„Manchmal möchte ich den Schmerz aus mir herausschreien. Und zugleich frage ich mich dagegen: ,Welchen Schmerz?‘ ”Was der Literat Peter Handke als menschliches Lebensempfinden in seinen „Phantasien der Wiederholung” verdichtet ins Wort bringt, beschreibt eine Spannung, die nach meiner Wahrnehmung nicht wenige der in der Ökumene engagierten Christinnen und Christen gut kennen: Da gibt es so manche Enttäuschungen oder Ernüchterungen auf dem Weg zur Einheit der Kirche(n), und da sind zugleich die vielfältigen ermutigenden Begegnungen und Geschehnisse, die zur Hoffnung Anlass geben. Karl Kardinal Lehmann formulierte diesen Gedanken bei seinem viel beachteten Vortrag im Rahmen des Katholikentags in Osnabrück (21. bis 25. Mai 2008) in folgender Weise: „Wir stehen an einem eigentümlichen Ort: Wir haben viel erreicht in diesem neuen Zueinander, aber wir sorgen uns auch zugleich um den weiteren Weg, der uns wirklich nach vorne bringt. Es gibt ein hohes Maß von Gemeinsamkeiten, das auch mit dem Bild umschrieben werden kann, dass uns wie bei einer eingestürzten oder zerstörten Brücke noch viele verlässliche Pfeilerstehen geblieben sind und uns mehr Gemeinsames verbindet als Trennendes hindert. Dennoch gibt es bei allen Erfolgen noch bestehende Hindernisse. Sie werden angesichts der wiedergewonnenen Gemeinsamkeit noch belastender”.
In welchen Spannungen lebt die Ökumene heute? Welche Zerreißproben sind gegenwärtig zu bestehen? Bei Antworten auf diese Fragen sind Vorentscheidungen über den gewählten Bezugsrahmen zu treffen: national oder international, bilateral oder multilateral, an den theologischen Kontroversfragen orientiert oder mit Blick auf die gelebte spirituelle und diakonische Ökumene in zahlreichen Praxisbereichen. Was ist in der verbleibenden Zeit vor dem 2. Ökumenischen Kirchentag (ÖKT) in München (12. bis 16. Mai 2010) in der spezifischen Situation insbesondere der Ökumene in Deutschland von besonderer Bedeutung?
Den 1. ÖKT mit dem 2. ÖKT vergleichen?
Bereits in den Tagen des ÖKT in Berlin 2003 (vgl. HK, Juli 2003, 334 ff.) kam den Verantwortlichen zu Bewusstsein, dass die Teilnehmenden sehr bald vom 1. ÖKT sprachen. Einem ersten ÖKT sollte ein zweiter folgen. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Erwartung formuliert wurde, konnte mit guten Gründen als authentische Zustimmung zu diesem gewagten Projekt auch auf Zukunft hin verstanden werden. Dahinter zurück sollte es nicht mehr gehen. Und so kam es auch. Wer auch immer heute bei Katholikentagen oder Deutschen Evangelischen Kirchentagen einen Redebeitrag einbringt, der oder die wird erleben, das die Eröffnung ökumenischer Kontexte sinnenfälligen Zuspruch erfährt. Versammelte Menschen applaudieren spontan, wenn die ökumenische Dimension des Besprochenen in den Blick kommt. Inzwischen ist das Gemeinsame Präsidium zur Vorbereitung des 2. ÖKT konstituiert, zwei Sitzungen fanden statt, die erste am 30. November 2007 in Verbindung mit einem Ökumenischen Kongress vom 30. November bis zum 1. Dezember 2007 (vgl. HK, Januar 2008, 8f., eine schriftliche Dokumentation dieses Kongresses ist beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken [ZDK] oder dem Deutschen Evangelischen Kirchentag [DEKT] erhältlich), die zweite am 17. Juni 2008 als eine außerordentliche Sitzung auf Wunsch einer Gruppe des Präsidiums, die gerne möglichst frühzeitig in die weiteren thematischen Planungen einbezogen sein wollte. Vorüberlegungen zur thematischen Ausrichtung dieses Ereignisses sind gemeinsam angestellt worden. Größere Überraschungen waren dabei kaum zu erwarten.
