Über Jean Améry und die HeimatlosigkeitOhne Hoffnung?

In diesem Jahr jährt sich zum dreißigsten Mal der Todestag Jean Amérys (1912–1978) Améry hat sich damit gequält, Auschwitz überlebt zu haben. Die Gottesfrage zu stellen oder das jüdische Gebet Sch’ma Israel anzustimmen, hat er für sich abgelehnt. Was heißt das für den Diskurs über die Hoffnung, über die Benedikt XVI. in seiner zweiten Enzyklika „Spe Salvi“ geschrieben hat?

Es gibt einfache Wahrheiten, die dennoch alles andere als einfach sind. In seiner zweiten Enzyklika „Spe Salvi“ (vgl. HK, Januar 2008, 7ff.) hat Benedikt XVI. eine solche Wahrheit ausgesprochen: „Der Mensch braucht Gott, sonst ist er hoffnungslos“ (Nr. 23). Vom Verlaufe der Neuzeit her erweise sich diese Aussage des Paulus – Benedikt XVI. lehnt sich an den Epheserbrief an (Eph 2,2) – „als ganz realistisch und schlichtweg als wahr“. Dringend müsse die Vernunft „durch die Öffnung (...) für die rettenden Kräfte des Glaubens, für die Unterscheidung von Gut und Böse ergänzt werden“. Eine Vernunft ohne Glauben droht damit nicht nur hoffnungslos, sondern im gleichen Atemzug moralisch indifferent zu werden. Die Hoffnungsenzyklika variiert damit das Thema Joseph Ratzingers/Benedikt XVI. schlechthin, nämlich die Synthese von Glaube und Vernunft.

Von einigen Kommentatoren der Enzyklika wurde es als geradezu sensationell herausgestellt, dass in einem päpstlichen Lehrschreiben Bezug genommen wird auf Intellektuelle, die sich dort bisher nicht fanden. Bemisst man dies an der für lehramtliche Schreiben übliche Praxis, so ist dies in der Tat bemerkenswert. Vielleicht darf dies ja als Zeichen für einen wirklichen geistigen Dialog mit der Gegenwart, mit ihren Hoffnungen und Nöten gelesen werden. Insbesondere der Name Theodor W. Adorno erregte Aufmerksamkeit. Diese Bezugnahme verwundert bei näherem Hinsehen nicht. Adornos Aufnahme eines radikalen Erbsündendenkens, das von einer totalen Verkehrung der ursprünglich guten Natur des Menschen ausgeht, teilt unter areligiösen Vorzeichen die Einschätzung einer totalen Verkehrung, einer absoluten Negativität. Dies ist immer wieder bemerkt worden: Nicht nur die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit ist säkular beerbt worden in der Behauptung einer egalitären Würde ausnahmslos aller Menschen, sondern auch das Thema der Sünde. Wenn es kein wahres Leben im falschen Leben geben kann, die absolute Negativität alles durchzieht, so gibt es auch keinen Fortschritt. Im Gegenteil droht das, was sich als Fortschritt begreift, angesichts der völlig neuartigen technologischen Möglichkeiten in umso größere Gewalt umzuschlagen.

Für wie abgeschlossen darf der Mensch die Vergangenheit halten?

Von Benedikt XVI. aufgegriffen findet sich bei Adorno der Sarkasmus, dass der eigentliche Fortschritt der Fortschritt von der „Steinschleuder zur Megabombe“ (Negative Dialektik, Gesammelte Schriften Bd. 6, Darmstadt 1998, 314) sei. Die inzwischen Wirklichkeit gewordene Megabombe, der zuvor bereits jede Idee von Menschlichkeit in Frage stellende Versuch, das jüdische Volk und unzählige andere Menschen allein aufgrund ihrer Ethnie, politischen Überzeugungen oder auch sexuellen Orientierung nach industriellen Maßstäben zu vernichten, lassen zu Recht fragen, was Fortschritt noch heißen mag. Der Fortschrittsoptimismus der Gegenwart hat zudem zu seiner Kehrseite eine Geschichtsvergessenheit, die sich auch nicht durch das wachsende museale Interesse des Zeitgenossen kaschieren lässt. Erinnerung kann das Vergangene so vergegenwärtigen, dass es als das Unabgegoltene im Raum steht. Nicht nur kann es keine Gewöhnung an das geben, was geschehen ist, sondern es ruft danach, nicht nur Vergangenheit sein zu wollen. Auf diese Problematik spielt die zweite Bezugnahme auf Adorno und dann im selben Atemzug auch auf Max Horkheimer an. Für wie abgeschlossen darf der Mensch die Vergangenheit, das moralisch betrachtet Unabgegoltene halten, so lautet die Frage. Walter Benjamin hatte diese Frage in seinen geschichtsphilosophischen Thesen aufgeworfen. Das Problem: Ist es dem Menschen verwehrt, mit der Vergangenheit einfach abzuschließen, verlangt die ins Jetzt zitierte Vergangenheit nach Gerechtigkeit, so überschreitet der Mensch die Grenze hin zur Theologie. Vermag er dies nicht, so droht die Verzweiflung. Benjamin ist in den Suizid gegangen. Ob er noch mit der Möglichkeit Gottes gerechnet hat, ist nicht zu entscheiden. Andere wie Jean Améry haben resigniert. Die sich an den Namen Gottes knüpfenden großen Versprechungen, die Erzählung von einer Heilsgeschichte sind nicht mehr übersetzbar.

