In Berlin bietet der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) seit vielen Jahren das freidenkerisch geprägte Unterrichtsfach Humanistische Lebenskunde an. Derzeit erreicht er knapp 45 000 Schüler und hat damit das Fach fest etabliert. Es lohnt ein Vergleich: Den evangelischen Religionsunterricht besuchen in Berlin gegenwärtig knapp 85 000 Kinder, rund 25 000 besuchen den katholischen Unterricht und lediglich 4500 besuchen islamischen Religionsunterricht. Das Unterrichtsfach Humanistische Lebenskunde spiegelt die Entwicklung der Bundeshauptstadt in den letzten Jahrzehnten wider und zeigt, wie sehr Migration und Mauerfall das religiöse Klima zu Ungunsten der großen Kirchen verändert haben. Vor 1989 führte das Fach mit weniger als 1000 teilnehmenden Schülern im damaligen Westteil der Stadt ein Schattendasein. Inzwischen profitiert man vom entkirchlichten Osten und von Kindern nichtdeutscher Herkunft.
Lebenskunde ist ein schillernder Begriff. Er hat in diesem Zusammenhang nichts mit dem Lebenskundlichen Unterricht in der Bundeswehr zu tun und auch nichts mit einer rassistisch begründeten „Lebenskunde“, die ab 1933 Teil des Biologieunterrichts in der Mittelstufe wurde. Wegen inhaltlicher Nähe wird das Fach heute immer wieder mit LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde) verwechselt. LER ist ein Unterrichtsfach, das seit 1996 an den brandenburgischen Schulen der Sekundarstufe I eingeführt wurde. Als Teil des offiziellen Schulcurriculums ist LER ein ordentliches Lehrfach und versteht sich, im Gegensatz zum kirchlichen Religionsunterricht, als bekenntnisfreier Unterricht. Damit ist LER, wie Kritiker vortragen, ein staatlicher Pflichtunterricht in weltanschaulichreligiösen Fragen. Humanistische Lebenskunde ist dagegen kein „neutraler“ schulischer Ethik-Unterricht, sondern die Alternative zum Religionsunterricht, oder, paradox formuliert, freidenkerischer Religionsunterricht. Die Anfänge liegen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, als im Kontext beginnender Entkirchlichung nach Alternativen zum Religionsunterricht gesucht wurde. In der Diskussion war ein sittlicher rent an der Evangelischen Unterricht, der pädagogische Gesundheitslehren mit philosophischer Volkskunde verbinden könnte und zu-gleich als Vorbereitung für die damals aufkommende Jugendweihe hätte dienen können. Seinerzeit wurde der Unterricht eher als Religionskunde gedacht – in gewisser Weise vergleichbar dem heutigen LER. 1924 wurde Lebenskunde in Berlin eigenständiges Lehrfach an einigen bekenntnisfreien beziehungsweise weltlichen Schulen. Schon damals kam Berlin also eine Schlüsselrolle bei der Einführung dieses Faches zu.
Die Schlüsselrolle Berlins
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde das Fach jedoch verboten. In Berlin (West) wurde Ende der fünfziger Jahre ein erster Versuch zur (Wieder-) Einführung eines vom Freidenkerverband verantworteten Lebenskundeunterrichts unternommen. Neben anderen hatte sich auch Willy Brandt wiederholt im Berliner Abgeordnetenhaus für die Gleichbehandlung des Lebenskundeunterrichts mit dem kirchlichen Unterricht eingesetzt. Das Experiment wurde 1963 jedoch angesichts geringer Teilnehmerzahlen eingestellt. Anfang der achtziger Jahre versuchte man es erneut. Ab 1984 konnte Lebenskunde als freiwilliges, nicht-religiöses Unterrichtsfach der Freidenker in allen Schulstufen angeboten werden. Damit war Lebenskunde dem Religionsunterricht gleichgestellt, der in Berlin ebenfalls nur ein freiwilliges Unterrichtsfach ist. Damals legten die Behörden Wert auf die Feststellung, dass Lebenskunde nicht Religionskunde impliziert. Nicht ohne Ironie war, dass Lebenskunde bis 2001 in der Berliner Senatsverwaltung unter der Rubrik Religionsunterricht geführt wurde.
