50 Jahre nach den Erscheinungen der Bernadette Soubirous im südfranzösischen Lourdes richtet sich die Aufmerksamkeit erneut mehr als in sonstigen Jahren auf diesen weltweit größten Marienwallfahrtsort. Knapp sechs Millionen Menschen fanden in den letzten Jahren jeweils den Weg in diesen Pyrenäenort. Und vermutlich wird es in diesem Jahr ähnlich sein wie bei den beiden letzten Jubiläen: 50 beziehungsweise 100 Jahre nach den Erscheinungen lag die Zahl der Besucher jedenfalls noch einmal deutlich höher als in den Jahren davor und danach. Der geplante Besuch von Benedikt XVI. im Herbst wird hierzu noch seinen Beitrag leisten – nachdem bereits Johannes Paul II. seine letzte Auslandsreise nach Lourdes geführt hatte. Die Besucherzahlen allein aber sagen noch wenig aus über die geistige und kulturelle Bedeutung, die dieser Ort für Kirche und Gesellschaft Frankreichs hat. Lourdes selbst ist einerseits ein Beispiel dafür, wie sehr das Leben im Wallfahrtsbezirk und in der säkularen Stadt auseinanderklaffen kann – auch dem auswärtigen Besucher können diese beiden „Bezirke“ wie zwei verschiedene Welten vorkommen, obwohl nur durch wenige Häuser und Straßenzüge getrennt. Lourdes ist zugleich aber auch ein Beispiel dafür, dass ein solcher Ort auf vielfältige Weise in die ihn umgebende Kultur hineinverwoben sein kann und auch tatsächlich ist – vielleicht mehr sogar als andere Wallfahrtsorte, nicht nur in Frankreich.
Selbst eine lebendige Verbindung zum kirchlichen Umfeld ist für einen Wallfahrtsort nicht einfach selbstverständlich. In Frankreich steht für diese Verbindung – neben den zahlreichen mehr oder weniger großen Wallfahrten – vor allem die Tatsache, dass in Lourdes jährlich die Bischöfe zu ihrer Vollversammlung zusammenkommen – in Sichtweite der Grotte von Massabielle. Und das ausgerechnet in einem Land, das wie kaum ein anderes zentralistisch auf die Ile de France und Paris ausgerichtet ist – natürlich auch kirchlicherseits. Trotzdem macht sich der französische Episkopat zweimal im Jahr auf den Weg in die Vorpyrenäen, um dort Bilanz zu ziehen und neue Konzepte zu beraten. „Lourdes 1972“ und „Lourdes 1994“ – so redet man in verknappter Form in Theologie und kirchlicher Öffentlichkeit von entsprechenden Beschlüssen der Bischöfe, die in der Kirche in Frankreich über den Tag hinaus Brisanz und Aktualität besitzen.
Über den Stellenwert von Lourdes im französischen Kontext sagt aber vor allem etwas anderes einiges aus: die Berücksichtigung, die dieser Wallfahrtsort in der Literatur findet. In diesem Fall ist nicht so sehr an jene Literatur gedacht, die es – mal mehr mal weniger – auf ähnliche Weise auch in anderen Wallfahrtsorten gibt: Dokumentationen über das Ursprungsgeschehen, auf das die Wallfahrten zurückgehen; Biografien der Gründer beziehungsweise jener Personen, auf deren religiöse Erfahrungen man sich dabei beruft; theologische und historische Analysen zum Wunderbegriff, religiös-spirituelle Schriften, theolo-gische und kulturgeschichtliche Werke zu Wallfahrts- und Pilgerwesen, Reiseführer und vieles andere mehr. Auch wenn Buchhändler in Frankreich anmerken, dass das Geschäft mit dieser Art Literatur im Fall von Lourdes im Jubiläumsjahr bisher eher schleppend verläuft – diese Literatur gibt es natürlich auch hier und gerade im Jubiläumsjahr in Hülle und Fülle. Auffällig an Lourdes ist die Tatsache, wie sehr sich die allgemeine Literatur für diesen Ort in der Vergangenheit interessiert hat – und – was mindestens so erstaunlich ist – weiterhin interessiert. Von Anfang an ging die Beschäftigung mit Lourdes über den konkreten Ort und die ihn kennzeichnenden religiösen Erfahrungen hinaus. Nicht selten erwies sich Lourdes wie ein „pars pro toto“ für Glaube und Religion insgesamt in der sich modernisierenden Gesellschaft – und wurde als solcher vielfach Gegenstand durchaus anspruchsvoller literarischer Darstellungen. In der Rückschau nehmen sich diese Stimmen wie Beispiele im Meer der zahllosen persönlichen und dementsprechend unterschiedlichen Aneignungen dieses Wallfahrtsortes aus (in der Ende 2007 erschienenen Textsammlung „Lourdes – paroles de pèlerins“, NDL éditions/Editions Bayard, Lourdes/Paris des Journalisten Christophe Henning stehen literarische Ausschnitte neben zeitgenössischen Stimmen von Pilgern aller Art).