Die monotheistischen Religionen im Geiste Abrahams haben nicht nur, aber eben auch für die Gerechtigkeitsfrage das Wort Erlösung geprägt. Sie mögen vielleicht nicht einmütig akzentuieren, was Erlösung heißt. Dass aber das vergangene Unrecht nicht einfach Unrecht bleiben könne, ist ihnen gemeinsam. Es macht auch den Geist der Neuzeit aus, an dieser Hoffnung verzweifelt zu sein, ihr – so sehr sie auch bleibend ersehnt sein mag – nicht mehr trauen zu können. Die Auferstehungs- und Rettungshoffnung hat eine Geschichte. Sie wurde in Israel hervorgebracht, wo sich die Frage stellte, was denn angesichts des Glaubens an den barmherzigen Gott mit den Toten sei, die Aber wie alles, was sich historisch zu Bewusstsein gebracht hat, gilt auch im Fall dieser Hoffnung: Es kann auch wieder verloren gehen. Adorno sprach davon, dass nur deshalb, weil die Verhungernden nach Brot schreien, noch lange kein Manna vom Himmel fällt. Ist die Hoffnung darauf, dass tatsächlich Manna vom Himmel fällt, unter dem Druck der Frage „Wo warst Du, Gott?“ vielleicht ermüdet?

Vieles spricht dafür, dass die Neuzeit nicht auf den Gestus zu reduzieren ist, den Aufstand gegen Gott zu proben und selbst sein zu wollen wie Gott. Die Gottlosigkeit der Neuzeit hat wesentlich mehr mit dem Vermissen Gottes angesichts der Abgründigkeit der Menschheitsgeschichte zu tun. Die Zusammenhänge sind zwar ambivalent: Dass erst Gott stirbt und dann die menschliche Würde mit Füßen getreten wird, hat im historischen Blick durchaus seine Wahrheit; vieles spricht dafür, dass in dem Moment, da eine primitive Rezeption sich Nietzsches bemächtigte, der unbändige Freiheitsdrang Nietzsches in eine Blut- und Bodenideologie umstürzte. Aber dass jedem überhaupt noch human denkenden Menschen die unvorstellbare Gewalt den Glauben an den gütigen und barmherzigen Gott zutiefst erschüttert, stimmt auch. Die Gottlosigkeit vieler Menschen guten Willens ist keine selbst gewählte, sondern eine erlittene Gottlosigkeit. Natürlich bleiben die Verbrechen menschliche Verbrechen. Aber ist darüber die Spannung zum Glauben an einen der Geschichte mächtigen, an einen allmächtigen Gott, der eingreifen könnte, zu verschweigen? Wer an diesem Glauben scheitert, dem versiegt das Verlangen nach Freiheit freilich noch nicht. Aber nicht jedes Verlangen kann auch gelebt werden.

Der Mensch ist unter der Tortur nur noch Körper und sonst nichts mehr

In diesem Jahr jährt sich zum dreißigsten Mal der Todestag Jean Amérys. Améry wusste, wovon er sprach, wenn er das „Freiheitsverlangen“ ein „konstituierendes Element unserer Existenz“ nannte (Autorität und Freiheit [1967], in: Aufsätze zur Philosophie, Werke 6, hg. von Gerhard Scheit, Stuttgart 2004, 443–468, 445). Nur dass dieses Verlangen eingekerkert ist in die Erfahrungen des Körpers, gleichsam somatisiert. Eindrücklich hat er beschrieben, was es bedeutet, der Tortur unterzogen zu werden. Ohne vergleichen zu können, was es für die Einzelnen heißt, gilt doch: „Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das einem Menschen widerfahren kann“ (Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, 2. Aufl., Stuttgart 1980, 48).