Mit der Wiedereinführung der Lebenskunde 1984 wurde auch eine inhaltliche Kurskorrektur vorbereitet. Peu à peu verabschiedeten sich die Freidenker von ihrer klassischen Forderung nach einer strikten Trennung von Staat und Religion, das heißt von Schule und Religionsunterricht. Ab Mitte der neunziger Jahre vollziehen auch die programmatischen Texte den Kurswechsel nach. Hatte man zuvor Lebenskundeunterricht gefordert, solange es Religionsunterricht gibt, wünscht man jetzt Lebenskunde unabhängig vom Religionsunterricht. Die Situation war paradox: In gewisser Weise führten die Westberliner Freidenker in den achtziger Jahren etwas ein, was sie ablehnten – nämlich einen bekenntnisgebundenen Weltanschauungsunterricht an der Schule. Dass sie diesen Schritt dennoch verfolgten, dürfte den realen, politischen Verhältnissen geschuldet sein und der besonderen Lage im Westteil Berlins, in der die klassischen, sozialistischen Freidenkerideen schwerer aufrechterhalten werden konnten. Ohnehin kann man feststellen, dass die Westberliner Freidenker in Distanz zu den westdeutschen Freidenkern standen. Die Westberliner Freidenker standen eher der Sozialdemokratie nahe, die Westdeutschen bewegten sich in der Nähe zur DKP und zu kommunistischen Vorstellungen. Offensichtlich entzauberte die Nähe zur DDR sozialistische Ideen.
In Berlin ist Religionsunterricht kein ordentliches Schulfach
Nach der Wiedervereinigung hat der HVD das Erbe der Westberliner Freidenker übernommen (vgl. HK, August 2004, 415ff.). Er organisiert und verantwortet heute den Unterricht. Der HVD war Anfang 1993 aus den (West-) Berliner Freidenkern und anderen atheistischen Organisationen beziehungsweise Verbänden der Konfessionslosen hervorgegangen. In den 15 Jahren seines Bestehens ist es ihm gelungen, eine beachtliche Ausstrahlungskraft zu entwickeln. Zwar ist die Mitgliederbasis mit bundesweit etwa 15 000 Mitgliedern relativ gering, man setzt jedoch geschickt politische Akzente.
So ist der Verband in der Diskussion um Patientenverfügungen äußerst rege, er organisiert Lebenshilfe („Humanistische Beratung“), veranstaltet Jugendweihen (hier: Jugendfeiern), betreibt in Berlin zahlreiche Kindertagesstätten und soziale Einrichtungen usw. Darüber hinaus bietet der HVD so genannte „weltliche Bestattungen“ an und organisiert alternative Rituale wie Namenweihen und Hochzeiten. In jüngster Zeit hat der HVD in Berlin eine „Humanistische Stiftung“ gegründet, die erste freidenkerische Schule seit 1933 und ein eigenes Ausbildungsinstitut für Lebenskundelehrer. Demnächst wird er erneut im Bundesland Berlin einen Antrag auf Anerkennung als „Körperschaft des Öffentlichen Rechts“ stellen. Eine breite Wirkung erzielt der HVD jedoch durch seinen Lebenskundeunterricht. Die Stärke dieses Unterrichts erklärt sich auch daraus, dass der Religionsunterricht in Berlin kein ordentliches Schulfach ist. Zwar unternehmen die beiden großen Kirchen immer wieder Vorstöße in diese Richtung, die Berliner Politik ist jedoch ablehnend. Nicht ganz unwesentlich dürfte sein, dass die bildungspolitische Sprecherin der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus, Felicitas Tesch,stellvertretende Landesvorsitzende des HVD ist.
