Zuletzt hatte sich die Krise im Frühjahr zugespitzt. Damals zeigten sich führende Banker und finanzwirtschaftlich informierte Politiker alarmiert, unter ihnen Josef Ackermann, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, und Bundespräsident Horst Köhler, vor seinem Amtsantritt in Berlin Chef des Internationalen Währungsfonds. Von Köhler konnte man am 21.Mai im „Stern“ lesen: „Kapitalismus heißt nicht nur Rendite einfahren, sondern vor allem: mit Risiko umgehen können. Die Finanzkrise zeigt: Gerade daran haben es zu viele Akteure in den Bankhäusern der Welt missen lassen. Risiken wurden unterschätzt.(...) Man muss der Finanzwelt einen Spiegel vorhalten. Sie hat sich mächtig blamiert. Und ein klar vernehmbares mea culpa vermisse ich noch immer. Nur ein Kapitalismus, der bereit ist, sich in Verantwortung zu binden, hat Zukunft.“ Die Entstehung der Krise ist nur verständlich, wenn man sich verdeutlicht, wie sich die Finanzsysteme der Industrieländer in den letzten 25 Jahren verändert haben. In den nationalen Finanzsystemen Kontinentaleuropas, die stark von Kreditinstituten geprägt sind, kam es zu einem erheblichen Bedeutungszuwachs des Kapitalmarktes, also der Märkte für Aktien und für handelbare langfristige Schuldtitel, so genannte Rentenpapiere. In den nationalen Finanzsystemen der USA und Grpßbritanniens, in denen diese Wertpapiermärkte schon zuvor eine zentrale Rolle spielten, änderte sich die Struktur des Wertpapierbesitzes: Statt direkt in Aktien und Rentenpapiere zu investieren, geben die privaten Haushalte heute die meisten Ersparnisse an große Pensionsfonds und andere institutionelle Anleger weiter, die dann professionell versuchen, mit diesem Geld möglichst hohe Renditen zu erwirtschaften.
Die kapitalmarktdominierte Finanzwirtschaft ist höchst anfällig für Boomphasen und Krisen
Gleichzeitig kam es in allen Industrieländern zu einer starken Expansion der wertpapier-bezogenen Finanzdienstleistungen, des „Investmentbankings“: Die Vielzahl der angebotenen Dienstleistungen und Transaktionsformen, aber auch die Volumina dieser Geschäfte wuchsen in atemberaubendem Tempo. Das Ergebnis dieser Veränderungen war eine neue, international orientierte und kapitalmarktdominierte Form der Finanzwirtschaft, die gemeinsam mit der ausschließlichen Ausrichtung der Unternehmensführung auf „shareholder value“-Maximierung als harter Kern des so genannten Finanzmarktkapitalismus gilt (vgl. Paul Windolf [Hg.]: Finanzmarkt-Kapitalismus, Wiesbaden 2005, und Jürgen Kädtler, in: Amos, Nr. 4/2007).
Für ein Verständnis der Finanzmarktkrise ist entscheidend, dass die kapitalmarktdominierte Form der Finanzwirtschaft wesentlich anfälliger für Boomphasen und Krisen ist als die in Kontinentaleuropa herkömmliche, ausschließlich von den Kreditinstituten beherrschte Form. Das liegt vor allem daran, dass sich Aktien und – in dem neuen finanzwirtschaftlichen Umfeld – auch Immobilien hervorragend als Objekte der Spekulation eignen. Auf den Märkten für diese Vermögensgüter kommt es phasenweise zu einem enormen Anstieg des Preisniveaus, der sich über die Erwartungen weiterer Preissteigerungen solange selbst erhält, bis die Zweifel an der Möglichkeit weiterer Wertsteigerungen wachsen und schließlich ein Preisverfall einsetzt. Ermöglicht werden solche Boomphasen auf den Aktien- und Immobilienmärkten dadurch, dass die Gelder, die professionelle Anleger renditeträchtig anlegen sollen, sehr schnell wachsen. Das liegt zum einen daran, dass sich seit den neunziger Jahren die institutionellen Anleger zu niedrigen Zinsen günstig verschulden können, zum anderen aber auch an den stark steigenden Einkommen der Reichen, die das Gros ihrer Einnahmen nicht für Güterkäufe verwenden, sondern anlegen.