Von Beginn der Vorbereitung des 2. ÖKT an stand das Bemühen im Vordergrund, die gemeinsame Verantwortung aller christlichen Traditionen (nicht nur) in Deutschland für eine Verlebendigung des Evangeliums unter sozial-diakonischen Vorzeichen zu bedenken. Die Rede vom „Christsein in der Gesellschaft” sowie vom „Christsein für die Gesellschaft” gilt als der unbestrittene Grundgedanke des 2. ÖKT, dessen Leitwort auf der Grundlage der Vorarbeiten einer Gruppe von Expert/innen bei der dritten Sitzung des Präsidiums (24. bis 25. Oktober 2008) beraten und beschlossen wird. Bei allen schon getroffenen Vorentscheidungen bleibt es spannend. Das in der Nähe zu einem biblischen Text zu erwartende Leitwort wird bisher noch ungeahnte ökumenische Kräfte freisetzen. Kirchliche Großereignisse folgen eigenen Gesetzen. Sie medial zu begleiten, erfordert große Sensibilität. Zu wünschen ist, dass der 2. ÖKT unter ein gemeinsames Wort gestellt wird, das Sinne und Geist vieler Menschen anregt.
Anspannungen – so ist immer wieder zu hören – empfinden Mitarbeiter/innen des ZdK sowie des DEKT vor allem im Hinblick auf die Frage, welchen Fortschritt die Ökumenische Bewegung denn zwischen den beiden Kirchentagen erreicht haben könnte. Gibt es beim 2. ÖKT Neues zu vermelden, das über den 1. ÖKT hinausgeht?
Im Blick auf die Abendmahlsgemeinschaft ist keine Veränderung der Standorte zu erkennen
So recht ist keine positive Antwort auf diese Frage in Sicht. Im Blick auf die Abendmahlsgemeinschaft ist auf kirchenoffizieller Ebene keine Veränderung der konfessionellen Standorte zu erkennen. Sollte es somit einen 2. ÖKT geben, der bloß wiederholt, was bereits Geschichte ist? Warum auch nicht? Offenkundig lebt die Ökumene aus den Kräften ihrer unerschütterlichen Befürworter/innen. Über die Konfessionengrenzen hinweg als solche einander zu begegnen, bleibt ein Erlebnis, dessen Erinnerung niemandem mehr zu nehmen ist. Noch immer ist die Ökumene eine Umkehrbewegung, eine gemeinsame Hinkehr zum christlichen Evangelium. Nicht zuletzt dies können Ökumenische Kirchentage glaubwürdig erweisen. Drei Ziele hat das Gemeinsame Präsidium für den 2. ÖKT in den Blick genommen: die bereits bestehende Gemeinschaft des Vertrauens erfahrbar werden zu lassen, die gesellschaftlichen Herausforderungen gemeinsam in den Blick zu nehmen und die kontroversen Themen in der Hoffnung auf weitergehende Verständigung aufzunehmen.