Améry ist in Belgien durch die Gestapo gefoltert worden, seine Schilderung – das „Wie des Schmerzes“ entzieht sich „der sprachlichen Kommunikation“ (63) – lässt den Atem stocken. Der Mensch ist unter der Tortur „nur noch Körper und sonst nichts mehr“ (64), „heimisch werden in der Welt“ wird zur Unmöglichkeit: „Dass der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht“ (73). Die Begriffe verlieren jede abstrakte Leere, ihre Wahrheit besteht in ihrer Konkretheit, Fleischlichkeit. Sie kommen aus fleischlicher Erfahrung. Améry spricht etwa von der „physischen Kompression von Menschenmassen in engstem Raum“, und fährt fort: „Im Ghetto bekam der allzuoft zitierte Satz Sartres ,l’enfer, c’est les autres (die Hölle, ,das sind die andern‘) einen ganz konkreten, im Fleische verspürten Sinn. Die Opfer wurden nicht nur vom Unterdrücker zur ,Serie‘ gemacht, sie wurden physisch, da sie einander ständig sahen, rochen, berührten, entindividualisiert und zur opaken fleischlichen Masse gemacht“ (Im Warteraum des Todes, in: Widersprüche, Stuttgart 1971, 213–233, 223).

Améry wurde am 31. Oktober 1912 in Wien geboren, sein ursprünglicher Name war Hans Mayer. Er war das Kind assimilierter Juden. 1938 emigrierte er nach Belgien. Von dort wurde er nach Gurs deportiert, konnte dann 1941 zunächst flüchten und sich der Widerstandsbewegung anschließen, bis er dann während einer Aktion, auf der antinazistische Flugblätter verteilt wurden, eben in die Hände der Gestapo kam. Améry hat Auschwitz und andere Lager überlebt, und er hat sich gequält, mit den Erinnerungen und damit, überlebt zu haben. Die Gottesfrage zu stellen, gar ein oder womöglich gar das jüdische Gebet schlechthin anzustimmen, das Sch’ma Israel, hat er für sich abgelehnt. Er erinnert sich an eine Aufführung von Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“: „Als von Posaunenklängen begleitet, der Chor anstimmte ,Sch’ma Israel‘, wurde mein Begleiter kalkbleich, und Schweißperlen traten auf seine Stirn. Mein Herz pochte nicht schneller, aber ich fühlte mich bedürftiger als der Kamerad, den das unter Posaunenstößen gesungene Judengebet erschüttert hatte. Jude sein, dachte ich mir nachher, ich kann es nicht in Ergriffenheit, nur in Angst und Zorn, wenn Angst sich, um Würde zu erlangen, in Zorn verwandelt. ,Höre Israel‘ geht mich nichts an. Nur ein ,Höre Welt‘ möchte zornig aus mir dringen. So will es die sechsstellige Nummer auf meinem Unterarm“ (Jenseits von Schuld und Sühne, 154f.).

Amérys Selbstverständnis von Judesein musste ohne Hoffnung auf einen Rettergott auskommen

Das Sch’ma Israel ist in Auschwitz angestimmt worden, in höchster Todesnot, aber es ist darüber auch verstummt. Das „Überm Sternenzelt muss ein guter Vater wohnen“ glaubt der Atheist oder Agnostiker, als der sich Améry ausdrücklich bezeichnet, nicht: Er glaube „es so gründlich nicht“, dass er mit „approximativer Wahrscheinlichkeit zu sagen wage: Aber nein, er wohnt dort nicht“ (Atheismus ohne Provokation, in: Aufsätze zur Philosophie, 469–482, 472).

