Nicht erst der Wahlsieg der radikalen Hamas am 25. Januar 2006 hat die tiefe Spaltung der palästinensischen Gesellschaft offenbar gemacht hat. Bereits mit dem Tod Yassir Arafats am 11. November 2004 zerbrach das von ihm über Jahre forcierte unipolare politische System. Weder war es dem neuen Führer der Fatah, Mahmoud Abbas, noch dem Chef der Hamas, Khaled Mashal, möglich, eine ähnliche Machtposition innerhalb der Palästinenser zu erreichen. Heute muss außerdem die Person Yassir Arafats weit kritischer mit Blick auf die Freiheit der palästinensischen Christen bewertet werden, als das noch zu Lebzeiten der Fall war. Während im Frühjahr 2003 der Irakkrieg von den Problemen der Kirchen im Nahen Osten ablenkte, blieb die Situation im Heiligen Land hoffnungslos. Das damalige Drama um die Geburtskirche von Bethlehem (vgl. HK, Juni 2002, 281ff.) war in Wirklichkeit mehr als der aussichtslose Kampf palästinensischer Freiheitskämpfer: Bei allem arabischen Nationaldenken über die Religionsgrenzen hinweg wollten die muslimischen Kämpfer in der Geburtskirche letztlich nicht nur die israelische Besatzungsmacht schwächen, sondern auch die christliche Präsenz.
Arafat geriet damals zusätzlich unter Druck, als im Januar 2003 bekannt wurde, dass die Autonomiebehörde an einer Verfassung für den künftigen Staat Palästina arbeitete. In ihr sollte Jerusalem als Hauptstadt Palästinas ebenso verkündet werden wie – so ist zumindest dem ersten Entwurf zu entnehmen – der Islam als Staatsreligion. Zwar war eine Toleranzklausel gegenüber anderen Religionen vorgesehen, aber die christliche Minderheit in den palästinensischen Gebieten könnte einem verstärkten Druck ausgesetzt werden. Im Hintergrund versuchten die Patriarchen der christlichen Kirchen auf die palästinensische Führung einzuwirken, auch der Heilige Stuhl schaltete sich auf diplomatischer Ebene ein. Mit Erfolg, denn der Verfassungsentwurf wurde ohne jede weitere Erklärung bis heute nicht weiter verfolgt. Die kaum in der Öffentlichkeit geführte Diskussion um die Verfassung zeigt aber, wie dringlich sie für das palästinensische Volk wäre, um möglichst ein laizistisches Staatssystem zu etablieren und den Status von Jerusalem so zu umschreiben, dass eine friedliche Koexistenz möglich gemacht wird. Eine Erinnerung an das Abkommen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Palästinensischen Autonomiebehörde (15. Februar 2000) scheint mehr als notwendig, insbesondere um die christlichen und damit auch die bei einer solchen Verfassungsidee zutiefst gefährdeten katholischen Gemeinden zu schützen.
Nach dem Wahlsieg der Hamas
Der eigentliche Paradigmenwechsel für die Situation im Heiligen Land ist bis heute der Wahlsieg der Hamas: Erstmals in einer freien Wahl hatten Islamisten gewonnen. Dennoch war man von der nationalen Einheit weit entfernt. Vor allem drohte der Wahlsieg die Bewegungsfreiheit der christlichen Minderheiten einzuschränken, denn die Einführung eines islamistischen Gottesstaates ist fester Bestandteil des politischen Manifests der Hamas. Zwar kann man dort auch etwas von Respekt und Schutz anderer religiöser Minderheiten lesen, aber die öffentliche Propaganda konzentriert sich auf die Ausrufung eines Gottesstaates. Die Hamas kann folgerichtig als regionale Islamisierungsbewegung charakterisiert werden, die von Nachbarstaaten mit starken islamisierenden Tendenzen (beispielsweise bei den Muslimbruderschaften in Syrien, Jordanien und Ägypten) besonders aufmerksam beobachtet wird. Dabei hielten sich schon nach dem Wahlsieg vor zwei Jahren die Kirchenführer im Heiligen Land auffallend zurück. Das Oberhaupt der Lateinischen Christen, Patriarch Michel Sabbah, betonte zwar die Gefahr eines islamisch dominierten Staates, äußerte sich aber kaum, weil er davon ausgeht, dass der Handlungsspielraum der christlich-katholischen Minderheit so gesichert sei. Tatsächlich ist von kritischen Tönen gegenüber der Hamas kaum etwas von Kirchenseite zu hören, selbst in der gemeinsamen Erklärung aller christlichen Kirchenführer des Heiligen Landes vom 31. Januar 2006 herrscht Zurückhaltung.