Es wird unvermeidlich so sein, dass der 1. ÖKT mit dem 2. ÖKT verglichen wird. Wird sich dabei vermitteln lassen, dass die Konzentration auf (sozial-)ethische Themenbereiche der Intention nach kein Ausweichen vor den offenen theologischen Kontroversen ist? Es gibt gute Gründe dafür, diesem Argwohn widerständig zu begegnen: Die Erkundung der Mitte des Evangeliums war immer schon der Weg der Ökumene. Das ökumenische diakonische Handeln hat lange Zeit ein Schattendasein geführt. Heute ist dies anders. Und das ist gut so. Spannend wird es sein, miteinander zu erkunden, ob es wirklich konfessionell geprägte Sichtweisen ethisch begründeter Optionen gibt. Im Blick auf die Lebensgrenzen (Geburt und Tod) sind die Fragen groß und die Antworten vielfach noch zu finden. Der 2. ÖKT kann ein Ort werden, an dem solche Themenbereiche aufgenommen werden. Diese werden vorab in einer gemeinsamen Buchpublikation präsentiert. Der 2. ÖKT ist mit dem 1. ÖKT nicht zu vergleichen und doch werden beide Ereignisse miteinander verglichen werden. Das Ergebnis ist offen. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wird es in München 2010 keine kirchenamtlich gebilligte eucharistische Gemeinschaft aller Getauften geben. Gleichwohl gibt es Menschen, die dieses Ereignis erwarten. Sie werden älter und älter. Es gibt auch diese spannende Frage in der Ökumenischen Bewegung: Wie könnten junge Menschen für das ökumenische Anliegen gewonnen werden? Nach meiner Wahrnehmung gelingt dies kaum auf dem Weg der Reflexion der klassischen Kontroversfragen über die institutionelle Gestalt der Kirchen.
Die Möglichkeiten leben und sich die Wünsche bewahren
Wer zu ökumenischen Veranstaltungen bei Kirchen- und Katholikentagen geht, hat in der Regel in ökumenischer Perspektive das Wünschen noch nicht preisgegeben. Sehr spannungsreich kann es sein, am eigenen Lebensort in einzelnen (primär liturgischen) Geschehnissen eine weit offenere Haltung vorzufinden, als dies in der theologischen Argumentation begründet erscheint. Erstrebenswert ist eine solche Diskrepanz zwischen der pastoralen Praxis und der theologischen Reflexion nicht. Um sie zu wissen, gehört inzwischen jedoch zu den Selbstverständlichkeiten der ökumenischen Gegenwart.
Die auf Gemeindebasis lebbaren Möglichkeiten sind oft nicht sehr weit entfernt von den großen ökumenischen Wünschen. Es fehlt lediglich die kirchenoffizielle Erlaubnis zum ohnehin gewohnten Handeln. Sind diese Handlungsweisen der Erweis eines hohen Selbstbewusstseins der Glaubenden? Diese Frage ist gewiss tiefer begründet, als es die skeptische Rückfrage zu erkennen gibt: Die hintergründig erkennbare Problematik der noch nicht bestehenden Abendmahlsgemeinschaft dominiert auch im Vorfeld des 2. ÖKT latent die Stimmung: Wohl niemand unter den Verantwortlichen möchte dieses Thema angesichts des auch gegenwärtig aussichtslosen Kampfes gegen die divergierenden kirchenamtlichen Standorte in dieser Fragestellung in den Vordergrund rücken. Zugleich wissen alle Beteiligten darum, dass sich diese Thematik nicht einfach verschweigen lässt. Wenn die Abendmahlsfrage nicht auf der Leitungsebene des 2. ÖKT aufgegriffen wird, dann werden sich andere Kreise dieser Thematik umso intensiver annehmen. Bei der Vorbereitung des 2. ÖKT zeichnet sich ab, dass die Kontakte zu einzelnen Gruppierungen, die in Teilen der Programmgestaltung eine oppositionelle Haltung einnehmen, enger geworden sind. Man weiß, miteinander respektvoll umzugehen. Der 1. ÖKT war auch eine Lerngeschichte.