Deutlich wendet sich Améry aber auch gegen eine „Selbstsäkularisierung des Christentums“ (475), das bereits agnostizistisch durchsetzt ist. Im Blick hatte er eine Gott-ist-tot-Theologie, die allerdings so, wie Améry ihr etwa bei Dorothee Sölle begegnete, kaum noch aktuell ist. Vielleicht würde Améry sich heute gegen die vagabundierenden Spielarten eines religiösen Bewussteins wenden, dem das beschworene Göttliche seltsam unbestimmt bleibt. Trotz der relativen Aufgeregtheit, mit der gegenwärtig das Atheismusthema die Öffentlichkeit erobert, könnte Améry Recht haben: „Der aggressive Atheismus kann unbesorgt abdanken, da der Glaube schon abgedankt hat“ (475). Améry wusste um die entschiedene Bestimmtheit, die sich hinter dem Sch’ma Israel verbarg, nämlich ein Menschen zugewandter Gott, der entsetzlich vermisst wird und von dem dennoch Rettung erhofft wird. Dieser Gott ist ein Gott, der der Geschichte mächtig ist. Bestreitet man diesem Gott seine Mächtigkeit, so löst sich die Theologie aus ihren Ursprüngen. Sein eigenes Selbstverständnis von Judesein musste ohne diese Hoffnung auf einen Rettergott auskommen. Der Aufstand des Menschen – Améry zitiert Ernst Bloch – um „das Recht des Menschen, kein Hund zu sein“(476), kann nach dem Ersterben jeglicher Hoffnung, auch der Gotteshoffnung, in dieser Logik nur noch allein, autonom versucht werden.

Nicht dem Fatalismus oder gar dem Recht des Stärkeren huldigen

Améry war sich sehr im Klaren darüber, wie gefährlich der „prometheische Elan“ – er rechnet ihn zu den großen „Triebkräften der modernen Zivilisation“ (Gewalt und Gefahr der Utopie, in: Aufsätze zur Philosophie, 483–510, 496) – in dem Moment wird, da er die religiöse Heilserwartung nachreligiös nun selbst umzusetzen sucht. Die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts mögen unterschiedliche Wurzeln haben, in einem aber waren sie sich einig: Dass die künftige Gesellschaft jeden Preis verlangen dürfe. Die Folgen waren entsetzlich. Anderseits muss das Risiko der Veränderung (496), soll nicht dem Fatalismus oder gar offen dem Recht der Stärkeren gehuldigt werden, eingegangen werden. Die Frage bleibt, ob nachreligiös autonom die moralischen Maßstäbe zu gewinnen und einzuklagen sind, die dieses Risiko kontrollieren. Améry wusste darum, dass „Rigoristen“ immer „gefährdet“ sind: „die Starre des ,aufrechten Ganges‘ kann unversehens zum rigor mortis werden“ (Weiterleben – aber wie? Das Prinzip Hoffnung in: Aufsätze zur Philosophie, 483–525, 515). Aber was bleibt, als das Risiko des Aufbruchs zu wagen, wenn alles andere doch nur die Befestigung des Status quo bedeutete?

Améry hat keinen Aufklärungsoptimismus gepredigt, aber zurecht darauf bestanden, dass „der menschenfreundliche Optimismus der Aufklärung mit den statischen Werten von Freiheit, Vernunft, Gerechtigkeit unsere einzige Chance“ ist, Geschichte zu machen und mit ihr das recht eigentlich humane Geschäft: die Sinngebung des Sinnlosen zu betreiben.“ (Aufklärung als Philosophia perennis, in: Aufsätze zur Philosophie [1977], 549–559, 557). Und er hat auch das Kriterium benannt, auf das sich moralisch sensible Menschen, seien sie nun religiös oder nichtreligiös, gemeinsam verständigen können, das des Seinsollens unversehrter Freiheit. So mancher freiheitsvergessene Diskurs der Gegenwart hat sich vielleicht nur heimlich aus der Wirklichkeit verabschiedet. Améry schreibt: „Was Freiheit heißt, weiß jeder, der je in Unfreiheit gelebt hat. Dass Gleichheit kein Mythos ist, davon kann ein Lied singen, wer Opfer der Repression war“ (559).

Die Studie über den Freitod

Jean Améry nahm sich am 17. Oktober 1978 das Leben. Auf seinem Grabstein stehen seine Lebensdaten und eine Nummer: 172364. Ist dies die existentielle Antwort auf Adornos „Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen“ (Negative Dialektik, Frankfurt 1977, 355)? Niemand weiß, ob dies Amérys letztgültige Antwort auf seine Definition der jüdischen Identität nach Auschwitz war, nur noch „ein Toter auf Urlaub“ zu sein, „ein zu Ermordender, der nur durch Zufall nicht dort war, wohin er rechtens gehörte“ (Jenseits von Schuld und Sühne, 135). Sein Leben ist ihm offensichtlich immer mehr zur Last, zur Bedrückung geworden. Werkbiographisch spricht vieles für diese Mutmaßung. Das „Freiheitsverlangen“ sondiert jedenfalls immer mehr die radikalste Möglichkeit menschlicher Existenz, die des Suizids.