Man gratuliere dem palästinensischen Volk für „seine demokratische Leistung in den jüngsten Parlamentswahlen (...) Wir rufen das palästinensische Volk dazu auf, weiterhin seinen Beitrag zu leisten, um die eigene Geschichte zu schreiben, was auch immer die inneren oder äußeren Schwierigkeiten oder Hindernisse sein mögen. Wir beten für alle, die in dieser schwierigen Zeit regieren werden, und wir bieten ihnen unsere Mitarbeit für das öffentliche Wohl und die nationalen, in Einklang mit der Sache der Gerechtigkeit und des Friedens stehenden Bestrebungen der Palästinenser auf einem gewaltlosen Weg an, sei es hinsichtlich der Auslandsbeziehungen oder der Rechtsstaatlichkeit unter Wahrung der vollen Religionsfreiheit, vor allem im Sozialbereich sowie im Bildungswesen.“ Nach Aussage von Franziskanerkustos Pierbattista Pizzaballa wolle die Hamas die Christen respektieren. Man habe ihm versichert, dass das islamische Gesetz nicht eingeführt werde. Allerdings lassen entsprechende Äußerungen von führenden Hamas-Mitgliedern eine andere Interpretation zu. Vor allem konnten vier der sechs Sitze in Ostjerusalem bei der Wahl von der Hamas gewonnen werden. „Unser Volk hat bei dieser Wahl bewiesen, dass die Stadt islamisch ist“, sagte damals der neu gewählte Hamas-Abgeordnete Ahmed Aton. Die Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ nahm nach der Wahl die internationale Staatengemeinschaft in die Pflicht, die ihre Verhandlungsstrategie ändern müsse: „Die veränderte Lage in Nahost wirft viele Fragen auf, die die Welt unvorbereitet treffen“, so ein nicht gezeichneter Kommentar, der sogar von der aufkeimenden Gefahr eines Bürgerkrieges sprach.
Als die Hamas-Führung unter Regierungschef Ismael Hanija als einzigen Christen Tanas Aita mit einem Ministeramt betraute, sah das hoffnungsvoll aus, denn Aita sollte Tourismusminister werden. Wenige Tage nach seiner Nominierung verzichtete Aita am 26. März 2006 auf das Amt. Die Tragik: Geschäftspartner aus Europa hätten ihn gewarnt, die Aufgabe anzunehmen und damit gedroht, keine Reisegruppen mehr in sein Bethlehemer Souvenirgeschäft zu führen. Benedikt XVI. nutzte seine erste Osterbotschaft am 16. April 2006, zu einem Ende des Blutvergießens im Nahen Osten aufzurufen. Seine Stimme blieb unerhört, denn im Juni begann Israel den bewaffneten Kampf gegen die Hamas. Zusätzlich eskalierten die bewaffneten Konflikte zwischen Fatah und Hamas. Außerdem erschwerte die vor allem westliche und israelische Isolationspolitik gegenüber der Hamas die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und humanitären Grundversorgung. Immer wieder war diskutiert worden, wie viel internationale Isolation gegenüber der Hamas notwendig sei. Damals hatte das Nahostquartett von USA, EU, UNO und Russland die drei von der Hamas bis heute nicht akzeptierten Hauptbedingungen aufgestellt: Vollkommener Gewaltverzicht, Anerkennung des Existenzrechts Israels und Anerkennung aller zwischen der PLO und Israel geschlossenen Verträge und Abkommen. Weil die Hamas nicht zum Einlenken bereit war, wurde jede mögliche Verhandlung mit den Palästinensern in Frage gestellt.