Als im Frühjahr 2001 der Boom auf den internationalen Aktienmärkten jäh beendet wurde, waren die negativen Auswirkungen der platzenden Preisblase auf die Realwirtschaft gering. Hauptgrund war, dass in den USA die hohe Konsumbereitschaft erhalten blieb, weil nun statt der Aktienkurse die Häuserpreise stiegen. Trotz erheblicher Wertverluste bei den Aktien hatten die US-Amerikaner den Eindruck, immer vermögender zu werden und sich immer mehr leisten zu können. Allmählich begannen Banken, auch jenen Familien Eigenheimkredite zu geben, die sich aufgrund ihres geringen Einkommens ein eigenes (größeres) Heim und eine entsprechende Hypothek eigentlich gar nicht leisten konnten. Den Kreditinstituten gelang es, viele einkommensschwache Haushalte mit einer Ausgestaltung von Hypotheken zu ködern, bei der diese zu Beginn der Laufzeit nur niedrige oder gar keine Zinsen zu zahlen hatten. Mit anderen Worten, die Banken hielten es von Anfang an für sehr wahrscheinlich, dass ein Großteil ihrer „subprime“-Schuldner zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr würden zahlen können. Dass sie dennoch an der Vergabe solch windiger Kredite interessiert waren, lag an dem starken Anstieg der Häuserpreise. Weil die Banken davon ausgingen, dass die Immobilienpreise weiter steigen würden, glaubten sie sich auch für die Fälle, in denen die Hausbesitzer ihren Schuldendienst nicht mehr würden leisten können, auf der sicheren Seite. In diesen Fällen wollten sie jeweils das Haus, das bei der Kreditverhatte, verkaufen – und zwar zu einem gestiegenen Preis. Indirekt, vermittelt über die Vergabe der „subprime“- Kredite, spekulierten diese in den USA ansässigen Kreditinstitute also auf einen weiteren Preisanstieg auf dem Immobilienmarkt ihres Landes.
Aufgrund dreier Besonderheiten der neuen Finanzwirtschaft entwickelte sich die Vergabe von „subprime“-Krediten zu einem richtig großen Geschäft: Zuerst hatte der starke Bedeutungszuwachs der Wertpapiermärkte auch zu Veränderungen im Kreditgeschäft der Banken geführt. Traditionell vergeben Banken Kredite und behalten sie „in ihren Büchern“, das heißt sie behalten das Recht, den vereinbarten Schuldendienst des Kreditnehmers zu kassieren, bis der Kredit abgezahlt ist. Da sie das Risiko eines Kreditausfalls vollständig tragen, prüfen sie gründlich die Kreditwürdigkeit ihrer Kunden. In der neuen, kapitalmarktdominierten Finanzwirtschaft entdeckten die Banken, dass sie sich von Kreditausfallrisiken trennen und die mit der Kreditvergabe verbundenen Gewinne
Wirtschaftsethik
zügig einstreichen können, wenn sie die Ansprüche auf den künftigen Schuldendienst ihrer Kreditkunden an andere Finanzinstitute weiterverkaufen. Das hat für sie den Vorteil, dass ihre „Gelder“ nicht so lange in den Krediten gebunden bleiben, sondern schnell wieder für weitere einträgliche Geschäfte zur Verfügung stehen. Dabei fällt der Verkauf der Zahlungsansprüche dann leichter, wenn der jeweilige Käufer sie jederzeit weiterverkaufen kann. Deshalb bündeln die Banken die Zahlungsansprüche aus sehr vielen ähnlichen Krediten und machen sie zu handelbaren Wertpapiere (Verbriefung, „securitization“). Genau dazu kam es in großem Umfang auch bei den „subprime“-Krediten. Mit Hilfe eigener Tochterfirmen gaben die im „subprime“-Geschäft aktiven Banken so genannte „asset backed securities“ (ABS) aus; das sind Wertpapiere, deren Zahlungsansprüche auf andere Forderungen, hier eben auf die Hypotheken an ärmere Haushalte, zurückgehen. Entscheidender Nachteil der verbreiteten „securitization“ von Krediten: Die Banken werden bei ihren Kreditwürdigkeitsprüfungen nachlässiger.
