13 Prozent der Bevölkerung,so heißt es im dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, sind arm. Aber was heißt das? Arm im Sinne der hier verwandten Definition ist jeder, dessen Nettoeinkommen weniger als60 Prozent des Mittelwerts (Median) beträgt. Damit man das Wohlstandsniveau von Personen unabhängig von der Größe und Zusammensetzung ihrer Haushalte vergleichen kann, wird das Nettoeinkommen jedes Haushalts durch sogenannte Bedarfsgewichte geteilt; Ergebnis dieser Rechnung ist das so genannte Nettoäquivalenzeinkommen des Haushalts. Bei einer Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren beispielsweise wird das verfügbare Nettoeinkommen durch 2,1 geteilt (1 für den „Haushaltsvorstand“, 0,5 für die zweite erwachsene Person und je 0,3 für die beiden Kinder). Ein Alleinstehender ist arm in dem so definierten Sinne, wenn er netto weniger als 781 Euro pro Monat hat, die Familie mit zwei Kindern, wenn sie über weniger als 1640 Euro verfügt. Den Anteil der Bevölkerung, der unterhalb dieser Werte liegt, nennen die Statistiker Armutsrisikoquote. Die angegebene Armutsrisikoquote von 13 Prozent bezieht sich auf die Einkommensverteilung nach Sozialtransfers (Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Kindergeld, Kinderzuschlag, Grundsicherung im Alter). Ohne diese Sozialtransfers wären 26 Prozent der Bevölkerung arm in dem hier definierten Sinne. Dies zeigt die Notwendigkeit und die Wirkung dieser Transfersysteme.
Der politische Handlungsbedarf ist nicht wegzudiskutieren
Die Höhe des so gemessenen Armutsrisikos hängt ab von methodischen und normativen Entscheidungen, die bei der Berechnung unvermeidlich sind. Wie hoch wird die Armutsrisikoschwelle festgelegt, bei 50 Prozent des mittleren Einkommens, wie bis in die neunziger Jahre, oder bei 60 Prozent? Wie hoch sind die Bedarfsgewichte? So kann man durchaus streiten, ob ein Bedarfsgewicht von 0,3 für ein Kind unter 14 Jahren nicht zu niedrig ist, ist dies doch der rechnerische Ausdruck der Annahme, dass für ein Kind mit 30 Prozent des Erwachsenenwertes ein gleiches Wohlstandsniveau gesichert werden kann. Festzulegen ist auch, welche Datenquelle genutzt und was als Einkommen erfasst wird. Der neue Armuts- und Reichtumsbericht stützt sich bei der Berechnung der Armutsquoten auf die EU-Erhebung „Leben in Europa“ (EU-SILC), während der Vorgängerbericht 2005 die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamts nutzte. Dort war der Mietwert des selbst genutzten Wohneigentums als Einkommenskomponente berücksichtigt worden, was natürlich vorrangig das erfasste Einkommen der Bezieher mittlerer und hoher Einkommen erhöht. Entsprechend höher waren im letzten Bericht das errechnete mittlere Einkommen und die davon abgeleitete Armutsrisikoschwelle (938 Euro).
