Der Weg der lateinamerikanischen Kirche seit MedellínOption für die Armen

Im kolumbianischen Medellín trafen sich vor vierzig Jahren Bischöfe aus ganz Lateinamerika zu ihrer Zweiten Generalversammlung. Damals formulierten sie, angeregt durch das Zweite Vatikanische Konzil, die „Option für die Armen“ als grundlegende Verpflichtung. Diese Option hat sich seither durchgehalten und wurde 2007 bei der fünften Generalversammlung in Aparecida bekräftigt.

Nur wenige Wochen vor den Feiern zu seinem 80.Geburtstag erschien im März 2008 ein Beitrag von Gustavo Gutiérrez mitdem Titel „Die V.Konferenz in Aparecida und die Option fürdie Armen“ (La V. Conferencia en Aparecida y la opción porlos pobres, in:Sociedad Argentina de Teología [Hg.],El desafío de hablar de Dios en la América Latina del siglo XXI. Buenos Aires, 2008,13–31).Gutiérrez versucht darin eine Analyse des Schlussdokuments der Fünften Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik (13. bis 31. Mai 2007); und das unter spezifischem Blickwinkel. Er will den Stellenwert der sogenannten „Opción por los pobres“ in der Beschlussfassung der Versammlung herausarbeiten. Jener „Option“ von der er sagt, dass sie 90 Prozent dessen enthalte, was die Befreiungstheologie ausmache (vgl. Meine größte Sorge gilt der Befreiung meines Volkes. Interview mit Gustavo Gutiérrez, in: Orientierung 70 [2006]107/108,108). Dem Peruaner, der seit dem Jahr 2001 dem Dominikanerorden angehört, geht es dabei nicht nur um eine Abwägung der Geschehnisse der jüngsten Generalversammlung des CELAM am brasilianischen Marienwallfahrtsort Aparecida, sondern um eine Prüfung der Inhalte des Schlussdokuments auf theologische Kontinuität. Als Kriterium dient ihm der Zentralbegriff und -inhalt der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung: die Option für die Armen.

Sein Herangehen macht klar, dass es um mehr geht, als um das Erstellen einer Begriffsstatistik. Gutiérrez geht es, auch nach vierzig Jahren seines theologischen Denkens, um den Ansatz der Theologie insgesamt. Deshalb muss auch, wer die Argumentation im weiteren Kontext lesen will, vier Jahrzehnte Revue passieren lassen und zurückblicken.

Die Initiative zur Einberufung einer Zweiten Generalversammlung des CELAM

Just vor 40 Jahren, am 24. August 1968 eröffnete Paul VI. in der Catedral Primada de Colombia von Bogotá die Zweite Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats. Es war die erste Reise eines Papstes nach Lateinamerika, aber nicht die erste von Paul VI. Dieser hatte bereits im Jahr 1960 als Erzbischof von Mailand den Kontinent besucht. Die Reise muss ihn derart beeindruckt haben, dass er sogar zu Beginn seiner Sozialenzyklika über die Entwicklung der Völker Populorum progressio (1967) noch darüber schreibt. Er sei dort zum ersten Mal „mit den beängstigenden Problemen“ der unmenschlichen Armut direkt in Kon-akt gekommen (Vgl. PP, 4). Überdies habe der Papst in einer Privataudienz, so weiß es der frühere Erzbischof von Panama, Marcos McGrath, zu berichten, mitgeteilt, dass er während des Arbeitens an der Enzyklika an die Erfahrungsberichte der lateinamerikanischen Bischöfe gedacht habe, mit denen er während des Konzils sprach (Vgl. Marcos McGrath,Vaticano II. Iglesia de los pobres y teología de la liberación, in: Medellín 21 [1995] 371–407, 383).