Die Ökumene in Deutschland lebt nicht allein von Großereignissen. Es gibt zahllose Beispiele für eine Handlungsform, die im alltäglichen Miteinander das Mögliche schon einmal ergreift und zugleich die weitergehenden Wünsche nicht aus dem Blick verliert. Nach dem 1. ÖKT haben sich viele Organisationen und Verbände mit vergleichbaren Intentionen gemeinsam auf übereinstimmende Ziele zusteuernd erfahren. Die evangelische Frauenbewegung oder die Jugendarbeit haben sich beispielsweise ganz neu als verwandt mit den römisch-katholischen Verbänden erfahren. Die erstmals aufgenommenen Kontakte bestehen fort. Der 2. ÖKT hat es in dieser Hinsicht sehr viel leichter als der 1. ÖKT. Man kennt sich. Man schätzt sich. Man weiß zumindest die Wege bei einer drohenden Konfliktsituation. Ein Ergebnis des 1. ÖKT war die Mitzeichnung der 2001 in Straßburg von der „Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und dem „Rat der Europäischen Bischofskonferenzen” (CCEE) unterschriebenen „Charta Oecumenica” durch die Mitgliedskirchen der „Arbeitsgemeinschaft der Christlichen Kirchen in Deutschland” (ACK). Inzwischen liegen von der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland erarbeitete Vorschläge für eine Konkretisierung der Charta Oecumenica vor. (Das Faltblatt „Gemeinsamer ökumenischer Weg mit der Charta Oecumenica” ist beziehbar über die Ökumenische Centrale der Arbeitsgemeinschaft der Christlichen Kirchen in Deutschland, Ludolfusstraße 2–4, 60487 Frankfurt, www.oekumene-ack.de.) Anregungen für ein neues ökumenisches Miteinander sind darin zusammengestellt worden, wie zum Beispiel: Die vorösterliche und die österliche Zeit in den Gemeinden in ökumenischem Sinn zu feiern; diese Zeit im Kirchenjahr bietet viele Möglichkeiten der Begegnung in der gottesdienstlichen Feier, bei Kreuzwegen oder bei Gesprächsabenden über die gemeinsame christliche Hoffnung auch angesichts des Todes.
Vom Nutzen ökumenischer Kooperation
Die Sorge um die gesamte Schöpfung verbindet Christinnen und Christen. Diakonische Projekte könnten in ökumenischer Trägerschaft vereinbart werden. In der Vorbereitung auf die Sakramente (vor allem bei der Taufe, Erstkommunion, der Firmung oder Konfirmation und der Ehe) wäre es wünschenswert, ökumenische Überlegungen stärker mit einzubeziehen. Die Öffentlichkeitsarbeit auf lokaler Ebene ließe sich besser miteinander abstimmen. Besuche auch bei kleineren christlichen Gemeinschaften könnten auf die Vielfalt der christlichen Zeugnisse ganz in der Nähe zum eigenen Wohnort aufmerksam machen.
Welche der vorüberlegten Konkretisierungen des ökumenischen Handelns sind in der Zwischenzeit an welchen Orten eingelöst worden? Es gibt dazu keine Erhebung. Gewiss ist eines: Die „Charta Oecumenica” hat durch den 1. ÖKT an Bekanntheit in Deutschland gewonnen, die sonst kaum vorstellbar gewesen wäre. Auch wenn manche ökumenischen Wünsche bisher unerfüllt blieben, so sind doch durch den 1. ÖKT die ökumenischen Handlungsweisen selbstverständlicher geworden. Eine Veränderung des Bewusstseins setzt sich durch: Begründungsbedürftig ist nicht das, was Christinnen und Christen gemeinsam tun, vielmehr das, was sie ausschließlich in Eigenverantwortung tun. Dieses in der Ökumenischen Bewegung früh schon formulierte Prinzip gewinnt nicht zuletzt angesichts der Personalnot in Bereichen amtlicher Leitung an Bedeutung. So manche konfessionell geprägten Gemeinden erkennen, dass es von Gewinn sein kann, ökumenisch zu kooperieren.