Somit unterscheiden sich je nach Methodik und Datenquelle die Angaben darüber, wie viele Menschen arm sind. Viele der jetzt im Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlichten Daten sind mit den Vorgängergerberichten nicht vergleichbar, und auch innerhalb des Berichts wird häufig zwischen den Datenquellen gewechselt. Dies schwächt den analytischen Nutzen des Berichts. Es fällt schwer, den Eindruck zur Seite zu schieben, das Ministerium habe sich deswegen vorrangig auf die EU-Daten gestützt, weil diese von den verfügbaren Datensätzen die niedrigste Armutsrisikoquote zeigen. Man hätte erwarten können, dass die verfügbaren Datenquellen gleichrangig in die Bewertung einbezogen werden. Die Armutsrisikoquote ist ein wichtiges Maß der relativen Einkommensarmut und der Einkommensverteilung. Insbesondere wie sie sich im Zeitverlauf verändert und welche Gruppen ein überdurchschnittliches Armutsrisiko haben, ist für die Debatte über sozialpolitische Handlungserfordernisse wichtig. Aber sie taugt nicht zur simplen Skandalisierung. Wäre es per se ein Skandal, dass etwa ein Siebtel oder ein Sechstel der Bevölkerung ein Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens haben, so hätten alle europäischen Länder diesen Skandal aufzuweisen. Die EU-Daten weisen für die nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten Schweden und Finnland ein ähnlich hohes relatives Armutsrisiko aus wie für Deutschland. Zu berücksichtigen ist auch das in jedem Land unterschiedliche Einkommensniveau, an dem die relative Einkommensarmut gemessen wird. In einem reichen Land weniger zu haben als 60 Prozent des Mittelwerts, bedeutet nicht gleich Verelendung. Und entscheidend ist auch, ob die relative Einkommensarmut Menschen temporär trifft oder ihr ganzes Leben prägt. In der dargestellten Methodik der Armutsmessung werden auch die vielen Studierenden den Armen zugerechnet, die nicht mehr bei den Eltern wohnen und weniger als 781 Euro monatlich haben. Ihr Zustand ist aber kein Ausdruck sozialer Not, sondern Privileg, ihr Studium gibt ihnen später gute Verdienstchancen.
Armut bedroht insbesondere Arbeitslose, Menschen ohne Berufsausbildung und Alleinerziehende
Trotz dieser notwendigen Relativierungen wäre es unangemessen, den politischen Handlungsbedarf wegzudiskutieren. Es gibt Hinweise, dass die EU-Erhebung, auf die sich der neue Bericht stützt, die Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit geringen Qualifikationen und damit zwei der Risikogruppen nicht ausreichend erfasst. Alles deutet darauf hin, dass die Armutsrisikoquote in den letzten zehn Jahren gestiegen ist, auch wenn man sich über das genaue Ausmaß des Anstiegs trefflich streiten kann. Nach den Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) stieg die Quote von 12 Prozent im Jahr 1998 auf 18 Prozent 2005. 11 Prozent haben ein dauerhaftes Armutsrisiko, das heißt, sie waren in mindestens zwei der drei Vorjahren ebenfalls armutsgefährdet. 5 Prozent sind von so genannten dauerhaft strenger Armut betroffen: sie haben dauerhaft ein Äquivalenzeinkommen von weniger als 50 Prozent des Medianeinkommens. Diese Kerngruppe der Armutsproblematik sei, so der Bericht, nahezu konstant geblieben.
Der politische Handlungsbedarf zeigt sich besonders bei den verfestigten Risikogruppen, und hier ist die Botschaft der unterschiedlichen Daten völlig eindeutig. Von Armut bedroht sind insbesondere Arbeitslose (EU-Daten: 43 Prozent), Menschen ohne Berufsausbildung (19 Prozent) sowie Alleinerziehende (24 Prozent). Da das Ausbildungsniveau der Menschen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt deutlich schlechter ist als das der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, sind Migranten von einem deutlich höheren Armutsrisiko betroffen. Diese Befunde haben sich gegenüber dem letzten Bericht nicht geändert.
Zudem kann die Statistik des Armutsrisikos allein nicht die Lebenslagen armer Menschen abbilden. Langzeitarbeitslose sind, wie der Bericht zeigt, weit häufiger krank und überschuldet als Menschen in Arbeit. Es zeigt sich ein eklatanter Zusammenhang zwischen Schulbildung und gesundheitlicher Situation. Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status haben weit häufiger als die sozial besser gestellten Gleichaltrigen wahrnehmungs- und psychomotorische Störungen oder leiden unter chronischen Erkrankungen. Sie beginnen häufiger und früher zu rauchen. Es zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Suchtkrankheit und Armutsrisiken, dabei nehmen Symptome der Alkoholabhängigkeit zu, je länger die Arbeitslosigkeit, der bei weitem wichtigste Auslöser der Armut, andauert. Die kausale Zuordnung darf dabei nicht einseitig erfolgen; Alkoholabhängigkeit und Drogenmissbauch erhöhen gleichzeitig in hohem Maße das Risiko, arbeitslos und arm zu werden.