Das zehnjährige Bestehen des CELAM bot den offiziellen Anlass für eine Begegnung zwischen dem Papst und den lateinamerikanischen Bischöfen aus 20 Nationen. Den meisten der anwesenden Bischöfe war bekannt, dass das Verhältnis des Papstes zum Sprecher des lateinamerikanischen Episkopats, dem Bischof von Talca (Chile) Manuel Larraín Errazuriz, auf gegenseitiger Sympathie beruhte. Jener hatte auch im Vorfeld der Audienz dem Papst die Idee von einer zweiten Generalversammlung vorgetragen und zudem darauf hingewiesen, dass man sie in Verbindung mit dem bevorstehenden 39. Eucharistischen Weltkongress in Bogotá planen könnte. Etwa einen Monat vor Beginn der vierten und letzten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils schrieb deshalb Larraín an Antonio Samoré, damals Sekretär der Kongregation für die außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten: Es gehe um eine weitere Generalversammlung des CELAM unter dem Thema: Die Anwendung der konziliaren Beschlüsse auf Lateinamerika. Sie solle, wenn möglich, in zweieinhalb Jahren stattfinden.

Zwei Wochen vor Konzilsende, am 23. November 1965, kam es dann zum offiziellen Treffen zwischen Paul VI. und den lateinamerikanischen Bischöfen. Der Papst empfahl den Hörern – dem Modell von Gaudium et spes (Sehen, Urteilen, Handeln) entsprechend –, die Arbeit an einer Analyse der lateinamerikanischen Realität aufzunehmen und die Planung einer darauf aufbauenden Pastoral, die eine signifikante „acción social“ für die jeweilige Regionen beinhalte, anzugehen. Bischof Larraíns Vorschläge waren also gehört worden: Papst Paul VI. hatte die Zweite Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats für 1968 nach Medellín berufen.

Die Armut rückt ins Blickfeld

Die Versammlung von Medellín ist ohne die Geschehnisse und die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht denkbar. Segundo Galilea berichtete als Zeuge dieser Zeitgeschehnisse: „Im Allgemeinen war Lateinamerika auf das Zweite Vatikanische Konzil nicht vorbereitet, weder was die Breite der dort angesprochenen Probleme noch was seine pastoralen und dogmatischen Reformen angeht. Der größte Teil des lateinamerikanischen Katholizismus und des Klerus hatte die Entwicklung des christlichen Denkens in den letzten Jahrzehnten nicht genügend mitvollzogen. (...) Aber es stimmt auch, dass zahlreiche katholische Gruppen und Eliten Veränderungen in der Kirche (...) wünschten und dafür arbeiteten. Sie waren beunruhigt angesichts der wachsenden Distanz zwischen der ,traditionellen‘ Pastoral und den Bedürfnissen des Volkes (...). Der Übergang von der agrarischen zu einer mehr und mehr urbanen Gesellschaft und das Anwachsen des kritischen Bewusstseins im sozialen und politischen Bereich schufen mehr und mehr eine neue Situation“ (Segundo Galilea, Lateinamerika in den Konferenzen von Medellín und Puebla. Beispiel für eine selektive und kreative Rezeption des Konzils, in: Hermann J. Pottmeyer [Hg.], Die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils, Düsseldorf 1986, 85–103, 85). Auch die Erwartungen vieler Bischöfe und Teilnehmer der Zweiten Generalversammlung dürften höchst unterschiedlich gewesen sein. Exemplarisch zeigt das eine Auskunft des Kardinals und ehemaligen Erzbischofs von Aparecida, Aloísio Leo Arlindo Lorscheider, damals junger Bischof von Santo Angelo: „Als ich nach Medellin reiste, da hatte ich zwar die Unterlagen von Medellin in meinem Gepäck, aber so ganz wusste ich nicht, was ich dort tun sollte.“ In all diese gesellschaftlichen und kirchlichen Umbrüche hinein wählte man das Leitthema der Zweiten Generalversammlung. Es sollte die Anbindung an das Konzil unterstreichen. Man wählte die Formulierung: „La Iglesia en las actuales transformaciones de América Latina a la luz del Concilio“ – „Die Kirche in den gegenwärtigen Umwandlungen Lateinamerikas im Licht des Konzils.“