In der Ökumenischen Theologie ist ein Praxisbereich im Blick, der in der öffentlichen Aufmerksamkeit eher im Hintergrund steht: die ökumenische Kooperation im Bereich der Schulen. Angesichts der Tatsache, dass viele Kinder und Jugendliche in Zukunft vor allem über die schulische Bildung Zugang zu religiösen Themen finden werden, erscheint es höchst angemessen, diesem Bereich der ökumenischen Bildung hohe Aufmerksamkeit zu schenken. In einzelnen deutschen Bundesländern, die angesichts ihrer bildungspolitischen Eigenverantwortung unterschiedliche Regelungen im Blick auf die Gestaltung ökumenischer Kooperation im Religionsunterricht vorsehen können, werden Modelle erprobt, die zu einer differenzierenden Nachahmung anregen. So gibt es in Baden-Württemberg seit dem Schuljahr 1997/98 von der evangelischen und der römischkatholischen Kirche offiziell genehmigte Projektversuche im Hinblick auf einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Erste Analysen der Erfahrungen bei ökumenischer Kooperation im Religionsunterricht zeigen, dass die örtlichen Bedingungen vor allem aufgrund der unterschiedlichen personellen Zusammensetzung des Kollegenkreises und der dabei zuweilen noch immer anzutreffenden konfessionell kontroversen Grundpositionen oft stark differieren. Anzustreben wäre eine Verbesserung der Vorbereitung der Religionslehrer auf die sie erwartenden ökumenischen Herausforderungen durch eine Verstärkung des Pflichtanteils ökumenischer Theologie in der universitären Ausbildung. Empirische Studien belegen, dass ökumenische Fragen vorrangig ältere Christen bewegen, die in der Regel gemeindlich-kirchlich sozialisiert sind. Junge Menschen werden weniger von den ökumenisch relevanten Fragen der Ekklesiologie als vielmehr von grundlegenden Fragen des Gottesglaubens, der Theodizee und der Ethik umgetrieben. In dieser Situation gilt es, den Religionsunterricht als einen Lernort zu gestalten, an dem Kindern und Jugendlichen die existentielle Bedeutung des christlichen Gottesbekenntnisses eröffnet wird.
Die Mitte suchen oder die Randthemen entfalten
Die Lehre der Unterscheidung zwischen den Themen, die in der Mitte des christlichen Glaubens stehen, und anderen, die eher Randbereichen zuzuordnen sind, ist der Ökumenischen Theologie eigen. Auch Ökumenische Kirchentage können als ein Umkehrprozess wahrgenommen werden, in dem alle Konfessionsgemeinschaften sich nochmals auf das Wesentliche besinnen. In der Tradition der Römisch-katholischen Kirche gilt es an dieser Stelle an die Tradition der „Hierarchie der Wahrheiten” zu erinnern. (Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Unitatis Redintegratio, Nr. 11,3.). Neuere ökumenische Vereinbarungen, die kirchenamtliche Verbindlichkeit für sich beanspruchen, haben diesen Weg beschritten und auf grundlegende Übereinstimmungen in der christlichen Lehrtradition aufmerksam gemacht. An erster Stelle ist diesbezüglich die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre” zu nennen, die Übereinstimmungen in Grundwahrheiten des christlichen Glaubens zwischen der lutherischen und der römisch-katholischen Kirche festgestellt hat. Inzwischen haben auch weitere christliche Traditionen dieser Übereinkunft zugestimmt. Im Blick auf den 2. ÖKT stimmt die wachsende Vertrautheit mit der multilateralen christlichen Ökumene hoffnungsfroh. Auch dies ist ein Weg zur Mitte des Glaubens.
Ist es angemessen, möglicherweise bestehende theologische Spannungen zwischen den Konfessionen dadurch zu verharmlosen, dass eine Reduktion auf die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens geschieht? Stehen die Kirchen nicht angesichts ihrer Aufgabe, in der Nachfolge Jesu Christi das Evangelium zu verkündigen, vor der Herausforderung, sich in all ihren Handlungsformen dem richtenden Wort der biblischen Schriften zu unterstellen? Es mangelt in der Römisch-katholischen Kirche an einem geordneten Verfahren, das die Rezeption der Ergebnisse ökumenischer Gremien sicherstellte.