Ein besonderer Blick ist notwendig auf eine vom Umfang her kleine Teilgruppe der statistisch erfassten Armen, bei denen mehrere verfestigte Problemlagen wie Langzeitarbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und Drogenmissbrauch zusammenwirken, häufig verbunden mit starken gesundheitlichen Einschränkungen. Diese Gruppe lebt in anhaltender extremer Armut, ihre Lage kann nur mit spezifischen niedrigschwelligen Hilfeangeboten verbessert werden; dabei müssen alle Ansätze der Hilfe akzeptieren, dass jenseits aller Prävention auch diese Gruppe einen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe hat, ganz unabhängig davon, ob es noch eine Chance auf Reintegration in ein „normales“ Leben gibt.
Lebenslagen und Entwicklungen differenziert in den Blick nehmen
Eine gesellschaftliche Debatte über Armut darf sich also nicht beschränken auf die Interpretation von Veränderungen der Armutsrisikoquoten mit jeweils parteipolitisch motivierter Beschwichtigung, Dramatisierung oder Schuldzuweisung, sondern muss die differenzierten Lebenslagen der von Armut bedrohten Menschen in den Blick nehmen. Und die Debatte darf dabei nicht die Randgruppen ausgrenzen, die in extremer Armut leben. Dabei täte auch mehr Differenzierung gut. So ist in der medialen Rezeption des Berichts eine wichtige Information nicht aufgegriffen worden, weil sie, so ist zu vermuten, der derzeit populären Wahrnehmung einer sich an allen Fronten verschlechternden sozialen Lage widerspricht. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat sich die Zahl der wohnungslosen Menschen zwischen 1998 und 2006 halbiert, wozu die verstärkte Präventionsarbeit der Kommunen und die Arbeit der Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungsverlust wesentlich beigetragen haben. Nur eine Debatte, die Lebenslagen und Entwicklungen differenziert in den Blick nimmt, kann im Sinne einer Politik der Armutsprävention produktiv sein.
Vom Wegbrechen der Mittelschicht kann keine Rede sein
Bei der Debatte zu einer Politik für die Armen ist auch die Grundsicherung (Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe) in den Blick zu nehmen. Hier gibt es Handlungsbedarf. Die heutigen Regelsätze, deren Berechnung auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 2003 beruht, berücksichtigen beispielsweise nicht die später eingeführten Zuzahlungen im Gesundheitswesen. Die Bindung der jährlichen Anpassung des Regelsatzes an die (meist unterbleibenden) Rentensteigerungen statt an die Inflationsrate lebenswichtiger Güter führt zu einem schleichenden Realwertverlust. Auch sind die vom Regelsatz eines Erwachsenen abgeleiteten Kinderregelsätze nicht angemessen, eine eigenständige Berechnung des Bedarfes für Kinder ist notwendig. Dringend brauchen wir beim Arbeitslosengeld II eine Öffnungsklausel für atypische Bedarfslagen, etwa wenn eine chronische Erkrankung regelmäßig zu höheren Ausgaben führt. Der Bundesrat hat kürzlich die Bundesregierung aufgefordert, Anpassungen beim Regelsatz vorzunehmen, was die Länder allerdings nicht von ihren eigenen Hausaufgaben entlasten sollte, etwa bei der Sicherung der Lernmittelfreiheit für arme Kinder oder eines kostenfreien oder stark subventionierten Mittagessens in Ganztagsschulen.