Als der Papst schließlich am Donnerstag, den 22. August 1968 am Flughafen El Dorado in Bogotá eintraf, erwarteten nicht wenige der Versammlungsteilnehmer von ihm eine Orientierungshilfe bei der Umsetzung des Leitthemas. Dass viele Bischöfe die Reden des Papstes, welche er in den zwei Tagen zwischen Ankunft in Bogotá und der Eröffnung der Versammlung hielt, als Richtungsangaben sahen, belegt ihre häufige Zitation in den 16 Schlussdokumenten. Obwohl der Papst zwischen Ankunft und Eröffnung der Versammlung mindestens elf Ansprachen und Predigten auf kolumbianischem Boden hielt, werden in den Schlussdokumenten nur vier davon erwähnt: Die Predigt anlässlich der Weihe von 200 Priestern und Diakonen (22. August 1968) wird viermal, die Predigt bei der Messe mit den kolumbianischen „Campesinos“ (23. August 1968) wird dreimal, die Predigt bei der Messe zum „Tag der Entwicklung“ (23. August 1968) wird siebenmal und die Rede zur Eröffnung der II. Generalversammlung der Lateinamerikanischen Bischöfe (24. August 1968) wird elfmal zitiert. Insgesamt beruft man sich fünfundzwanzig Mal auf die damals aktuellsten Äußerungen des Papstes. Dennoch ging der entscheidende Impuls für die Versammlung insgesamt wohl nicht von diesen Reden aus. José Oscar Beozzo hat minutiös alle 16 Schlusstexte auf ihre Quellenangaben hin untersucht und kam zum Ergebnis, dass dem Beitrag von Gaudium et spes mit 42 Zitationen der Vorrang gegeben werde, während man sich auf Lumen gentium 36 Mal beziehe. „Das II. Vatikanum ist allgemein der wichtigste Bezugspunkt von Medellín und wird 233 Mal zitiert, aber in ausgesprochen selektiver Weise: drei seiner Dokumente werden nicht ein einziges Mal in den Fußnoten zitiert (UR, OE und DH), während zwei nur einmal erwähnt werden (DV und NA). Bemerkenswert ist die Missachtung von Dokumenten des Stellenwertes von Dignitatis humanae über die Religionsfreiheit oder Unitatis redintegratio über den Ökumenismus“ (José Oscar Beozzo, Das II. Vatikanum und der kulturelle Wandel in Lateinamerika, in: Peter Hünermann [Hg.], Das II. Vatikanum – christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen, Paderborn, 1998, 175). Neben den beiden großen Konstitutionen des Konzils wird die jüngste Sozialenzyklika des Papstes zum Hauptreferenztext der Bischöfe. 23 direkte und indirekte Bezugnahmen auf Populorum progressio lassen sich in den Beschlussfassungen der Bischöfe des CELAM finden.

Botschaft an die Völker Lateinamerikas

Auch eine Betrachtung vom Ende der Versammlung her bietet einen Einblick in den Prozess der „Conferencia general“. Es wurde zur Gepflogenheit, dass man gegen Ende jeder Generalversammlung den Beschlüssen eine „Mensaje a los pueblos de América Latina“ beigibt. Aus dem Selbstzeugnis der Bischöfe in dieser abschließenden „Botschaft an die Völker Lateinamerikas“ erhält man auch heute noch einen nachvollziehbaren Eindruck von den Orientierungsmaßstäben der Bischöfe, die sie sich auf der zurückliegenden Konferenz selbst gaben. Es heißt dort: Lateinamerika sei ein Kontinent „voller Hoffnungen. Seine beängstigenden Probleme kennzeichnen ebenfalls diese Realität mit Zeichen von Ungerechtigkeiten (...). Die Vielfältigkeit und Schwierigkeit seiner Probleme übersteigt diese Botschaft. Lateinamerika scheint noch unter dem tragischen Zeichen der Unterentwicklung zu leben, was unsere Brüder, nicht nur vom Genuss der materiellen Güter, sondern auch von ihrer eigenen menschlichen Verwirklichung trennt.“