So liegen beispielsweise zwei weitere Dialogergebnisse vor, die es nicht mehr sinnvoll erscheinen lassen, unbedacht von einem „defectus ordinis” (Fehlen oder Mangel des Amtes) in den evangelischen Kirchen zu sprechen. (Vgl. The Apostolicity of the Church. Study Document of the Lutheran-Roman Catholic Commission on Unity, The Lutheran World Federation – Pontifical Council for Promoting Christian Unity, Minneapolis 2006. Die deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung und wird 2008 im Lembeck-Verlag, Frankfurt, erscheinen; Dorothea Sattler und Gunther Wenz [Hg.], Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge. Bd. III: Verständigungen und Differenzen, Freiburg / Göttingen 2008.) Darf dies gesagt werden im Umfeld des 2. ÖKT? Die Amtsträger/innen vieler Konfessionen kommen sich bei einem solchen Kommunikationsgeschehen näher. Wer sich auf das Argument der Erfahrung (via empirica) beruft, hat oft schlechte Argumente bei der Bestreitung der Apostolizität der evangelischen Ämter. Vertreter/innen einer konsensorientierten Ökumenischen Theologie erleben derzeit nicht nur den Schmerz der Nichtbeachtung ihrer Dialogergebnisse, sie stehen heute zudem in den eigenen theologischen Reihen verstärkt unter dem Verdacht, durch ihre irenische Haltung die bestehenden Differenzen zu verharmlosen und auf diese Weise die Ökumene zu belasten. Unter diesem Vorzeichen nehme ich auch die Veröffentlichung einer Studie wahr, die von Profilökumeniker/innen mit Applaus, von Konvergenzökumeniker/innen mit Skepsis begrüßt wurde: Auf Anregung des (damaligen) Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, hat eine Gruppe von sechs evangelischen und römisch-katholischen Theologen (Professoren der Päpstlichen Lateranuniversität und der Evangelischen Fakultät Tübingen) das Ziel verfolgt, sich wechselseitig die (aus ihrer Sicht auf immer unvereinbar bleibenden) Voraussetzungen bei der Auslegung des gemeinsamen Glaubens zu erläutern (vgl. Eilert Herms und Lubomir Zak [Hg.], Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen 2008). Der wissenschaftliche Austausch über die Ergebnisse hat gerade erst begonnen. Ihn zu intensivieren, wird sehr wichtig sein. Soll es stimmen, dass alle konfessionellen Theologien zwar auf die gemeinsame Sache bezogen sind, dabei aber von solch unterschiedlichen Prinzipien geleitet werden, dass in der Ökumene bestenfalls ein tolerantes Verständnis füreinander zu erwarten ist? Ich kann – manche werden denken: will – dies nicht so sehen.
Auf Zeiten und Personen achten
Ökumene ist immer auch Teil der weltweiten Kirchenpolitik und daher allein auf der Grundlage sachlicher Argumentationen nicht hinreichend zu verstehen. Persönlichkeiten mit ihren Eigenarten und divergierenden Standorten prägen die ökumenische Theologie mehr als andere Bereiche. Bereits diese Gewissheit bietet die Aussicht, sich zuversichtlich die Spannung bewahren zu können. Wer wüsste von uns, welche kirchenleitenden Persönlichkeiten zukünftig die Ökumenische Bewegung gestalten? Unter dem Wort Gottes, das um der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses für Jesus Christus zur Einheit in seiner Nachfolge mahnt (vgl. Joh 17,21), stehen alle, die sich Christinnen und Christen nennen. Gottes Geist wird daran immer wirksam erinnern. Die Kirchen sind alternativlos auf einem nicht selbst gewählten Weg zur Einheit. Es wird noch dauern. Für die Zwischenzeit gilt (auch) in der Ökumene der Rat: „Vor jeder Begegnung: Denk, was der andere für einen Weg hatte”.