Humanistische Lebenskunde versteht sich heute als humanistischer Weltanschauungsunterricht, wobei „humanistisch“ in diesem Zusammenhang nicht synonym mit klassischer Bildung gemeint ist, sondern im Sinne von freidenkerisch/ atheistisch genutzt wird. Dieser Sprachgebrauch ist zwar verwirrend, wird aber in der „Szene“ immer beliebter. Man möchte sich damit einerseits von extrem kirchenkritischen Positionen abgrenzen, auch, weil das politisch opportun scheint, andererseits möchte man sich aber auch von einer negativen Definition entfernen: Man sei eben kein A-theist im Sinne von gottlos, sondern eine Gemeinschaft mit Wertvorstellungen und Sinnerwartungen, die ohne Gott oder Religion auskommen. Im Lebenskundeunterricht geht man davon aus, dass „es keinen vorgegebenen Sinn des Lebens gibt, aber Menschen ihrem Leben einen Sinn geben können“ (Humanistische Lebenskunde bundesweit? Meldung des hpd vom 15.12.2007). Dabei sind die Wissenschaften Hilfsmittel, moralisches Handeln zu verstehen und zu entwickeln. Der Unterricht möchte folglich „die Grundsätze einer humanistischen Lebensauffassung“ vermitteln. Im Mittelpunkt sollen Verantwortung, Toleranz und Selbstbestimmung stehen. Die Schülerinnen und Schüler werden ermuntert, über sich und die Welt nachzudenken, sich ihrer Verantwortung für ihr Leben bewusst zu werden und Standpunkte aus nichtreligiöser, humanistischer Sicht zu entwickeln. Dabei sollen sie auch andere Religionen und Weltanschauungen kennen lernen – jedoch aus einer freidenkerisch/religionskritischen Perspektive.
Der HVD will seine säkular-humanistische Weltanschauung akademisch verankern
In Berlin erteilen etwa 400 Lehrerinnen und Lehrer diesen Unterricht. Sie sind teilweise im staatlichen Schuldienst tätig, teilweise sind sie beim HVD angestellt. Die Befähigung zur Erteilung des Unterrichts kann auf zwei Wegen erreicht werden: in Rahmen eines zweijährigen, berufsbegleitenden Ergänzungsstudiums, oder aber in der Form einer längeren, berufsbegleitenden Weiterbildung. Der HVD unterhält selbst ein Ausbildungsinstitut, welches mit dem Institut für Gesellschaftswissenschaften der TU Berlin kooperiert. Schon länger verfolgt der HVD in Berlin das Ziel, seine säkular-humanistische Weltanschauung auch akademisch zu verankern. Gern weist man auf die Vielzahl theologischer Lehrstühle hin und folgert, dass es für die humanistische (das heißt konfessionslose) Weltanschauung Vergleichbares geben müsste. In diesem Zusammenhang orientiert sich der HVD gern an der Humanistischen Universität Utrecht, an der auf den Fachgebieten humanistischer Unterricht beziehungsweise humanistische Beratung geforscht und gelehrt wird. Ein entsprechender Studienzweig könnte „Humanistik“ heißen – nach dem Motto: was den Gläubigen die Theologie ist, sollte den Konfessionslosen die Humanistik sein (www.humanistischeakademie-deutschland.de).
Es bleibt nicht bei Lebenskunde in Berlin und Brandenburg
Seit Beginn des Schuljahres 2007/08 wird das Fach Lebenskunde auch im Bundesland Brandenburg in den Klassenstufen 1 bis 4 schrittweise eingeführt. Der HVD hatte dazu das Brandenburger Verfassungsgericht angerufen und vorgetragen, dass die einseitige Privilegierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Schulgesetz nicht mit der Landesverfassung vereinbar sei. Die Richter schlossen sich im Dezember 2005 dieser Auffassung an. Die Kammer stellte damals fest, dass die einseitige Privilegierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Brandenburger Schulgesetz gegen den Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates verstößt. Sie sprachen damit dem HVD (und faktisch allen Weltanschauungsgemeinschaften) das Recht zu, im Bundesland Brandenburg Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Somit war der Weg für einen freidenkerischen Werteunterricht – und damit für Lebenskunde – frei.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis der HVD auch in weiteren Bundesländern auf Einführung des Unterrichtsfachs drängt. Erste Bemühungen unternahm man in Nordrhein-Westfalen. Doch im Sommer 2007 hat das zuständige Ministerium einen entsprechenden Antrag abgelehnt. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass das NRW-Schulgesetz und die Landesverfassung lediglich Religionsunterricht und keinen Weltanschauungsunterricht vorsehen. In der Tat ist die Rechtslage in NRW anders als in Brandenburg. Denn in NRW und fast allen westlichen Bundesländern ist der Religionsunterricht ordentliches Schulfach unter staatlicher Aufsicht. In Berlin und Brandenburg ist der Religionsunterricht lediglich ein freiwilliges Angebot. Dennoch dürfte der HVD auf seine Potsdamer Argumente zurückgreifen. Sein stärkstes Argument ist die im Grundgesetz verbriefte Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Wie zu erwarten, hat der HVD Ende November 2007 Klage beim Verwaltungsgericht Düsseldorf eingereicht. Man verweist auf das Grundgesetz, wonach niemand wegen seiner Religion oder Weltanschauung bevorzugt oder benachteiligt werden darf. Schließlich untersage Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention jegliche Diskriminierung wegen Weltanschauung oder Religion beziehungsweise wegen der Abwesenheit derselben. Der HVD ist zuversichtlich, dass das Land NRW diese „grundgesetzwidrige Diskriminierung“ beenden muss und verpflichtet wird, das Unterrichtsfach Lebenskunde an den öffentlichen Schulen als Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht einzurichten. Das Ergebnis dieser juristischen Auseinandersetzung bleibt abzuwarten.
Man verweist lieber auf Sympathisanten statt auf Mitglieder
Hinter diesem verfassungsrechtlichen Problem steht jedoch auch eine ganz praktische Frage: Wie groß muss eine Weltanschauungsgemeinschaft sein, damit man sinnvollerweise Gleichbehandlung reklamieren kann? Ist es realitätsnah, wenn jeder Kleinstverein, der eine Weltanschauung vertritt, seinen eigenen Weltanschauungsunterricht anbietet? Diese Frage ist nicht geklärt. Der HVD, der in NRW allenfalls einige tausend Mitglieder haben dürfte, kennt das Problem. Um es aufzuweichen, spricht man weniger von Mitgliedern als vielmehr von Sympathisanten. So verweist der HVD gern darauf, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung konfessionslos ist. Viele dieser Menschen vertreten humanistische Lebensauffassungen und stehen somit, so wird suggeriert, dem HVD nahe. Um diesen fragwürdigen Befund zu untermauern, gibt der HVD immer wieder Umfragen bei Meinungsforschungsinstituten wie Forsa oder Allensbach in Auftrag, welche die Sympathie vieler Menschen zu humanistischen Lebensauffassungen erfragen sollen. Dass die so erzielten Zustimmungswerte mitunter hoch sind, wird nicht verwundern: Auch viele Christen fühlen sich humanistischen Werten verbunden.
Die Frage nach den Mitgliederzahlen einer Weltanschauungsgemeinschaft ist in der Diskussion um Religionsunterricht und Lebenskunde abgründig. In NRW könnten die Kirchen geneigt sein, auf ihre beachtlichen Mitgliederzahlen zu verweisen. Diese Zahl, so wird schnell gesagt, legitimiere den Religionsunterricht. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass die Argumente scheinbar ortsabhängig sind. Denn in Brandenburg wurde die Frage nach den Mitgliedern schnell abgewiesen. Hier war die Logik: nicht die Mitglieder zählen, sondern das weltanschauliche Gewicht. Genau so argumentiert nun der HVD. Dabei unterliegt auch die Position des HVD erstaunlichen Veränderungen: Noch vor einigen Jahren hatte man der Einführung des Religionsunterrichts in Brandenburg mit dem Argument widersprochen, die beiden Kirchen hätten dort ja nur wenige Mitglieder. Ein Argument, an welches man derzeit in NRW und andernorts nicht mehr so gern erinnert wird. Der HVD hat Großes vor. Er möchte für „Atheisten, Agnostiker und Humanisten an den öffentlichen Schulen grundsätzlich den gleichen Stellenwert (erlangen), wie ihn das Christentum oder andere Religionen bereits haben“. Bundesweit soll das Fach Humanistische Lebenskunde in der Form eines freiwilligen Unterrichtsfachs als Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht aufgebaut werden. In einem aktuellen Papier des HVD heißt es unmissverständlich: „Das Monopol der christlichen Kirchen auf einen bekenntnisgebundenen Unterricht an öffentlichen Schulen ist nicht mehr zeitgemäß.“ Daher setzt sich der HVD auch für einen islamischen Religionsunterricht ein – eine erstaunlicher Kurswechsel, wenn man sich der freidenkerischen Wurzeln dieses Verbandes erinnert.