Der Ernst, mit dem man den oben genannten päpstlichen Auftrag vom 23. November 1965 zur Analyse der lateinamerikanischen Realität umsetzen wollte, ist auch den folgenden Sätzen zu entnehmen: Trotz der gegenwärtigen Bemühungen gebe es immer noch Hunger und Elend, Massenerkrankungen und Kindersterblichkeit, Analphabetismus und Marginalität, enorme Lohnunterschiede und Spannungen zwischen den Klassen, Anfänge der Gewalt und geringe Teilnahme des Volkes in Fragen des Gemeinwohls. Als Christen glauben die versammelten Bischöfe, dass diese geschichtliche Etappe Lateinamerikas innig verbunden sei mit der Heilsgeschichte. Als Bischöfe wolle man sich selbst konfrontieren mit dem Leben der lateinamerikanischen Völker, die sich auf der Suche nach geeigneten Lösungen für ihre vielschichtigen Probleme befänden. Bei der Vorstellung der Beschlüsse wiesen Avelar Brandao Vilela, damaliger Präsident des CELAM, und Eduardo Francisco Pironio, damaliger Generalsekretär des CELAM, darauf hin, dass die umfassende, integrale Förderung des Menschen unter den Bedingungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität geleistet werden müsse. Nur in konkreten gesellschaftlichen Teilbereichen könne sie stattfinden: Gerechtigkeit und Frieden, Familie und Demografie, Erziehung und Jugend.

Die Aufteilung der Dokumente anhand solcher Einzelbereiche, die wiederum in den drei großen Blöcken „Menschliche Entwicklung“, „Verkündigung und Glaubenswachstum“ sowie „Die sichtbare Kirche und ihre Strukturen“ zusammengefasst wurden, war auf den Sitzungen der Versammlung verfeinert worden und führte schließlich zu den 16 einzelnen und themenbezogenen Schlussdokumenten. Bewusst entschied man sich für thematisch zugeordnete Dokumente, die trotz der je eigenen Akzente von einem durchgängigen Bestreben zeugen sollten: das Bemühen der Bischöfe, die lateinamerikanische Kirche verstärkt als „Kirche der Armen“ zu verstehen. Wer aber in den Medellíntexten nach einem ausdrücklichen, begrifflich fassbaren Bekenntnis der Bischöfe zur „Kirche der Armen“ sucht, wird enttäuscht. Nicht einmal der Terminus „Kirche der Armen“ findet sich. Die Konversion der Kirche als „Kirche der Armen“ vollzieht sich vielmehr auf der Ebene der Methode. Der erste Schritt aller Dokumente ist die Frage nach den Bedingungen der Realität. Jedes Dokument hält sich streng an den Dreischritt von Sehen-Urteilen-Handeln. Im Sinne einer programmatischen Überschrift über alle 16 Einzelanalysen beginnt das erste Dokument zur „Gerechtigkeit“ mit dem Satz: „Über die Situation des lateinamerikanischen Menschen gibt es viele Studien. In allen wird das Elend beschrieben, das große Menschengruppen in die Randzonen des Gemeinschaftslebens drängt. Dieses Elend als Massenerscheinung ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit“ (Dokument „Gerechtigkeit“, 1).

Gegen die Mechanismen der Unterdrückung

Das Dokument über die „Armut der Kirche“ zählt zweifelsohne zu den – nicht nur aus damaliger Sicht – ungewöhnlichen Texten. Seine wesentlichen Argumentationsschritte und die Kürze seines Gesamtumfangs bringen das oben genannte Grundanliegen der Gesamtkonversion der Kirche als „Kirche der Armen“ wohl am treffendsten zum Ausdruck. Ähnlich eindrucksvoll wie im Dokument zur Gerechtigkeit beginnen die Bischöfe auch das vierzehnte Dokument zur „Pobreza de la Iglesia“ (Armut der Kirche). An den Anfang stellen sie eine Selbstverpflichtung: „Der lateinamerikanische Episkopat darf angesichts der ungeheueren sozialen Ungerechtigkeiten in Lateinamerika nicht gleichgültig bleiben“. Die Bischöfe demonstrieren damit nicht nur ihren Willen zur Solidarität mit und zur Anwaltschaft für die Armen, sondern auch den unmittelbaren Einfluss der aktuellen Botschaften des Papstes, auf die man sich in der Argumentation beruft. Dem Eingangssatz folgend hält man fest: „Es erhebt sich ein stummer Schrei von Millionen von Menschen, die von ihren Hirten eine Befreiung erbitten, die ihnen von keiner Seite gewährt wird. ,Ihr hört uns jetzt schweigend zu, aber Wir hören den Schrei, der aus euren Leiden emporsteigt‘“ (Medellín, „Armut der Kirche“, Nr. 2). Die Versammlung zitiert hier Paul VI., der einen Tag bevor er die zweite Generalversammlung eröffnete, eine Predigt in der Diözese Facatativá, nahe Bogotá, hielt. Dort sprach er zu tausenden armen Bauern auf freiem Feld bei San José de Mosquera und versicherte ihnen, dass der Papst die Bedingungen ihrer Existenz kenne. Es seien die Bedingungen des Elends, die nicht selten unterhalb des Existenznotwendigen lägen. Aus dieser Realität höre er den Schrei, der aus ihren Leiden emporsteige. Puebla wird elf Jahre später diese Passage unter der Überschrift „Ante el clamor por la justicia“ („Angesichts des Schreies nach Gerechtigkeit“, Puebla, Nr. 87–109) aufnehmen und kommentieren: „Wohl mag dieser Schrei damals stumm gewesen sein. Jetzt ist er klar vernehmlich, seine Stärke wächst, er ist heftig und zuweilen sogar drohend.“ (Puebla, Nr. 89).