Dass es im Fall von Lourdes überhaupt zu zahlreichen literarischen Verarbeitungen kommen konnte, dazu dürfte wesentlich die Tatsache beigetragen haben, dass Lourdes von Anfang an, ja bereits in der Zeit vor seiner kirchlichen Anerkennung, einem heftigen Pro und Contra in Kirche und Theologie sowie in Staat und Gesellschaft ausgesetzt war und von daher eine starke „politische“ Dimension aufwies. Die Erscheinungen selbst und die Phase der kirchlichen Annäherung an diese Ereignisse fanden in einem geistig-kirchlichen Klima statt, das dies begünstigte. Das zweite Kaiserreich (1852–1870) gilt im Frankreich des 19. Jahrhunderts als eine religiös und kirchlich produktive Zeit. Kirchliches Leben und Volksfrömmigkeit erstarkten, die Zahl der Priesterweihen stieg an, ebenso die Zahl der Ordensgemeinschaften. Dies wiederum rief manchen Argwohn auf den Platz, antiklerikale, republikanisch-laizistische Strömungen erhielten ihrerseits Nahrung. Der Kampf zwischen republikanischem Staat und ultramontaner Kirche setzte sich dann in der Dritten Republik fort und kulminierte 1905 in der Trennung von Staat und Kirche.
Emile Zolas Entlarvung des Christentums
Vor diesem Hintergrund und in diesem Klima erschien im Jahre 1894 der Roman „Lourdes“ von Emile Zola (1840–1902). In einer Zeit erbitterter Auseinandersetzungen zwischen Glaube und Vernunft, Kirche und aufgeklärter Wissenschaft unternahm Zola mit diesem Werk einen Hauptangriff auf alles, was dem katholisch-ultramontanen Teil Frankreichs heilig war. Darin war „Lourdes“ von Zola geradezu ein Gegenstück zu dem den „Mythos“ von Lourdes wesentlich mitbegründenden Werk von Henri Lasserre (1828–1900), „Notre-Dame de Lourdes“ (1869) und anderer Werke dieses Autors. Lasserre galt selbst als ein von einem Augenleiden Geheilter und verstand sich von daher als ein erklärter „serviteur de Notre-Dame de Lourdes“. Er sah in den Erscheinungen gewissermaßen die überirdische Bestätigung für die vier Jahre zuvor durch Papst Pius IX. vorgenommene Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis. Im Mittelpunkt des Romans von Zola steht der Priester Pierre Froment. In Lourdes hofft er, den Glauben wiederzufinden, doch er erreicht das Gegenteil. Ausführlich schildert Zola – nicht selten mit einem ironisch-sarkastischen Unterton – das Wallfahrtsgeschehen in all seinen Facetten, die Verwicklungen zwischen den verschiedenen beteiligten und interessierten Kreisen. In Gesprächen und Begegnungen setzt sich Froment mit der Geschichte von Lourdes und dem Wallfahrtsbetrieb auseinander. In einer Reihe der im Buch erwähnten Personen lassen sich reale Personen wiederentdecken, denen Zola bei seinem Lourdes-Aufenthalt begegnet ist.