Eine Regierung der nationalen Einheit
Die Entführungen israelischer Soldaten durch die Hizbollah im Südlibanon führten zu einer militärischen Eskalation am 12. Juli, die in einen offenen Krieg zwischen Israel und der Hizbollah mündete. Die Folge war ein Erlahmen des Gemeindelebens, da zahlreiche Raketen der Hizbollah vor allem den Norden Israels und damit viele katholische Pfarreien getroffen haben. Erst die UNO-Resolution 1701 vom 11. August 2006 sorgte für einen – nach wie vor fragilen – Waffenstillstand zwischen Hizbollah und Israel. Bemerkenswert ist die innerisraelische Auseinandersetzung um den Libanonkonflikt. Am 30. April 2007 kam unter Vorsitz des ehemaligen israelischen Verfassungsrichters Eliahu Winograd die in Politik und Medien nach ihm benannte Kommission zu dem vorläufigen Ergebnis, dass der Libanonkrieg ohne klaren Plan begonnen wurde und dass bei den Entscheidungen die geringen Erfolgschancen nicht bedacht wurden. Insbesondere Premierminister Ehud Olmert und Verteidigungsminister Amir Peretz hätten Fehlentscheidungen getroffen, die auf unzureichenden Informationen von Oberbefehlshaber Dan Halutz basierten. Trotz Massendemonstrationen und Rücktrittsforderungen gab es kaum nennenswerte weitere Konsequenzen, zumal insbesondere Olmert heute als starker Mann der israelischen Regierung im Kampf gegen die Hamas und dem Verhandlungswillen mit der Fatah gesehen wird.
Bewegung innerhalb der palästinensischen Konfliktlinien war erst spürbar, als der saudische König Abdallah eine Verhandlungsrolle übernahm und am 8. Februar 2007 Fatah und Hamas zum so genannten Mekka-Abkommen bewegen konnte. Seitdem sollten Dialog und Partnerschaft anstelle von Gewalt das zentrale Mittel der Auseinandersetzung sein. Auf dieser Grundlage wurde am 17. März 2007 erneut unter Hanija die Regierung der nationalen Einheit gebildet, wobei die Hamas mit zehn von 24 Ministern nicht mehr die Mehrheit im Kabinett hatte. Die Kirchenführer in Nahost und der Vatikan reagierten mit Erleichterung. Vor allem das Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche, Theophilos III. und Patriarch Sabbah appellierten an die internationale Staatengemeinschaft, die Isolation der Palästinenser und der Hamas aufgrund der sich positiv entwickelnden politischen Lage und humanitären Situation aufzuheben. Benedikt XVI. ermutigte Palästinenserpräsident Abbas während eines Gesprächs am 24. April, den eingeschlagenen Weg zu einem möglichen Frieden einzuhalten.
Kriminelle Übergriffe und Raubzüge
Aber es sollte anders kommen, denn schon im Mai begannen gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas. Gleichzeitig griff Israel verstärkt den Gazastreifen an. Vor allem die Caritas, letzter Garant für eine grundlegende Krankenversorgung aller Bevölkerungsteile im Gazastreifen, musste ihre Arbeit aufgrund der eskalierenden Sicherheitslage im Juni einstellen. Während die Hamas gewaltsam Macht und Regierungsgeschäfte im Gazastreifen übernahm, ernannte Abbas am 17. Juni 2007 eine Notstandsregierung ohne Hamas-Mitglieder, der auch zwei Christen angehörten und die von Ministerpräsident Salam Fayyad geleitet wird. Seitdem hat sich insbesondere für die wenigen Christen im Gazastreifen die Situation dramatisch verschlechtert. Es sind weniger islamistische Übergriffe auf die wenigen Kirchen, als vielmehr kriminell begründete Überfälle und Raubzüge. Manuel Musallam, katholischer Pfarrer von Gaza-Stadt setzt in dieser Situation auf den Dialog mit der Hamas. „Natürlich kann ich deren politisches Programm nicht mittragen, aber durch Dialog müssen wir es schaffen, den größtmöglichen Freiraum zu erlangen und systematische Übergriffe auf die wenigen Christen zu verhindern“.