Während in der öffentlichen Debatte nach der Bekanntgabe einiger Daten aus dem Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts Menschen in extremer Armut kaum eine Rolle spielten, stand die Lage der Mittelschicht in Deutschland durchaus im Fokus. Nun behandelt ein Armuts- und Reichtumsbericht legitimerweise auch die Entwicklung der gesamten Einkommensverteilung und trifft damit Aussagen zur Lage der Mittelschicht. Allerdings deckt sich die statistische Definition der „Mittelschicht“, die im Bericht zugrunde gelegt wird, nicht mit dem, was im Alltagsverständnis unter der Mittelschicht, und in der Abgrenzung zu ihr unter der „Oberschicht“ verstanden wird. Die Zuordnung beruht wiederum auf der eingangs dargestellten Berechnung der Nettoäquivalenzeinkommen, mit der die Einkommenssituation aller Haushalte vergleichbar gemacht wird. Jeder zählt zur „Mittelschicht“, dessen so berechnetes Einkommen zwischen 75 Prozent und 150 Prozent des mittleren Wertes liegt. Ein Alleinstehender gehört – legt man die EU-Daten zugrunde – damit zur „Mittelschicht“, wenn sein monatliches Nettoeinkommen mehr als 976 Euro beträgt, er liegt oberhalb der „Mittelschicht“ wenn er über netto mehr als 1952 Euro verfügt. Eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren gehört zur „Mittelschicht“, wenn ihr Nettoeinkommen zwischen 2050 und 4100 Euro liegt. Der Anteil der zwischen 75 Prozent und 150 Prozent des mittleren Einkommens liegenden „Mittelschicht“ hat sich nach den Daten des Soziokulturellen Panels zwischen 2002 und 2005 von gerundet 53 Prozent auf 50 Prozent verringert. Dieser Befund ist als Indiz einer tendenziell zunehmenden Einkommensungleichheit ernst zu nehmen. Von einem „Wegbrechen“ der Mittelschicht, wie dies teilweise öffentlich wahrgenommen wird, kann aber keine Rede sein. Wie verzerrt hier die Wahrnehmung ist, zeigt eine repräsentative Befragung von Infratest im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2006, die wegen ihrer Aussagen zum „Prekariat“ stark öffentlich wahrgenommen wurde. 61 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, es gäbe keine Mitte mehr in Deutschland, sondern nur noch ein Unten und ein Oben. Ein solches Ergebnis ist als deutliches Indiz einer Grundstimmung der Verunsicherung zu werten. Aber es deckt sich nicht mit den Daten zur Einkommensverteilung in Deutschland. Die Kirche und ihre Caritas, denen daran gelegen ist, konkrete Politik für arme Menschen zu befördern, sollten alles vermeiden, was diese Grundstimmung der Verunsicherung weiter befördert. Denn wenn sich die weiterhin breite Mittelschicht eines reichen Landes in den Wahn hineinsteigert, zu verarmen, ist dies verheerend für die, die wirklich arm sind. Dann schwindet die politische Bereitschaft der Mitte, die für ein würdevolles Leben armer Menschen notwendigen Transfers und die zur Armutsprävention notwendigen Dienstleistungen im Sozial- und Bildungsbereich durch ihre Steuern zu finanzieren. Und die Programme der politischen Parteien werden sich noch mehr, als es ohnehin ihren Interessen und Zwängen bei der Gewinnung von Wählerstimmen entspricht, darauf konzentrieren, materiell die Lage der gesellschaftlichen Mitte zu verbessern.