Die Botschaft des Buches ist klar: Emile Zola lässt keine Wunder gelten. Eine Heilung ist für ihn das Ergebnis eines psychosomatischen Prozesses, bei dem die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert werden. Das Eingreifen einer überirdischen Macht hält er für ausgeschlossen. Von der Person Bernadettes bis zu den beteiligten Ärzten vor Ort und einigen auf angeblich wunderbare Weise Geheilten hält ihm die kirchliche Kritik der damaligen Zeit vor, die Personen und Vorgänge auf tendenziöse Weise dargestellt zu haben, weil nicht sein könne, was nicht sein dürfe. Für Positivisten und Antiklerikale ist der Weg, den Froment als alter ego von Zola zurücklegt, bis in die Gegenwart hinein beispielhaft. Im Nachwort einer in der ehemaligen DDR gedruckten Übersetzung von „Lourdes“ heißt es denn auch unumwunden: „Dass gerade ein Geistlicher die angeblichen Wunder durchschaut, die moralische und wirtschaftliche Korruption in der Stadt der Mirakel mit Schaudern erkennt und den altgewordenen Glaubensformen seiner Religion am Ende die Fähigkeit, zu einer alle Schichten des Volkes durchdringenden Heilslehre als einer gerechten sozialen Gesetzgebung zu werden, entschieden abspricht, ist ein bedeutender Schritt nach vorn“ (Erich Marx).
Emile Zola hatte sich im August/September 1892 in Lourdes aufgehalten. Bereits bei seinem Erscheinen zwei Jahre später provozierte sein Roman eine erhebliche Polemik kirchlicher Kreise. Wenige Wochen nach seinem Erscheinen, am 21. September 1894, wurde es auf den Index gesetzt. Mit dem Romanzyklus „Les Rougon-Macquart“ in 20 Bänden hatte Zola zuvor den sozialen Niedergang einer Familie im Zweiten Kaiserreich dargestellt und sich damit einen Namen gemacht. Der Roman „Lourdes“ ist gleichfalls Teil eines größeren Ganzen, diesmal einer Dreistädte-Trilogie. Sie begann mit „Lourdes“ und wurde mit den Romanen „Rome“ (1896) und „Paris“ (1897) fortgesetzt: In „Lourdes“ rechnet Zola mit dem Wunderglauben ab, in „Rome“ mit dem Christentum und in „Paris“ mit der Religion. „Lourdes“ war – so der Pariser Literaturwissenschaftler Jacques Noiray im Vorwort der folio-Ausgabe – das „gigantische Drama des Geistes der Vernunft im Kampf mit dem Geist des Glaubens“. In „Rome“ fragte Zola, ob ein „erneuerter und im Geiste des Evangeliums inspirierter Katholizismus“ angesichts der sozialen und moralischen Misere am Ende des 19. Jahrhunderts Lösungen bieten könnte. Seine Antwort lautet nein. „Paris“ dagegen ist die „Geschichte seiner Auferstehung“ in eine bürgerliche Existenz seiner Zeit.
Gut zehn Jahre nach Zolas Lourdes-Roman erscheint das Buch eines Bekannten von Zola, Joris-Karl Huysmans (1848–1907) „Les foules de Lourdes“ (1906; Edition Plon, Paris 1958). Auch Huysmans hatte sich eine Zeitlang in Lourdes aufgehalten. Bei allen atmosphärischen und thematischen Ähnlichkeiten mit der Schilderung von Zola – das Ergebnis könnte bei Huysmans kaum unterschiedlicher ausfallen. In seiner Abwendung vom naturalistischen Rationalismus zum christlichen Glauben erlebte Huysmans eine Konversion. Wenn er Lourdes kritisiert, dann nicht wegen des dort grassierenden unaufgeklärten Wunderglaubens wie Zola, sondern aus ästhetischen Gründen. „Als ästhetisch und mystisch interessierter Christ zeigt sich Huysmans Lourdes gegenüber, seiner architektonischen Hässlichkeit, der Mittelmäßigkeit der Massen noch kritischer als der Agnostiker Zola, der sich wegen seines Bemühens um Objektivität viel mehr Zurückhaltung auferlegt“ (Jacques Noiray). Mit seiner Kritik war er in dieser Hinsicht nicht zimperlich. Huysmans, von dem acht Jahre zuvor ein großes Werk mit dem Titel „La Cathédrale“ (1898) erschienen war, vermag in der Architektur von Lourdes nichts anderes als eine „Ästhetik von Korkenhändlern“ zu erkennen: „Die schlichteste der aus dem Mittelalter stammenden Dorfkapellen erscheint im Vergleich zu dieser Räubergothik wie ein Meisterwerk, aus dem ,finesse‘ und Kraft spricht.“