Tatsächlich lehnt auch eine große Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung die gewaltsame Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen ab. Eine Anfang September 2007 im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah veröffentlichte Meinungsumfrage zeigt deutliche Werte: 73 Prozent der Palästinenser lehnen die Machtübernahme ab, nur 22 Prozent begrüßen sie – davon 31 Prozent im Gazastreifen und nur 17 Prozent in der Westbank. Nur noch 30 Prozent der Palästinenser halten die Regierung von Ismael Hanija in Gaza für rechtmäßig, allerdings auch nur 38 Prozent die Übergangsregierung unter Salam Fayyad. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung sieht als Hauptaufgabe der Fayyad-Regierung die Durchsetzung von Rechtssicherheit, gefolgt von Korruptionsbekämpfung und Reformen. 18 Prozent sehen als Hauptaufgabe die Wiederbelebung des Friedensprozesses. Mit Blick auf die innerpalästinensische Spaltung unterstützen 27 Prozent die Haltung der Hamas, Gespräche zwischen beiden Gruppen vorbehaltlos wieder aufzunehmen. 46 Prozent sprechen sich für die Position der Fatah aus, einen Dialog zwischen Hamas und Fatah an die Rückgabe der Kontrolle über die Sicherheitskräfte in Gaza an die Palästinensische Autonomiebehörde und Präsident Mahmoud Abbas zu koppeln. Die Erwartung zu einer Wiederannäherung der Westbank und des Gazastreifens sind geteilt: Während rund die Hälfte (48 Prozent) eine Vereinigung der Regierungen beider Gebiete in den nächsten zwei Jahren vermutet, denken 22 Prozent, die Trennung bleibe permanent und 20 Prozent erwarten eine Vereinigung zu einem späteren Zeitpunkt.
Darüber hinaus wird eine baldige Einigung in Gaza mit 59 Prozent für wahrscheinlicher gehalten als in der Westbank mit 42 Prozent. Innerhalb der palästinensischen Bevölkerung stimmen 57 Prozent der Menschen einer Zwei-Staat-Lösung zwischen Israel und Palästina zu, vorausgesetzt alle offenen Fragen werden vorher geklärt. 46 Prozent würden einer Lösung zustimmen, die den Grenzverlauf so modifiziert, dass die Siedlungsblocks in der Westbank zu Israel geschlagen und dafür ein entsprechender Gebietstausch mit den Palästinensern vorgenommen würde.
Exodus der Christen
Vor diesem Hintergrund wurde – auch von christlicher Seite – die Konferenz von Annapolis am 27. November 2007 mit Spannung erwartet. Die internationale Staatengemeinschaft wollte Abbas Rückendeckung geben, um dem von ihm beschrittenen Weg eines moderaten palästinensischen Staates in der Westbank Vertrauen zu schenken. Man hoffte in Annapolis und bis heute, dass durch dieses Vertrauen Abbas auch bei Zeiten den Gazastreifen zurückgewinnen könne. Tatsächlich hat sich durch diese so genannte „Westbank First“-Strategie die Lage der Bevölkerung und damit auch der christlichen Minderheit, spürbar verbessert. Über die Ergebnisse von Annapolis mag man streiten, wichtig war, dass es zu einer knappen Grundsatzerklärung zwischen Abbas und Olmert kam. Beide Politiker konnten in ihrer jeweiligen Bevölkerung das Gesicht wahren; vor allem Abbas erhielt zwar eine Atempause, steht aber gleichzeitig unter hohem Druck, einige der Grundlagen einzuhalten. Dazu gehört insbesondere die Befriedung einander verfeindeter Milizen in der Westbank und die Verhinderung von Anschlägen in Israel. Letzteres Ziel ist mit dem Anschlag auf eine jüdische Religionsschule am 6. März 2008 wieder in weite Ferne gerückt.