Obwohl in den angegebenen Passagen (und in den 16 Dokumenten von Medellín) der Begriff der „Option für die Armen“ nicht formuliert wurde, kann, der Sache nach, der folgende Text als eine tragende Basis gelesen werden, auf dem Thema und Inhalt der „Option für die Armen“ auf- und fortgebaut werden: „Die Armut so vieler Brüder und Schwestern schreit nach Gerechtigkeit, Solidarität, Zeugnis, Engagement, Anstrengung und Überwindung für die volle Erfüllung des von Christus anvertrauten Heilsauftrags. (...) Wir müssen das Gewissen zur solidarischen Verpflichtung mit den Armen, zu der die Nächstenliebe uns führt, schärfen. Diese Solidarität bedeutet, dass wir uns ihre Probleme und Kämpfe zu eigen machen und für sie zu sprechen wissen“ (Medellín, „Armut der Kirche“, 7 und 10). Man sieht an der Zusammenschau der beiden Zitate den Übergang vom zweiten, urteilenden Schritt der „Motivación doctrinal“ zum dritten, praxisorientierten Schritt „Handeln“ unter der Überschrift „Orientaciones pastorales“ („Pastorale Leitlinien“). Die zur Kenntnis genommene Realität wird von den Bischöfen bewertet. Ziele für die pastorale Praxis schließen sich an.

Die bewusst entschiedene Parteinahme für die Armen agiert in zwei Richtungen: zu Gunsten der Armen und gegen die Mechanismen der Unterdrückung – so heißt es weiter: „Dies muss sich in der Anklage der Ungerechtigkeit und Unterdrückung konkretisieren, im christlichen Kampf gegen die unerträgliche Situation, die der Arme häufig erleiden muss, in der Bereitschaft zum Dialog mit den für diese Lage verantwortlichen Gruppen, um ihnen ihre Pflichten begreiflich zu machen“ (Medellín, „Armut der Kirche“, Nr. 10). Von Gustavo Gutiérrez übernahm die Versammlung eine dreifache Bestimmung des Armutsbegriffs: als (1) ungerechtem Übel des Mangels an Gütern, als (2) spirituelle Armut in der Offenheit für den Willen Gottes und als (3) Selbstverpflichtung der Kirche zur materiellen Armut, die die Solidarität mit den Armen und den Protest gegen die Situation, unter der jene leiden, einschließt. Das dritte Kriterium bezeugen die „Pastoralen Leitlinien“ (Medellín, „Armut der Kirche, Nr. 8–18). Man beschließt: Das Leben in Armut und der Verzicht auf überflüssige materielle Güter sei ein Aufruf an alle Glieder der Kirche – an Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien – und die Voraussetzung für eine glaubhafte Kirche, die inmitten bitterer Armut die Botschaft Christi verkünde.