Die Vergabe von „subprime“-Krediten wurde aber auch durch einen weiteren Aspekt zu einem richtig großen Geschäft: Der Logik der neuen, kapitalmarktdominierten Finanzwirtschaft entsprechend waren die Mitarbeiter der Finanzinstitute und ihre Berater bei der Entwicklung neuer Typen von Wertpapieren sehr erfinderisch. Für den Weiterverkauf der Zahlungsansprüche aus den „subprime“-Krediten entstanden sehr komplexe Finanzprodukte, bei denen kaum noch zu durchschauen war, in welchem Umfang der jeweilige Besitzer des Wertpapiers das Risiko von Kreditausfällen zu tragen hatte. Es entstand die Illusion, dass viele dieser ABS, deren Zahlungsansprüche doch auf höchst zweifelhafte Kredite (und die Hoffnung auf einen weiteren Preisanstieg auf dem Immobilienmarkt) zurückgehen, höchsten Sicherheitsansprüchen entsprächen.
Die Moden des Kapitalmarktes
Schließlich bedingt der starke Zufluss von Geldern, die einträglich anzulegen sind, dass unter den Anlegern immer wieder Moden entstehen, das heißt dass vergleichbare kleine Märkte für bestimmte Wertpapiere, Immobilien oder andere Vermögensgüter mit einem Mal sehr viel Kapital anziehen. Einige Anleger erwarten, dass auf diesem Markt überdurchschnittliche Renditen – scheinbar ohne höheres Risiko – zu erzielen sind. Und so lange immer mehr Anleger diese besondere Chance „entdecken“ und zusätzliches Finanzkapital dorthin fließt, steigen tatsächlich die Preise, und mit ihnen, wie erwartet, die durch spekulativen Kauf und Verkauf erreichbaren Renditen. Der Rausch geht deshalb immer weiter, das Rad dreht sich immer schneller, bis die optimistischen Erwartungen ins Wanken geraten und das nur kurzfristig gebundene Kapital massenhaft wieder abgezogen wird. Dieses Schema führte in den neunziger Jahren zum Boom der Finanzanlagen in den asiatischen Schwellenländern und dann zur Asienkrise oder kurz darauf zum New Economy-Rausch mit dem anschließenden Zusammenbruch der Märkte für die Aktien solcher Unternehmen.
Mit einem Mal standen Banken auf sehr dünnem Eis
Ähnlich war es dann bei den ABS, den „asset backed securities“, die auf den US-amerikanischen „subprime“-Krediten beruhten. Auf der Suche nach überdurchschnittlichen Renditen stießen die Anleger, vor allem die Profis in den großen international ausgerichteten Finanzinstituten, auch auf diese Anlageform. Ein Boom setzte ein, in dem die Risiken dieser ABS immer weiter unterschätzt wurden, ihr Wert also überschätzt wurde. Den in diesem Segment tätigen Banken floss so immer mehr neues Kapital zu, das sie für neue „subprime“-Kredite verwenden konnten.