Die christliche Minderheit in den Palästinensergebieten hat seit Jahren zu einem unaufhaltbaren Exodus angesetzt, denn wer die finanziellen Mittel und verwandtschaftlichen Möglichkeiten hat, versucht sich ins Ausland abzusetzen. Dabei ist der palästinensische Staat heute ohne das christliche Engagement kaum denkbar. Mehr als 30 Prozent der Schulen und rund 40 Prozent der Krankenhaus- und Sozialeinrichtungen in Palästina werden durch Christen betrieben. Der palästinensische Staat ist mehr denn je aufgerufen, dieses Potenzial nicht zu unterschätzen, da er sonst Gefahr läuft, auch die letzten Elemente einer trotz aller Probleme funktionierenden sozialen Infrastruktur aufzugeben. In seinem letzten Hirtenbrief richtete Patriarch Sabbah am 1. März 2008 einen nahezu dramatischen Appell an die Christen, das Land nicht zu verlassen. „Menschen emigrieren, um Ruhe zu finden und ihre und die Zukunft ihrer Kinder zu sichern. Unsererseits laden wir unsere Gläubigen ein, ihre Berufung als Christen hier im Heiligen Land anzunehmen, und nicht wegzugehen. Wir machen ihnen dabei keine Illusionen. Wir versprechen ihnen kein leichtes, sondern ein schwieriges Leben, und das für heute und für morgen. Manche, wenn auch nur eine kleine Anzahl, werden sich dieser Tatsache bewusst. Sie nehmen ihre Berufung an und akzeptieren es, hierzubleiben und die Vorteile aufzuopfern, die sie durch das Auswandern erlangen könnten“. Gleichzeitig ging Sabbah gewohnt kritisch mit den Konfliktparteien in Nahost um, wobei er betont deutlich auch die internationale Staatengemeinschaft in die Pflicht nahm. Weil die Christen so wenige seien, werde ihnen häufig Mitleid ausgedrückt. „Die wahre Unterdrückung aber, deren Opfer wir sind, nämlich die politischen Machenschaften in unserer Region, wird nicht erwähnt. Für uns aber wäre das Ende des israelischpalästinensischen Konflikts das einzige, was uns erlauben würde, in Frieden zu leben und im Land zu bleiben, und das ist nichts Unmögliches, wie man es uns glauben machen möchte.“
Liebe müsse aber auch Vergebung bedeuten. „Vergeben heißt, sein Herz von der Bitterkeit, dem Hass und dem Feuer der Rache zu reinigen. Es bedeutet nicht unbedingt, auf seine Rechte zu verzichten, insbesondere wenn es um die Rechte der Gemeinschaft wie Freiheit, Land oder Unabhängigkeit geht. Dies sind Fragen, in denen der Einzelne kein Entscheidungsrecht hat, denn es sind erstens Rechte, die eine Gabe Gottes sind, und die wir demnach bewahren müssen, und zweitens sind das gemeinsame Rechte, und der Christ kann nicht seine Gemeinschaft verraten, wenn sie ihre legitimen Rechte einfordert. Im Gegenteil! Er unterstützt sie in der Verteidigung ihrer Rechte und den notwendigen Bemühungen, um diese wiederzuerlangen.“ Es verstehe sich von selbst, dass die Berufung des Christen nicht darin liege, in einen Kampf mit der Gesellschaft einzutreten, oder angesichts der Ungerechtigkeiten oder verschiedenen Formen der Unterdrückung zu resignieren. Andererseits sei es dem Christen auch nicht erlaubt, sich an den Rand der Gesellschaft zu stellen. Wie alle Bewohner des Landes, Palästinenser und Israelis, seien die palästinensischen und israelischen Christen Teil des Konfliktes: „Unter keinerlei Vorwand können sie sich auf eine Zuschauerrolle beschränken, während andere den Preis für die Freiheit zahlen und die damit verbundenen Opfer auf sich nehmen. Zuschauer bleiben bedeutet, am Rande stehen, den Männern und Frauen ihres Volkes fremd bleiben, was nicht der Berufung des Christen entspricht“.