Bei so viel Konkurrenz verwundert es fast, dass viele Religionslehrer mit den Kollegen von der Lebenskunde oft gute Erfahrungen machen. Der ideologische Graben ist im Schulalltag offensichtlich weniger tief. Mitunter hört man jedoch auch Klagen: Die Lebenskundelehrer würden Kinder mit attraktiven Themen locken: „Wir sprechen über Pharaonen, Ritter und Fossilien“, oder sie verwandeln das Klassenzimmer beim Thema Haustiere in einen Streichelzoo.
Verärgerung ruft auch immer wieder hervor, dass im Unterricht für die Jugendweihe geworben wird. An die Kinder wird regelmäßig ein „Elternbrief“ verteilt, in dem sich der HVD mit seiner politischen und sozialen Arbeit vorstellt. Also mit Aktionen, die nichts mit Schule und Unterricht zu tun haben. Unmut ruft auch hervor, dass der Lebenskundeunterricht gern als undogmatisch, offen und tolerant präsentiert wird, während, so wird suggeriert, der Religionsunterricht ja irgendwie dogmatisch verkrustet und altmodisch sei. Schließlich empfinden es Religionslehrer als unfair, dass der Lebenskundeunterricht häufig als (heimliche) Vorbereitung auf LER beziehungsweise Ethik gedeutet wird. Wer sparsam mit seiner Zeit umgeht, könnte daher statt Religion Lebenskunde wählen ...
Erfolgreich auf dem Ticket der Kirche
Man kann davon ausgehen, dass der HVD im Fall einer Niederlage vor dem Verwaltungsgericht das NRW-Verfassungsgericht anrufen wird. Es ist denkbar, dass die Dinge hier ähnlich entschieden werden wie in Potsdam. Das würde über kurz oder lang die Einführung der Humanistischen Lebenskunde im bevölkerungsreichsten Bundesland bedeuten. In Bayern und Niedersachsen sind entsprechende Anträge ebenfalls gestellt. Der Ausgang der jüngsten Landtagswahlen in Niedersachsen und der Einzug der Partei „Die Linke“ in den Hannoveraner Landtag dürfte den HVD beflügeln. Zwar ist man geschickt genug, sich nicht auf eine politische Präferenz festlegen zu lassen, aber eine gewisse Nähe zu linken Parteien lässt sich nicht übersehen. In Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Sachsen-Anhalt bereitet man die Einführung von Lebenskunde beziehungsweise entsprechende Anträge an die Kultusbehörden vor. Denn das politische Fernziel des HVD ist klar: Überall dort, wo für religiös gebundene oder interessierte Schüler konfessioneller Religionsunterricht angeboten wird, soll in Zukunft auch der freidenkerische Unterricht Humanistische Lebenskunde angeboten werden.
Damit zeichnet sich eine grundlegende Veränderung der religiösen Kultur an den Schulen ab. Denn die Einführung eines religionskritischen Unterrichtsfachs dürfte den Schulalltag, die Gestaltung von Gottesdiensten im Schuljahr, die Art der Gedenk- und Erinnerungskultur bei Unglücken und Jahrestagen usw. grundlegend verändern. Bei Katastrophen wie dem Massaker an einer Schule in Erfurt wird man die schulische Gedenkveranstaltung kaum noch in der Form einer christlichen Andacht organisieren können. Dass eine freidenkerische Anti-Kirche derart erfolgreich auf dem Ticket der Kirche segelt und von Einflussmöglichkeiten profitiert, die sie den von ihr gescholtenen Kirchen verdankt, ist dabei die eigentliche Erstaunlichkeit. Den Kirchen bleibt über kurz oder lang nur, was wie eine Binsenweisheit klingt: den Religionsunterricht so gut und attraktiv zu gestalten, dass keiner abwandern möchte.