Das Ergebnis der skizzierten Entwicklungen war, dass vor Ausbruch der Krise im Frühjahr 2007 rund um den Globus die führenden Banken und Fonds Wertpapiere im Wert eines dreistelligen Milliarden-Dollar-Betrags besaßen, deren Wert auf extrem zweifelhaften Zahlungsansprüchen aus US-amerikanischen „subprime“-Krediten beruhten. Dabei gingen die meisten Beteiligten davon aus, dass sie es mit Wertpapieren zu tun hätten, für die nicht nur ein geringes Ausfallrisiko kennzeichnend sei, sondern auch hervorragende Wiederverkaufsmöglichkeiten bestünden. Im Sommer 2007 kam der seit etwa einem Jahrzehnt anhaltende Preisanstieg auf dem Immobilienmarkt der USA zu einem Ende. Wenn ärmere Familien, die „subprime“-Hypotheken aufgenommen hatten, den fälligen Schuldendienst nicht leisten konnten, waren nun die Finanzinstitute, die eigentlich diese Zahlungen erhalten sollten, nicht mehr in der Lage, die Wohnhäuser der säumigen Schuldner gewinnbringend zu verkaufen. Zugleich häuften sich die Fälle, in denen die verschuldeten Haushalte den – gemäß Kreditvertrag nun steigenden – Schuldendienst nicht mehr zahlen konnten. In Windeseile setzte sich daraufhin in der internationalen Finanzbranche eine Neueinschätzung der Risiken durch, die mit den „subprime“-Krediten und den darauf basierenden Wertpapieren verbunden sind. Jetzt wollte niemand mehr diese Wertpapiere besitzen. Unter den Bankern machte sich große Unsicherheit breit: Wie stark war das eigene Institut in das Geschäft mit „subprime“-Krediten verwickelt? Wie viele der darauf basierenden Wertpapiere hatte man gekauft und was waren diese noch wert? In welchem Umfang hatte man den so genannten Hedge Fonds, die in diesem Geschäft stark engagiert waren, Kreditzusagen gegeben und wie viele der Kredite, die man an solche Fonds vergeben hatte, musste man abschreiben? Mit einem Mal sah man die eigene Bank und die anderen Institute auf dünnem Eis stehen, und so war es auch. Wertpapiergeschäfte florieren nämlich nur solange, wie alle Beteiligten unterstellen, sie könnten die Papiere jederzeit zu einem vernünftigen Preis weiterverkaufen. Zerbricht diese kollektive Fiktion, dann können diejenigen Marktteilnehmer, die gerade die entsprechenden Wertpapiere besitzen, diese nicht (oder nur noch zu sehr ungünstigen Bedingungen) zu Geld machen. Sind sie stark in den betroffenen Geschäften engagiert, laufen sie Gefahr, zahlungsunfähig zu werden. Weil es bei den auf „subprime“-Krediten fußenden ABS um große Summen ging, breitete sich die Krise schnell auf diverse Wertpapiermärkte aus. Das Misstrauen unter den Bankern wurde so groß, dass sich die Kreditinstitute nicht einmal mehr über Nacht wechselseitig Geld ausleihen wollten: Der Geldmarkt, auf dem sonst die Kreditinstitute selbst dafür sorgen, dass vorübergehende Defizite und Überschüsse aus dem laufenden Zahlungsverkehr ausgeglichen werden, trocknete aus.
Ein Kollaps der internationalen Finanzwirtschaft konnte nur verhindert werden, weil die führenden Zentralbanken, vor allem die US-amerikanische Federal Reserve („Fed“) und die Europäische Zentralbank in die Bresche sprangen und die benötigten Gelder („Zentralbankgeld“) zu günstigen Konditionen bereitstellten. Dabei ging vor allem die „Fed“ weit über das herkömmliche Maßnahmenspektrum einer Zentralbank hinaus: Als Gegenleistung für die ausgeliehenen Gelder akzeptierte sie im Frühjahr 2008 die in Misskredit geratenen ABS selbst. Den Zugang zu diesen Geldern, der traditionell nur den Kreditinstituten offen steht („Diskontfenster“), öffnete sie auch für die auf Wertpapiergeschäfte spezialisierten Investment-Banken. Und schließlich ermöglichte sie sogar die Übernahme der zahlungsunfähigen Investmentbank Bear Stearns durch den großen Konkurrenten J. P. Morgan Chase, in dem sie dem Käufer zusicherte, Risiken des übernommenen Instituts in Höhe von bis zu 30 Milliarden US-Dollar zu übernehmen.
