den Beter selbst, sondern auf die anderen, die Feinde. Der Beter jubiliert ganz ungeniert über deren Vernichtung und erfreut sich an ihrer Niederlage. Der Psalm ist darin ziemlich selbstgefällig und selbstgerecht. Der Beter sieht sich auf der sicheren, der frommen Seite. Das ist die Gefahr eines jeden Gläubigen: Sich auf der rechten, der sicheren Seite zu wissen. Das ist auch die Gefahr dieses Mottos, neben der Gefahr, eine ungedeckte Behauptung zu sein, die zweite, die religiös noch schlimmere Gefahr: das Versprechen des Mottos als selbstgerechte und selbstgefällige Verheißung eigener Ausweitung zu lesen. Die Weite, in die Gott uns führt, ist aber zuletzt er selber. Sie ist deshalb ebenso eine Realität unseres Lebens wie ein großes Geheimnis. Die Weite, in die er uns führt, liegt schon jetzt jenseits des irgendwie arg engen Horizonts unserer eigenen Wünsche, Projektionen und Projekte. Es ist die Weite wirklicher Befreiung, inklusive der Befreiung von unseren eigenen Befreiungsvorstellungen.

Das scheinen auch die beiden Straßengräben dieses Mottos zu sein: Man kann mit ihm im Spalt von Behauptung und Bewahrheitung stecken bleiben, aber auch im triumphal-selbstgerechten Gestus: Wir wissen den Weg. Vor Ersterem schützt realistische Selbstkritik, vor Letzterem Frömmigkeit, also der demütige Gottesbezug. Selbstkritische Ehrlichkeit und demütiger Bezug auf den immer viel größeren Gott, das ist es, was dem nächsten Katholikentag angesichts seines Mottos gut anstünde und ihn zu einem pastoralen Ereignis werden ließe.

Soll der Katholikentag nicht in die Falle ungedeckter Behauptungen gehen und will er nicht ein Projekt der vergeblichen Selbstermutigung einer ansonsten heillos verunsicherten Kirche werden, dann sollte er auf die Präsentation von Realitäten und nicht auf die Proklamation von Idealitäten setzen. Es könnte also ein ausgesprochen praktisch-theologischer Katholikentag werden, welcher die ganze Bandbreite des pastoralen Handelns der Kirche präsentiert: ehrlich und selbstbewusst, selbstkritisch und realistisch und auch jenseits des verfassten Katholizismus. Idealitäten aber wären dann nicht appellativ, sondern kritisch zu nehmen: Wo behaupten wir etwas, was wir nicht erfüllen? Wo stellt die katholische Kirche wirklich Weite dar und her in den Verengungsgeschichten eines heutigen Lebens und wo produziert sie Verengungen in der Weite heutiger Möglichkeiten? Soll der Katholikentag nicht in die Falle einer nicht gegenwartsfähigen Zukunftskonzeption gehen, dann darf er weder auf die vor-modern „gewusste“ noch auf die modern-utopische Zukunft setzen, sondern muss sich der prekären Gegenwart der Zukunft in einer sich selbst ziemlich unbekannten und unübersichtlichen Kultur stellen.

Eine sich selbst ziemlich unbekannte und unübersichtliche Kultur

Der Zukunftsschwerpunkt könnte einen ausgesprochen gesellschafts-politischen Katholikentag provozieren und die großen offenen Zukunftsthemen unserer Gesellschaft offensiv und in neuen Formen präsentieren. Die Globalisierung mit ihren Auswirkungen auf Medialität, Interkulturalität, politische, soziale und ökonomische Ordnung sowie die Probleme der Ökologie sind ebenso mächtige wie in ihren Auswirkungen offene und prekäre Prozesse, bei denen der Beitrag der KatholikInnen gefragt ist. Welche Optionen in diesen großen und wirklich offenen Zukunftsfragen unserer Gesellschaft hat die deutsche katholische Kirche? Und das vor Ort und konkret: Wie geht sie mit deren Auswirkungen im Alltag konkret an? In ihrer vielfältigen, konkreten, aufregenden pastoralen Tätigkeit in Gemeinde, Schule, Kindergarten, Gefängnis, Krankenhaus, Sozialarbeit, Politik und Wissenschaft? Die Globalisierung beendet die Möglichkeit der Pluralitätstoleranz allein auf Grund von Distanz und Nichtkenntnis. Sie konfrontiert mit der Alternative zum Eigenen: in der Religion, in den Geschlechter-, in den Herrschaftsverhältnissen und überhaupt in der Kultur des Zusammenlebens. Wie bearbeitet die katholische Kirche in ihrer pastoralen Realität all diese Herausforderungen, denen sie spätestens im Alltag ihrer Pastoral vor Ort, in der Solidarität ihrer Begleitung konkreter Leben nicht ausweichen kann und Gott sei Dank ja auch nicht ausweicht? Wenn ein Caritasaltenheim eine relevante Anzahl muslimischer Bewohner und Bewohnerinnen hat, dann wird sehr real und praktisch, was Interkulturalität auf der Basis des Evangeliums bedeutet. Fragen wir doch, wie wir sie beantworten und präsentieren und diskutieren wir es auf dem Katholikentag!

Der Katholikentag hat in den letzten Jahren besonders die Jugend angesprochen und der Osnabrücker will es ganz besonders. Soll der Katholikentag nicht in die Falle eines inszenierten Dialogs gehen und Jugendlichkeit vielleicht gar über ein paar Sacro-Popkonzerte definieren, muss er das Wagnis eines offenen und temperamentvollen Gesprächs mit der ganzen Breite der Jugend in Deutschland eingehen. Das meint: Der Katholikentag hätte die Chance, ein wirkliches Forum des „Dialogs der Jugend Deutschlands“ zu werden, wenn er der Versuchung widersteht, nur „seine Jugend“ zusammenzurufen. Der Weltjugendtag hat ein gewisses Spektrum der katholischen Jugend der Welt zusammengebracht, die Katholikentage versammeln ein etwas breiteres Spektrum der katholischen Jugend Deutschlands bis hinein in andere christliche Konfessionen. Ziel des Osnabrücker Katholikentags könnte es sein, die Weite und Breite der Jugend in Deutschland, inklusive gerade jener mit Migrationshintergrund in den Dialog zu bringen. Das wäre ein wirklicher Dienst an der Gesellschaft, die diesen Dialog immer noch nicht wirklich führt.

Der Katholikentag ist ein starkes Ereignis der deutschen katholischen Kirche. Als eine Versammlung des katholischen Volkes Gottes in Deutschland könnte er von einem Treffen „unter sich“ noch stärker zu einem Treffen „mit anderen“ werden und gerade darin zeigen, wie stark die deutsche katholische Kirche in ihrer breiten pastoralen Realität vor Ort ist, wie mutig sie sich in ihrer Pastoral den heutigen Problemen stellt, wie wenig sie der Gegenwart ausweicht. Sie tut es nämlich in ihrer konkreten Pastoral viel seltener, als es in ihrer öffentlichen Erscheinung wirken mag.

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