Das ändert freilich nichts daran, dass derselbe Huysmans im gleichen Buch Lourdes höchste geistliche Qualität zumisst („In Lourdes erlebt man eine Erneuerung des Glaubens an die Evangelien“). Huysmans scheint hin- und hergerissen zu sein. Ursprünglich sollte der Titel des Buches „Die zwei Gesichter von Lourdes“ heißen. Huysmans setzt sich auch den abstoßendsten Szenen aus, die sich ihm bei seinem Besuch des Wallfahrtsbetriebs bieten. „Hölle der Körper“ nennt er Lourdes ebenso wie „Paradies der Seelen“. In einem Brief nach seiner Rückkehr nach Paris schreibt er schließlich: „Es ist gut gewesen, die religiösen Casinos von Lourdes gesehen zu haben, um dann doch friedliche Wallfahrtsorte vorzuziehen ...“ Dazu passt, dass er in „Les foules de Lourdes“ gleich zu Beginn die Einzigartigkeit von Lourdes relativiert. Er zählt Marienerscheinungen aus der Umgebung von Lourdes auf. Huysmans: „Lourdes, so sieht man, ist kein isolierter Einzelfall in den Annalen der Pyrenäen. Es ist nichts anderes als die Wiederauferstehung alter Volksfrömmigkeiten, die die Madonna verjüngt hat. Ohne die Region zu wechseln, hat diese ihr Haus lediglich in eine für die breite Frömmigkeit zugänglichere Umgebung versetzt.“
Lourdes und der „Renouveau Catholique“
An Huysmans erinnert in mancherlei Hinsicht „Pèlerins de Lourdes“ (1931) von François Mauriac (1885–1970). Mauriac gilt als bedeutender Vertreter des so genannten „Renouveau catholique“. Sein Thema ist die Entlarvung eines verbürgerlichten falschen Christentums zu Gunsten der authentischen Religion auf der Grundlage der Bergpredigt. In „Pèlerins de Lourdes“ bearbeitet er „das zentrale Thema seines literarischen Werks, die Zerrissenheit der Seele zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zur Welt, der Kampf zwischen menschlicher Natur und göttlicher Gnade in der Seele des Menschen“ (Angelika Greß, in: Treibhaus im Winter. Lourdes in der frankophonen Literatur, Verlag Peter Lang, Frankfurt 1996; dort auch Angaben über weitere literarische Werke über Lourdes). Zwei junge Pilger, Serge und Augustin, diskutieren über den Sinn der Wallfahrt. Die beiden werden als Vertreter unterschiedlicher Geisteshandlungen vorgestellt: hier der Protestant, dort der Katholik; der eine ein zukunftsorientierter Humanist, der andere lebt geistig im Mittelalter. Die Kritik geht davon aus, dass Mauriac mit diesen beiden fiktiven Gestalten einen eigenen inneren Konflikt darstellt. Greß: „Auch in der zeitgenössischen Gesellschaft, die in weiten Teilen von Gottesferne geprägt ist, befindet sich der Mensch (für Mauriac) in der Schwebe zwischen den beiden Polen Gott und Welt. Zur Orientierung hin zu Gott bedarf es des menschlichen Wollens genauso sehr wie der göttlichen Gnade.“ Lourdes ist auch in dieser Sichtweise nur ein Ort unter vielen. Entscheidend ist letztlich auch für Mauriac nicht, ob die Wunder „wirklich“ passieren oder eher ins Reich der Legende gehören. Entscheidend ist die Tatsache, dass Orte dieser Art auf das Transzendente verweisen.