Lassen sich alle gesellschaftllich wichtigen Leistungen besser ohne Staat erbringen?
Nach der Asienkrise, dem Crash bei den New Economy-Aktien und anderen Finanzkrisen der letzten Jahre illustriert die aktuelle Finanzmarktkrise ein weiteres Mal die starke Tendenz der kapitalmarktdominierten Finanzwirtschaft zu Übertreibungen. Hinter den in den letzten zwei Jahrzehnten vermehrt umgesetzten wirtschaftsliberalen Konzepten – nämlich Deregulierung, Privatisierung, Rückführung der Staatsquote usw. – steht die Überzeugung, fast alle gesellschaftlich wichtigen Leistungen würden besser von der gewinnorientierten Privatwirtschaft als von staatlichen Bürokratien erbracht und letztere sollten die Unternehmen beim Erbringen dieser Leistungen möglichst wenig stören. Untersucht man jedoch die Entstehung und den Verlauf der Finanzmarktkrise, dann zeigt sich überdeutlich, wie wenig die private Finanzwirtschaft zu einer stetigen, weder übertrieben optimistischen noch unangemessen vorsichtigen Übernahme von Risiken in der Lage ist. In Zeiten einer guten, weitgehend ungestörten wirtschaftlichen Entwicklung – so die Analyse von Hyman P. Minsky – steigt die Bereitschaft der Finanzinstitute und der an den Finanzmärkten aktiven Konzerne, in großem Maßstab riskante Finanztitel zu erwerben und dies durch zusätzliche Verschuldung zu finanzieren.
In der Regulierung der Finanzwirtschaft klaffen entscheidende Lücken
Beides, die in großem Maßstab erworbenen riskanten Finanztitel und die starke Verschuldung, werden dann zu einer schwer lastenden Hypothek, wenn die guten Zeiten, der konjunkturelle Aufschwung oder die Preissteigerungen auf den Aktien- und Immobilienmärkten auslaufen. Aufgrund einer veränderten Einschätzung der Risiken versuchen nun alle Akteure, ihre unsicheren Positionen wieder abzubauen. Groß ist die Gefahr, dass sich die mit einem Mal übervorsichtigen Marktteilnehmer – vermittelt über Preisstürze auf den Aktien- und Immobilienmärkten sowie eine plötzliche Zurückhaltung der Beteiligten, anderen Akteuren Geld zu leihen – gegenseitig in die Zahlungsunfähigkeit reißen. Ohne die umfangreichen Interventionen der Zentralbanken wäre es in der aktuellen Finanzmarktkrise vermutlich schon zu einem solchen Kollaps des internationalen Finanzsystems gekommen. Dabei hat vor allem die „Fed“ ihre Absicherungsfunktion gegenüber dem Finanzsystem massiv ausgedehnt – und damit zugleich die Frage provoziert, ob die Zentralbanken für die künftige Risikobereitschaft von Finanzinstituten nicht falsche Signale setzen, wenn sie immer mehr Typen riskanter Finanzgeschäfte in ihre prinzipiell unentbehrliche Funktion einer Absicherung des Finanzsystems einbeziehen.