Es bleibt schwierig, statistisch sicheres Material über den christlichen Bevölkerungsanteil im Heiligen Land zu erhalten. Die letzten aktuellen Zahlen des Lateinischen Patriarchats gehen auf das Jahr 2001 zurück. Von den 7,1 Millionen Einwohnern Israels sind demnach knapp 1,9 Prozent Christen, was 119 000 Menschen ausmacht, die sich wie folgt aufteilen: Griechisch-katholische: 60 000, Orthodoxe: 35 000, Lateiner: 12 000, Maroniten: 9000 und rund 3000 Protestanten. Der christliche Bevölkerungsanteil in den palästinensischen Autonomiegebieten liegt bei 2 Prozent (das sind rund 47 500 Christen): Griechisch-orthodox: 24 000, Lateiner: 16 000, Griechisch-katholische: 3000, Protestanten: 2100, Syrer und Armenier: 1400, Kopten, Äthiopier, Maroniten: 1000. Ein besonderes Problem in den Statistiken bildet Jerusalem. Eine israelische Studie kommt zu dem Schluss, dass 1944 29 350 Christen in Jerusalem gelebt haben, heute sind es nach vorsichtigen Schätzungen 11 500 (Lateiner: 4000, Griechischkatholische und weitere katholische Konfessionen: 3400, Griechisch-orthodoxe: 3400, Protestanten: 700) und bereits vor dem Sechstagekrieg waren es nur noch 14 000 Christen. Insgesamt leben also westlich des Jordans knapp 178 000 Christen, wobei die lokale Verteilung höchst unterschiedlich ist. Bleibt Bethlehem mit 50 000 Einwohnern und 11 000 Christen eine Stadt, in der die christliche Präsenz spürbar ist, sind die 1000 Christen in Gaza mit über einer Million Einwohnern eine verschwindend geringe Minderheit, die kaum das öffentliche Leben prägt.
Ein neuer lateinischer Patriarch
Um diese kleine Herde hat sich Patriarch Sabbah in seiner 20-jährigen Amtszeit gekümmert. Am 19. März ist er 75 Jahre geworden und hat seinen Rücktritt eingereicht. Bereits am 8. September 2005 hatte Benedikt XVI. den bisherigen Erzbischof von Tunis, Fouad Twal, zum Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge ernannt. Mit Sabbah tritt ein streitbarer aber ehrlicher Brückenbauer ab. Noch seine Weihnachtsbotschaft hatte eine heftige innerisraelische Kontroverse ausgelöst, weil er vor dem Entstehen ausschließlich religiös begründeter Staaten in der Region gewarnt hatte. Vielen Politikern in Israel, aber auch manchmal dem Vatikan war Sabbah zu politisch motiviert. „Er soll mehr Pastor als Politiker sein“, wird aus dem früheren israelischen Religionsministerium über Sabbah verbreitet. Seine Hirtenbriefe verfehlten ihre Wirkung nicht. Dennoch blieb das Verhältnis zwischen den Patriarchen und den Nuntien in der Folge nie spannungsfrei. Sabbah, dem Mann des unauffälligen Auftritts aber der klaren Worte ging es vor allem um die Menschen. Sein Lebensmotto und seine Lebenserfahrung lassen sich auf den Punkt bringen: Hoffen wider alle Hoffnungslosigkeit.