Im Mittelpunkt des Handlung des Buches „Vous verrez le ciel ouvert“ (1956) von Gilbert Cesbron (1913–1979), gleichfalls ein Vertreter des „Renouveau catholique“, steht dagegen die soziale Misere jener Zeit. Die Welt erscheint ambivalent – als „champs de ruines“ (Ruinenfeld) ebenso wie als „chantier“ (Baustelle). Im Mittelpunkt steht ein Staudammprojekt, das in einem abgelegenen Alpendorf realisiert werden soll. Auf den Ruinen eines traditionsgebundenen Dorfes entsteht die Grundlage für eine neue Welt. Der Staudamm, an dem gebaut wird, stellt gewissermaßen den modernen „Turm zu Babel“ dar, er verkörpert den menschlichen Größenwahn, ein Werk der „Nicht-Liebe“, des Bösen. Vor dem Hintergrund der menschlich wie sozial problematischen Lage inszenieren Kinder Marienerscheinungen. Was als Spiel beginnt, endet in einer „tatsächlichen“ Marienerscheinung. Im Stile einer „littérature engagée“ bringt Cesbron zusammen, was gemeinhin eher als unversöhnliche Gegensätze empfunden wird: Sozialkritik und Wunderglauben. Das Wunder ist gewissermaßen das Ergebnis menschlicher Sehnsucht nach Liebe. Es ist zu verstehen „als Chiffre für den vertikalen Bezug zur Transzendenz im Sinne einer Abkehr vom Materialismus“ (Greß).
Auch im Jubiläumsjahr literarisch aktuell
Zu den bekanntesten Lourdes-Werken gehört der Roman „Das Lied von Bernadette“ (1941; Fischer-Verlag, Frankfurt 1996) des aus Prag stammenden deutschsprachigen jüdischen Schriftstellers Franz Werfel (1890–1945). Der Autor bezeichnete sich selbst als „Jesus-Christus-gläubigen Juden“, ohne je die Taufe empfangen zu haben. Das Buch geht auf ein persönliches Gelübde zurück. Nach der Veröffentlichung des Romans bekannte Werfel, dass er im Juli 1940 „vor der Grotte von Lourdes in einem Moment großer Bedrängnis gelobt“ habe,„vor jeder anderen Arbeit das ,Lied der Bernadette‘ (zu) singen, wenn er „der Gefahr entrinnen und die rettende Küste Amerikas erreichen“ dürfe.
Der Roman erzählt ausführlich die Erscheinungen und die Folgen, die sie haben, die Entwicklung, die das Wallfahrtsgeschehen nimmt, die Irritationen wegen der Erscheinungen in Staat und Kirche, das Ringen um die kirchliche Anerkennung, den „Eigenwillen der Massen“, der alles bisher Bekannte durcheinanderbringt. Werfel hält sich einerseits an die reale Geschichte von Lourdes, nimmt sich aber die künstlerische Freiheit zur erzählerischen Ausgestaltung. Die Geschichte spielt im Katholizismus, aber sie geht für Werfel „gleichermaßen alle an, Protestanten und Juden, alle Menschen, deren Herz offen ist für den Anhauch der göttlichen Kräfte in der Wirklichkeit des Lebens“. Er selbst bezeichnet den Roman als einen „jubelnden Hymnus auf (den) geistigen Sinn der Welt“.