Dass diese Sorge berechtigt ist, zeigen die politischen Angebote zur Entschärfung der Armutsfrage, die in der kurzen und hektischen Debatte nach Bekanntgabe einiger Daten aus dem Berichtsentwurf angepriesen wurden. Die Pendlerpauschale, die die CSU nun rasch zu einer Konsequenz aus dem Armutsbericht erhob, entlastet Menschen, deren arbeitsbedingte Fahrkosten nicht durch den Freibetrag der Werbungskosten abgedeckt sind. Dies sind aber regulär beschäftigte Arbeitnehmer, die nur ein sehr geringes Armutsrisiko haben. Die Entlastungen bei der Einkommenssteuer, die die FDP fordert, können Armen nicht helfen, denn sie zahlen faktisch keine Einkommensteuer. Beide Forderungen zielen also auf die verunsicherte Mitte und haben nicht die Armen im Blick. Die SPD fordert eine Neufassung der so genannten Reichensteuer; der um drei Prozentpunkte erhöhte Spitzensteuersatz soll bereits ab einem Jahreseinkommen von 125 000 Euro (Verheiratete 250 000 Euro) greifen. Die Diskussion um eine Reichensteuer ist in der Gefahr, die für die Mittelschicht angenehme Illusion zu erzeugen, man könne größere Programme gegen die Armut finanzieren, ohne auch die Mittelschicht selbst zu belasten. Das eher bescheidene zusätzliche Steueraufkommen, das die SPD selbst von einer modifizierten Reichensteuer erwartet, zeigt aber, dass dies nicht geht.
Selbst der Mindestlohn ist nur auf den ersten Blick ein Instrument der Armutsbekämpfung. Das von der SPD geführte Arbeitsministerium, das den Entwurf des Berichts verantwortet, setzt sich für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn und – da dieser mit dem Koalitionspartner nicht durchsetzbar ist – für branchenspezifische Mindestlöhne ein. Der Bericht stellt eine Tendenz zur Zunahme des Niedriglohnbereichs fest. Dabei werden hier alle Beschäftigten erfasst, die weniger als zwei Drittel des mittleren Bruttoerwerbseinkommens aller Erwerbspersonen (Median) verdienen. Zwischen 2002 und 2005 ist dieser so gemessene „Niedriglohnbereich“ von 35,5 Prozent auf 36,4 Prozent gestiegen. Nur: Weniger als zwei Drittel des mittleren Wertes kann man auch verdienen, wenn man in Teilzeit arbeitet oder als Rentner oder Student einen Minijob ausführt, selbst, wenn der Stundenlohn durchaus passabel ist – und nur auf den Stundenlohn kann sich eine Mindestlohnpolitik beziehen. Weit aussagekräftiger ist der Anteil der vollzeitbeschäftigten Niedrigeinkommensbezieher. Dieser ist zwischen 2005 und 2005 von 8,8 Prozent auf 9,3 Prozent gestiegen. Die Angabe des Berichtsentwurfs, mehr als ein Drittel der Beschäftigten seien Niedriglohnbezieher, ist also eine krasse Überzeichnung der Realität, die den Verdacht nährt, dass damit die Auseinandersetzung in der Koalition zum Mindestlohn befördert werden soll.
Arbeitslose können von einem Mindestlohn nicht profitieren
Zu Recht betont der Bericht, dass eine sozial abgesicherte vollzeitnahe Beschäftigung der Schlüssel zur Armutsbekämpfung ist. Im zweiten Armutsbericht war die Armutsrisikoquote aller Haushalte, in denen ein Mitglied in Vollzeit oder zwei Mitglieder in Teilzeit arbeiten, mit 4 Prozent und damit weit unterhalb des Durchschnitts angegeben. Leider fehlt eine entsprechende Angabe im neuen Bericht. Bei der Bewertung von Mindestlöhnen als Teil einer Politik der Armutsbekämpfung müssen die Folgen für die Beschäftigungschancen der von Armut bedrohten Menschen berücksichtigt werden. Je höher Mindestlöhne festgesetzt werden, desto größer ist die Gefahr, dass insbesondere Menschen mit geringen beruflichen Qualifikationen ihre Arbeit verlieren oder der Abbau der in dieser Gruppe stark verbreiteten Arbeitslosigkeit zusätzlich erschwert wird. Arbeitslose Menschen