Die Wurzel des Übels liegt bei Entstehung jener Schieflage, die in der Krise offen zu Tage tritt, vor allem bei der Neigung der Finanzinstitute, in guten Zeiten Risken zu unterschätzen und im Überschwang zu große Risiken einzugehen. Auch hier gibt es einen massiven Bedarf an international koordinierten staatlichen Maßnahmen – in diesem Fall an staatlicher Regulierung, um einer zu starken Akkumulation von Risiken entgegenzuwirken. Zwar ist die Bankwirtschaft alles andere als eine unregulierte Branche. Trotzdem gibt es in der Regulierung der Finanzwirtschaft wichtige Lücken, vor allem bei den außerbilanziellen Geschäften der Kreditinstitute und beim Geschäftsgebaren anderer Typen von Finanzinstituten, die dann auch bei der Entstehung der Finanzmarktkrise eine wichtige Rolle spielten. Vor allem jedoch ist zu beachten, dass es bei den Kapitaldeckungsregeln, also den Vorschriften, mit wie viel Eigenkapital die eingegangenen Risiken mindestens abzusichern sind, in den letzten Jahren zwei starke Tendenzen gab, die ein allzu großes Vertrauen auf die kapitalmarktdominierte Finanzwirtschaft widerspiegeln: Zum einen hat man, was den Wertansatz der von den Finanzinstituten gehaltenen Wertpapiere und Immobilien angeht, vor allem auf die gerade aktuellen Marktpreise (und die ihnen folgenden Ratings der Agenturen) gesetzt. Zum anderen haben die Regulierungsbehörden ihre Bestimmung der Risiken, welche die Institute durch Eigenkapital abzusichern haben, weitgehend auf die Einschätzung der Finanzinstitute selbst gegründet (1996 Ergänzung von „Basel I“, „Basel II“). Da in wirtschaftlich guten Zeiten Wertpapierkurse und Immobilienpreise zumeist steigen und da die Banker in den Instituten immer optimistischer und, bezogen auf das eigene Risikomanagement, immer selbstsicherer werden, haben beide Regulierungstendenzen die regulatorische Sperre gegen die in guten Zeiten häufig zu überschwänglich-optimistische Übernahme von Risiken geschwächt. Hier sind dringend Korrekturen in der Philosophie der Finanzregulierung geboten – Korrekturen vergangener Fehlentscheidungen, die im wirtschaftsliberalen Vertrauen auf eine aus sich selbst heraus stabile Entwicklung der Privatwirtschaft begründet waren.
Sozialisierte Verluste und private Gewinne
Wenn es in dem angedeuteten Sinne gelingt, die Finanzregulierung zu verschärfen, insbesondere ihre restriktive Wirkung gegenüber der Übernahme von Risiken in Phasen des konjunkturellen Aufschwungs beziehungsweise des Booms auf Immobilien- oder Aktienmärkten zu erhöhen, dann könnte dies dazu beitragen, die kapitalmarktdominierte Finanzwirtschaft etwas stabiler zu machen. Wenn dies gelänge, dann wäre dies nicht nur im Sinne einer allgemeinen Effizienzverbesserung des Wirtschaftssystems sinnvoll, sondern auch unter der in der Christlichen Gesellschaftsethik ebenso wichtigen Verteilungsperspektive. In der aktuellen Finanzmarktkrise müssen zwar viele Reiche erhebliche Vermögensverluste hinnehmen. Bis zum Ende der Krise aber bleibt die Gefahr akut, dass die Zentralbanken und andere staatliche Stellen zur Verhinderung eines globalen Finanzkollapses letztlich doch kostspielige Rettungsaktionen durchführen müssen, so dass dann wieder die Allgemeinheit das Gros der Verluste zu tragen hätte. Die von anderen öffentlichen Banken aufgefangenen Pleiten der IKB und der Sächsischen Landesbank in Deutschland sowie die Garantien beziehungsweise die hohen staatlichen Kreditlinien für Bear Stearns und die großen Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac in den USA lassen die Belastungen erahnen, die staatliche Stellen schlimmstenfalls zu schultern hätten. Neben dem Problem der sozialisierten Verluste (bei privaten Gewinnen) ist zu berücksichtigen, dass Wirtschafts- und Finanzkrisen jeweils vor allem die ärmeren Privathaushalte existenziell betreffen. So müssen zur Zeit in den USA unzählige ärmere Familien ihre Häuser verlassen, den Verlust ihrer geringen Ersparnisse hinnehmen und als überschuldete Haushalte nach einer neuen Bleibe suchen.