Die Reihe der literarischen Beschäftigung mit Lourdes scheint aber auch nach Werfel noch anzudauern. Zu den überraschendsten Neuerscheinungen des Jubiläumsjahres von Lourdes gehört das Buch von Alina Reyes (Jahrgang 1956), „La jeune fille et la Vierge“ (Editions Bayard, Paris 2008). Dem französischen Buchpublikum ist die Autorin sonst aus einer etwas anderen Literaturgattung bekannt, der erotischen Frauenliteratur. Sie lebt in Paris und in den Pyrenäen unweit von Lourdes und hat von daher einen Zugang zu Bernadette Soubirous und Lourdes gefunden. Das nicht sehr umfangreiche Buch ist nicht leicht zu charakterisieren. Es handelt sich um eine Mischung aus Meditation und historischem Abriss. Die Autorin nimmt Bernadette Soubirous zu einer Art Gesprächspartnerin, Freundin im Geiste. „Man könnte es nicht katholischer machen ...“ bemerkte der Bischof von Tarbes und Lourdes, Jacques Perrier, zu dem Buch. Die Autorin versteht sich selbst nicht als Gläubige. Aus dem Buch spricht ein Interesse am Mystischen, das heute durchaus auch in atheistischen Milieus anzutreffen ist.„Die mystische Ekstase ist keine Krankheit“, bemerkt Reyes lakonisch. Eine von ihr erzählte Begebenheit sagt vielleicht einiges aus über den Hintergrund ihres Interesse an diesem religiösen Thema. „Eines Tages war ich mit dem zehn Jahre alten Joachim an der Grotte. In wenigen Worten habe ich ihm erklärt, dass dort ein Mädchen die Jungfrau Maria gesehen hat. Für einen Moment war er nachdenklich und sagte dann: ,Was ist daran so besonders? Ich habe eines Tages Zidane gesehen, in Paris auf der Straße!‘ Ich verstand, dass er sich nicht sicher war über den Realitätsgehalt seiner Vision, aber dass es ihm nicht ungewöhnlich erschien, Menschen in einer anderen Realitätssphäre zu sehen. Lewis Carroll wusste sehr genau, dass Kinder ihn verstehen. Ohne nun Zinedine Zidane, die Grinsekatze und die Jungfrau Maria auf die gleiche Ebene zu stellen, ohne eine mystische Erscheinung und eine Träumerei miteinander zu verwechseln, scheint es mir auf jeden Fall falsch zu sein, sich auf das Bedürfnis zu fixieren, Wirklichkeit und Fiktion voneinander zu trennen. Gott ebenso wie der Mensch braucht die Fiktion, um die Wahrheit mitzuteilen.“
Lourdes – das zeigt die vielfältige literarische Auseinandersetzung damit – ist mehr als Wallfahrtsgeschehen in der gleichnamigen Stadt des südfranzösischen Bigorre. Unter den unterschiedlichsten Bedingungen thematisieren Autoren auf der Folie des Geschehens in Lourdes für sie zentrale existentielle Fragen. Der positivistische Naturalist Zola singt das Hohe Lied auf die Vernunft. Der konvertierte Mystizist Huysmans erschrickt über die ästhetischen Barbarismen des massenhaften Wallfahrtsgeschehens in der Pyrenäenmetropole. François Mauriac geht an diesem Ort dem Kampf zwischen menschlicher Natur und göttlicher Gnade nach. Gilbert Cesbron begibt sich auf die Suche nach einer Kraft, die dem Guten zum Durchbruch verhilft. Franz Werfel öffnet sich hier „für den Anhauch der göttlichen Kräfte in der Wirklichkeit des Lebens“. Für die zeitgenössische Autorin Alina Reyes ist Lourdes ein Ort, an dem die Grenzen zwischen Frömmigkeit und Poesie fließend werden.
Die literarische Auseinandersetzung mit Lourdes hat immer mit den gleichen Versatzstücken der Geschichte von Lourdes und ihrer Deutung durch konkrete Menschen zu tun. Im Positiven wie im Negativen geben dieser Ort und seine Menschen eine Folie dafür ab, dass Autoren zentrale zeitgenössische Fragen von Weltanschauung und -deutung thematisieren. Wobei die Grenzen hier nicht verlaufen zwischen denen, die Fragen und Zweifel thematisieren und denen, die Zustimmung und Gläubigkeit signalisieren. Die Fragen des Gläubigen sind nicht weniger scharf formuliert wie die des erklärten Nichtgläubigen. Und auch der Skeptiker gewinnt diesem Ort etwas ab, das in seinen Augen für das Menschsein Wesentliches zum Ausdruck bringt. Ja die Frage, ob es sich im Einzelnen um einen religiösen oder nichtreligiösen Autor handelt, relativiert sich. Sogar die Frage, ob es die Wunder in Lourdes denn nun wirklich gibt oder nicht und was im Einzelnen als Wunder zu gelten hätte und was nicht, wird von den Autoren erstaunlich uninteressiert behandelt. In den Biografien der Leidenden wie auch der literarischen Beobachter verwischen sich die sonst gerne so scharf gezogenen Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen menschlicher Existenz und Transzendenz, zwischen Natur und Wunder. Vielleicht ist ja genau das eines der „Erfolgsrezepte“ dieses so ungewöhnlich-gewöhnlichen Ortes am Fuße der Pyrenäen.