Améry hatte zwei Jahre vor seinem Tod seine Studie „Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod“ vorgelegt. Er hatte die unendliche Einsamkeit beschrieben, die den erfassen muss, der sich dieser Möglichkeit stellt und sie langsam, aber dann immer sicherer erfasst. Doch nicht nur die absolute Vereinsamung, die damit verbundene Not wird geschildert, sondern auch die Erfahrung absoluter Absurdität: „Was erfahren werden kann, ist nur die Absurdität von Leben und Sterben und – wo der Freitod gewählt wird – ein absurder Freiheitsrausch“ (154). Im gleichen Atemzug kommt auch wieder die KZ-Erfahrung zur Sprache, die grundsätzlich mit dem Menschenschicksal gegebene biologische Erniedrigung – das Wissen um den Tod, der Tod ist unerträglich – wird zusammengebunden mit der Erfahrung, den Schergen nur noch ausgeliefert zu sein. Die letzte Anmaßung des Lebens bestehe darin, schreibt Améry, erkennen zu müssen, dass „das Ganze das Unwahre“ sei, eine Erkenntnis, die „nichts taugt im Leben“. Aber eben diese Erkenntnis müsse gewagt werden, da der Suizidär, klammerte er sich nun noch an irgendetwas wie der KZ-Häftling, „der es nicht wagt, an den Draht zu laufen, die Abendsuppe möchte er noch verschlingen und das heiße Eichelgebräu am Morgen und wieder eine Rübensuppe mittags (...)“ Es gelte, „einem Leben ohne Würde, Menschlichkeit und Freiheit zu entrinnen.“ So werde der „Tod zum Leben“. Es ist dies freilich ein Tod, dem keine Erwartung mehr vorausgeht, keine auf Erlösung. Das Nichtmehrsein ist die Erlösung.

An seine Frau Maria schreibt Améry zum Abschied: „Ich bin auf dem Weg ins Freie. Es ist nicht leicht, aber dennoch die Erlösung. Denke, wenn Du kannst, nicht mit Groll an mich und nicht mit allzu qualvollem Schmerz. Du weißt alles, was ich Dir zu sagen habe: dass ich Dich unendlich liebte.“ Und der Brief endet: „Bitte, bitte, sei mir nicht gram – jetzt ist mir ja, als ahnte ich, Du würdest am Ende doch verzeihen. Ein Schimmer, eine bloße Ahnung von Seelenfrieden“ (zit. nach Irene Heidelberger-Leonhard, Jean Améry. Revolte in der Resignation, Stuttgart 2004, 351).

Der sich im Glauben an Gott festmachende Mensch wird seine Hoffnung nicht unterdrücken können und wollen. Aber es gilt doch auch, dass kein noch so hohes Wort, auch nicht das Wort Hoffnung, nach diesem Schrecken und den anderen Schrecken der Menschheitsgeschichte unverwandelt wiederkehren darf.

Dies ist denen geschuldet, denen Unvorstellbares zugefügt wurde und die unter dem Skandal des Todes – Améry hat den Tod als „das vollkommene und unaufhebbare Debakel“ (Über das Altern. Revolte und Resignation, 27) bezeichnet – leiden. Der Glaube beruft sich darauf, dass die Unbedingtheit der Liebe Gottes offenbar geworden ist. Dies ist freilich philosophisch strittig und durch die Last geschichtlicher Erfahrungen zutiefst angefragt. Deshalb bleibt dieser Glaube gewagter Glaube, verpflichtet sich indessen darauf, für die anderen zu hoffen.

Es ist für die zu hoffen, stellvertretend, die selbst nicht mehr hoffen können und konnten. Nicht die triumphalistische Geste entspricht den gläubig Hoffenden, sondern die Trauer darüber, dass unzähligen Menschen angesichts des Erlittenen die mögliche Hoffnung abhanden kam. Eine humane Sprache der Hoffnung muss deshalb den Schrecken in sich aufnehmen. Auch ist vernünftig, sich der Hoffnung des Glaubens zu überantworten. Aber ob existentiell lebbar ist, was der Reflexion möglich ist, steht auf einem anderen Blatt. Améry war ein Moralist, der für die Idee der Humanität eingestanden ist, auch wenn er zutiefst resigniert war.

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