Aus Sicht der Christlichen Gesellschaftsethik geht es aber um mehr als nur um die schrittweise Verbesserung der kapitalmarktdominierten Finanzwirtschaft im Hinblick auf Wachstum und Verteilung. Schließlich ist es keineswegs ausgemacht, dass sich diese Form der Finanzwirtschaft und mit ihr der Finanzmarktkapitalismus auf der ganzen Welt flächendeckend durchsetzen. Und selbst dann würde gelten, dass der Finanzmarktkapitalismus nicht das „Ende der Geschichte“ ist. Aus christlich-sozialethischer Sicht bleibt insofern auch das Ziel im Blick, diese Variante des Kapitalismus, die vielleicht für die Vermögenden, aber ganz sicher nicht für die Mehrheit der Menschen vorteilhaft ist, wieder zurückzudrängen. Langfristig gesehen könnten die Industriestaaten die kapitalmarktdominierte Finanzwirtschaft austrocknen, unter anderem in dem sie für eine weniger ungleiche Einkommensverteilung sorgen und so die Zufuhr neuer, besonders renditeträchtig anzulegender Gelder drosseln. Eine solche Zielsetzung mag utopisch klingen, aber bei einer entschlossenen internationalen Koordination – vor allem auf europäischer Ebene – ist vieles möglich. Im Übrigen ist die Vorstellung, man müsse den Kapitalismus auch durch eine weniger ungleiche Verteilung „umbiegen“, in den katholischen Traditionen sozialen Denkens keineswegs neu. Die Einsicht, dass es grundlegender Veränderungen bedarf, spricht auch aus dem eingangs zitierten Diktum des Bundespräsidenten. Auf den Vorwurf, die Banker hätten das von ihnen selbst geschaffene, extrem komplexe System moderner Finanzpraktiken nicht mehr im Griff, reagierte wenige Tage später der Deutsche-Bank-Chef, Josef Ackermann, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
(18. Mai 2008). Statt Anzeichen einer neuen Weltwirtschaftskrise sehe er, „dass es den verschiedenen Krisenmanagern in Geschäftsbanken, Notenbanken und Aufsichtsbehörden gelungen ist, ein extrem komplexes System wie das heutige Weltfinanzsystem im Griff zu behalten. Das ist eine beachtliche Leistung – und sehr beruhigend“. Vor dem Hintergrund der Krisenanalyse hat die Tatsache, dass einer der wichtigsten Banker Deutschlands die Entwicklung der letzten Monate „beruhigend“ findet, etwas zutiefst Beunruhigendes. Schließlich sind das Selbstvertrauen der professionellen Anleger, man habe die Risiken der komplexen Finanzgeschäfte im Griff, und die Erwartung der Bankenvorstände, auch schwierige Entwicklungen der Finanzmärkte werde man meistern können, notfalls eben mit Unterstützung der Kollegen in den Zentralbanken, wichtige Triebfedern für die zu starke Akkumulation von Risiken im Finanzsystem. In Verbindung mit dem Streben, möglichst hohe Gewinne zu erzielen, sorgt dieser Optimismus in ruhigen Zeiten jeweils dafür, dass der Verschuldungsgrad der Teilnehmer an den Finanzmärkten steigt und die Volumina der riskanten Finanzanlagen schnell wachsen.
Die Neigung der professionellen Anleger und ihrer Vorgesetzten, die Risiken von Anlagestrategien zu unterschätzen, gleicht insofern einem Generator, der immer wieder für den Aufbau einer Spannung sorgt, die sich in Finanzkrisen wie der aktuellen entlädt. Im Kontext der kapitalmarktdominierten Finanzwirtschaft scheint es unmöglich zu sein, diesen Generator dauerhaft stillzulegen.