Hoffnung auf Frieden
Diesem Motto sieht sich auch Twal verpflichtet. 1940 im jordanischen Madaba geboren, machte er sich zunächst als Mitarbeiter der Nuntiatur in Bonn einen Namen. Von 1992 bis 2005 war er Erzbischof von Tunis. Er gilt ebenfalls als Mann der klaren Worte, der die Erfahrungen im diplomatischen Dienst mit pastoralem Wirken zu verbinden gelernt hat. Vor allem setzt er auf Verhandlungen mit der Hamas, die nicht – so sagte er im vergangenen Sommer – marginalisiert werden dürfe. Stattdessen müsse man ihr helfen, „ein gemäßigtes Ufer zu erreichen“. Man müsse auch die Erfolge der Hamas zur Kenntnis nehmen: „Dank der Hamas kann man sehen, dass die Zeit des Chaos vorbei ist. Die Bewegung geht mit eiserner Disziplin gegen Kriminalität vor“. In den Palästinensergebieten gebe es keine Fundamentalismen oder eine gegen Christen gerichtete Politik.
Noch ist es zu früh, seine politischen Positionen zu bewerten, aber schon eines ist jetzt sicher: Twal wird – wie sein Vorgänger – die Stimme seines christlichen Volkes sein. Dabei wird er dann auch alle Hände voll zu tun haben, denn die katholische Kirche im Heiligen Land harrt noch immer der Umsetzung der Verträge zwischen Israel und dem Heiligen Stuhl aus den Jahren 1993 und 1997. Folgeabkommen und die Klärung strittiger Grundstücksfragen, Besteuerung und weitere wirtschaftliche Fragen sollten seit 1997 geklärt sein. Seitdem hat sich ein lähmender Prozess ergeben, bei dem sich Israel schwerer tut als Rom. Der Besuch von Israels Staatspräsident Shimon Peres am 6. September 2007 beim Papst gab zunächst die berechtigte Hoffnung, dass Benedikt XVI. möglicherweise schon nach Ostern diesen Jahres ins Heilige Land reisen könnte. Allerdings melden sich viel deutlicher die Skeptiker zu Wort, ob denn der Papst überhaupt nach Israel reisen könne, solange die Verhandlungen zwischen Israel und dem Heiligen Stuhl so schleppend vorangingen. Müsse nicht erst ein Verhandlungsabschluss erreicht sein, bevor der Papst in den Nahen Osten reise? Nach wie vor ist unklar, wie die Gespräche ausgehen, weshalb es einige Diplomaten nicht wundern würde, wenn der Papst sich selbst auf den Weg macht und den Verhandlungen vor Ort solche Impulse verleiht, dass die Gespräche endlich zum Ende kommen. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass der Frieden im Heiligen Land doch noch einkehrt und der tägliche Kreuzweg der christlichen Minderheit ein Ende findet. Dazu bedarf es des entscheidenden Schritts nach vorne von Israelis und Palästinensern. Die Palästinenser aber müssen erst ihre eigene von allen akzeptierte Gesellschaft und politische Führung finden, wovon sie weiter entfernt sind denn je.
Benedikt XVI. appellierte im Sommer 2007 an die Vertreter zahlreicher christlicher Hilfsorganisationen anlässlich ihres Besuchs in Rom mit Blick auf Nahost, das Heilige Land, den Libanon und den Irak: „Ich klopfe an die Pforte des Herzens der Verantwortlichen, auf dass sie ihre wichtige Pflicht erfüllen, den Frieden für alle zu garantieren, ohne Unterschiede zu machen und indem sie ihn von der tödlichen Krankheit der religiösen, kulturellen, geschichtlichen und geographischen Diskriminierung befreien.“