selbst können aber von einem Mindestlohn nicht profitieren. In vielfältigen Hilfeformen bemüht sich die verbandliche Caritas, Menschen mit verfestigten Problemlagen dabei zu helfen, wieder einen Zugang zum Arbeitmarkt zu finden. Je höher die Hürden für die Aufnahme einer Beschäftigung sind, desto häufiger scheitern diese Menschen trotz der durch professionelle Hilfe erreichten Stabilisierung daran, einen Arbeitsplatz zu finden. Ein hoher Mindestlohn kann möglicherweise Abstiegsängste der Mittelschicht abbauen, aber er hilft nicht den Armen. Weit geeigneter ist die Senkung der Lohnnebenkosten für Geringverdiener, wie sie jetzt von der SPD vorgeschlagen wird. Dies hatte Caritas-Präsident Peter Neher unmittelbar nach Bekanntgabe des Berichts gefordert. Im Gegensatz zu einer Steuersenkung oder einer geringfügigen Senkung der Lohnnebenkosten für alle Beschäftigten würde hier ein gegebenes Entlastungspotential bei denen eingesetzt, die das größte Beschäftigungs- und Armutsrisiko haben. Ob dieser Vorschlag Chancen auf Realisierung hat, ist fraglich, denn er ist wenig geeignet, Punkte bei der Wahlen entscheidenden Mittelschicht zu sammeln. Um nicht missverstanden zu werden: Jede Politik demokratischer Parteien, die Mehrheiten finden wollen, muss auch die Interessen der Mittelschicht im Blick haben. Man mag sich aus den unterschiedlichsten Gründen für die Pendlerpauschale, für Steuersenkungen oder einen Mindestlohn einsetzen. Man sollte dies aber nicht damit begründen, Politik für die Armen machen zu wollen.
Eine Politik der Armutsprävention muss bei den Hauptrisikogruppen ansetzen. Alleinerziehende haben ein Armutsrisiko, da sie aufgrund unzureichender Betreuungsangebote für ihre Kinder nur Teilzeit arbeiten können. So können selbst gut qualifizierte Alleinerziehende nicht davon profitieren, dass in manchen Branchen Fachkräfte händeringend gesucht werden. Menschen mit Migrationshintergrund kann man nur mit besserer Integration und Förderung helfen, bei Kindern aus Migrantenfamilien sollte dies möglichst früh ansetzen. Menschen ohne Berufsausbildung werden auch künftig ein hohes Armutsrisiko haben, weil sie extrem häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Hier zeigt der Bericht, dass Bildungspolitik als unverzichtbarer Teil der Armutsprävention viele Menschen nicht erreicht: Der Anteil junger Menschen ohne Berufsausbildung ist in Deutschland heute deutlich höher als vor zehn Jahren: So ist der Anteil der Personen, die im Alter von 25 bis 30 Jahren keinen Berufs- oder Hochschulabschluss haben und nicht in Bildung sind, von 12,7 Prozent im Jahr 1996 auf 17,0 Prozent im Jahr 2006 gestiegen. Ostdeutschland, das 1996 bezüglich der Bildungsabschlüsse noch deutlich bessere Werte aufwies, nähert sich den schlechten Werten Westdeutschlands an. Im Alter von 35 Jahren bleiben 15 Prozent der Bevölkerung dauerhaft ohne abgeschlossene berufliche Ausbildung. Diese Zahl aus dem Armuts- und Reichtumsbericht ist in der Tat alarmierend. Wer ohne Ausbildung ist, wird auch künftig ein hohes Armutsrisiko haben. Eine verfehlte Bildungspolitik verursacht eine wachsende Ungleichheit der Einkommensverteilung. Es wäre eine schiere Illusion zu meinen, man könne sich diesem Trend dann durch mehr Umverteilung entgegenstemmen. Denn wenn wir bei Bildung und Ausbildung nicht aufholen, werden wir zusätzliche Schwierigkeiten haben, den demographischen Wandel zu bewältigen, und werden damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit – unverzichtbare Grundlage einer guten sozialen Sicherung – unnötigerweise einschränken. Ohne mehr Teilhabe- und Befähigungsgerechtigkeit ist mehr Verteilungsgerechtigkeit nicht zu erreichen.