Das „Sehen“ der Kirche als „Kirche der Armen“

Die Selbstbestimmung der lateinamerikanischen Kirche als „Kirche der Armen“ in Medellín ist in erster Linie keine Bekehrung auf ideologischem Hintergrund. Die Dokumente geben für ein solches Argument keinen Anlass. Die Selbstbestimmung der lateinamerikanischen Kirche als „Kirche der Armen“ ist eine Konsequenz aus dem päpstlichen Auftrag vom 23. November 1965, in dem Paul VI. selbst den Bischöfen die Methode von Gaudium et spes bei der Anwendung des Konzils auf lateinamerikanischem Boden empfahl. Indem die Bischöfe die Realität des Kontinents analysierten, bewerteten und dann erst in die Planung der pastoralen Praxis übergingen, konnten sie inmitten tausender Menschen, die an der ungeheueren Geißel von Armut und Hunger leiden, gar nicht anders als ihre Ortskirche so zu bestimmen, was sie ist: eine „Kirche der Armen“. Dieser Aspekt kann in der Bewertung der Dokumente von Medellín nicht oft genug betont werden: Die Konversion der lateinamerikanischen Kirche als „Kirche der Armen“ ist eine Konsequenz der Methode, die Gaudium et spes vorgab. Die Neuorientierung in Medellín vollzog sich mit päpstlichem Auftrag. Von ihm stammt der Aufruf zum Perspektivenwechsel, den Johannes XXIII. schon 1961 mit „Mater et Magistra“ als „Wandel der Sozialverkündigung“ vollzogen hatte und der sich auch unter Paul VI. mit der Erstbetonung der realitätsnahen Analyse durchsetzte.

Deshalb stimmt auch die Anmerkung, dass die versammelten Bischöfe in Medellín jene Zeichen der Zeit bevorzugten, die von den sozialen Ungerechtigkeiten und Entmenschlichungen herrührten, denn nur so konnten sie eine offene und realistische Analyse der sozialen Wirklichkeit ihres Kontinents vornehmen. Die Bischöfe haben in ihrer „Botschaft an Völker Lateinamerikas“ diesen eingeschlagenen Weg untermauert: „Wir glauben, dass wir uns in einem neuen historischen Abschnitt befinden. Er fordert Klarheit zu Sehen, Deutlichkeit zum Beurteilen und Solidarität zum Handeln. Im Lichte des Glaubens (...) haben wir uns bemüht, den Plan Gottes in den ,Zeichen der Zeit‘ zu erkennen. (...) Aus Treue zu diesem Plan Gottes und um den in die Kirche gesetzten Hoffnungen zu entsprechen, möchten wir das anbieten, was wir als Ureigenstes haben: eine Gesamtsicht des Menschen und der Menschheit und die ganzheitliche Sicht des lateinamerikanischen Menschen in der Entwicklung.“

Die dritte Generalversammlung von Puebla (28. Januar bis 13. Februar 1979) fasste elf Jahre nach Medellín die eigentliche theologische Tragweite der Konversion der Kirche als „Kirche der Armen“ in ein klareres Schema. Indem sie ein eigenes Kapitel über „Die präferentielle Option für die Armen“ – als vorrangige Entscheidung für die Armen – ausarbeitet, versucht sie den in Medellín beschrittenen Weg noch weiter zu systematisieren. Ebenso wie die Konversion der Kirche als „Kirche der Armen“ in Medellín, so ist auch die Begriff der Option für die Armen der Ausdruck einer notwendigen Konsequenz der in Gaudium et spes grundgelegten Würdigung der Wirklichkeit als Ort göttlicher Offenbarung.

Fortbauen am theologischen Fundament

Nach wie vor existiere, so hält man gleich im ersten Kapitel des Abschlussdokuments (Puebla, Nr. 29/30) fest, die lateinamerikanische Kirche inmitten von Millionen Menschen, die in Armut und Elend lebten. Indem die Kirche sich nun dieser Wirklichkeit zuwende, könne sie sich auch nur als „Kirche der Armen“ bezeichnen. In Puebla gelingt es, diese kirchliche Konversionsbestrebung, nur einen Satz später, auf subjekttheologischem Fundament nochmals zu unterfangen und ihre Bedeutung für das Handeln des einzelnen Christen und der Kirche herauszustellen: weil Gott selbst durch Jesus Christus in den Armen präsent ist, deswegen sind die Armen die bevorzugten Adressaten des kirchlichen Lebens.

Christus spricht in „den Gesichtern der Kinder“, den Gesichtern der „jungen Menschen“, den Gesichtern „der Indios“, den Gesichtern der „Landbevölkerung“, den Gesichtern der „Arbeiter“, den Gesichtern der „Unterbeschäftigten und Arbeitslosen“, „den Gesichtern der Randgruppen der Gesellschaft“ und „den Gesichtern der Alten“ zu den Menschen (Puebla, Nr. 32– 39). Damit war in Puebla, der Textvorschlag stammte von den Bischöfen Leonidas Proaño aus Riobamba (Ekuador) und Germán Schmitz, Weihbischof in Lima (Peru), ein christologischer Referenztext geschaffen worden, der auf der vierten „Conferencia general“ von Santo Domingo (12. bis 28. Oktober 1992) bestätigt und erweitert wurde (Santo Domingo, Nr. 178/179). Auf diesen Referenztext bezieht sich auch die jüngste, die fünfte Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida. In einem der ersten Beschlüsse, der dort zu fassen war, hatten die versammelten Hirten „die Realität wieder zum Ausgangspunkt für die Arbeit der Versammlung“ gemacht (Norbert Arntz, Die Bischofsversammlung von Aparecida – Neues Pfingsten oder alte Gleise? in: Missionszentrale der Franziskaner [Hg.]: Bischofsversammlung Aparecida 2007. Neues Pfingsten oder alte Gleise? Bonn 2007, 7–18, 8). Es kann nicht geleugnet werden, dass auch diese Versammlung viele Hindernisse zu überwinden hatte: angefangen bei der Frage des Versammlungsortes bis hin zur auftretenden Skepsis während der Vorarbeiten (wie das geringe Interesse am Vorbereitungsdokument zeigte) und endend bei der deutlichen Kritik im Nachhinein, die durch die Veränderungen am Beschlusstext hervorgerufen wurde. Es lässt sich dennoch ein wesentlicher Verdienst im Schlusstext von Aparecida herausheben.

Über Puebla und auch Santo Domingo hinaus

Gutiérrez kommt in seiner Analyse des Aparecida-Dokuments auf den Zusammenhang zwischen christologischem Fundament und den realen Gesichtern der Armen zu sprechen. Es sei jene theologische Überzeugung, die ausdrücklich seit Puebla (und latent seit Medellín) in den Schlussdokumenten der Generalversammlungen zu finden sei. Die versammelten Bischöfe von Aparecida hätten dies ins Kapitel „Die vorrangige Option für die Armen und Ausgeschlossenen“ integriert, wo es heißt: „Wenn diese Option implizit im christologischen Glauben enthalten ist, müssen wir in Christus als Jünger und Missionare in den Leidensantlitzen unserer Geschwister das Antlitz Christi anschauen, der uns auffordert, ihm in ihnen zu dienen“ (Aparecida, Nr. 393). Man geht sogar noch über Puebla und auch Santo Domingo hinaus, indem man den Antlitzen weitere konkrete Züge verleihen will: „Durch die Globalisierung werden in unseren Völkern neue Gesichter von Armen erkennbar. In Kontinuität mit den vorangegangenen Generalversammlungen richten wir daher besonders aufmerksam unseren Blick auf die neuen Ausgeschlossenen: auf die Migranten und die Opfer von Gewalt, auf Vertriebene und Flüchtlinge, auf Opfer von Entführungen und Menschenhandel, auf Verschwundene, auf Menschen, die an HIV und anderen Pandemien erkrankt sind, auf Drogenabhängige und ältere Menschen, auf Mädchen und Jungen, die zu Opfern von Prostitution, Pornographie und Gewalt oder von Kinderarbeit werden; auf misshandelte Frauen, die gesellschaftlich ausgeschlossen und Opfer von Menschenhandel zu sexueller Ausbeutung sind. Diese Bestimmung der „Antlitze Christi“ ist den versammelten Bischöfen von so hohem Wert, sie es nicht nur bei dieser eindrucksvollen Auflistung belassen, sondern in ausführlichen Passagen (Aparecida, Nr. 407–430) die Lebensrealitäten dieser Menschen beschreiben; und zwar als reale Orte der Präsenz des menschgewordenen Gottes. Es sind die konkreten Orte, an denen sich die Konversion der Kirche als „Kirche der Armen“ verwirklicht oder nicht. Mit Gustavo Gutiérrez lässt sich anhand solcher Argumentation eine Tradition bestärkt sehen, die sagen kann: „Alles, was mit Christus zu tun hat, hat mit den Armen zu tun, und alles, was mit den Armen zu tun hat, ruft nach Jesus Christus“ (Aparecida, Nr. 393).

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