Seit mehr als einem Vierteljahrhundert flammt in der Schweiz die Diskussion um die Sterbehilfe immer wieder auf (vgl. HK, März 1975, 108ff.). Die neuen Auseinandersetzungen wurden ausgelöst, nachdem die Sterbehilfe auf Bundesebene zu einem Rechtsetzungsprojekt wurde, aber auch im Zusammenhang mit der Praxis von Sterbehilfeorganisationen, psychisch kranken Personen ohne fundierte Abklärungen Sterbehilfe zu leisten und zudem Personen aus fremden Staaten, in denen Sterbehilfeorganisationen und Beihilfe zur Selbsttötung nicht zulässig sind. Verschärft wurde die Diskussion, nachdem die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und die Sterbehilfeorganisation „Exit“ im Sommer 2009 eine Vereinbarung über die organisierte Suizidhilfe abgeschlossen hatten.
Das schweizerische Strafgesetzbuch bedroht in den Artikeln 111 bis 117 jede Tötung und damit auch jede Verkürzung des Lebens eines anderen Menschen mit Strafe. Dieses strafrechtlich sanktionierte Fremdtötungsgebot gilt selbst dann, wenn das Opfer in die Tötung einwilligt oder sogar verlangt (Art. 114: „Tötung auf Verlangen“). Neben der „Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord“ (Art. 115), die der Sterbehilfe im weiteren Sinn zugerechnet wird, unterscheidet die Lehre die direkte aktive, die indirekte aktive und die passive Sterbehilfe.
Mit den Normen des Strafgesetzbuchs ist ein Rahmen abgesteckt
Nach schweizerischem Recht ist der Selbstmordversuch straflos beziehungsweise „unverboten“. Nach Art. 115 ist auch der Dritte straflos, der dem Suizidenten die Mittel zur Selbsttötung beschafft, sofern er aus uneigennützigen Motiven handelt. Die „Sterbebegleitungen“ der Sterbehilfeorganisationen stellen in der Regel eine solche straflose Beihilfe dar.
Die direkte aktive Sterbehilfe ist die gezielte Tötung zur Verkürzung der Leiden eines anderen Menschen. Sie ist heute als „Vorsätzliche Tötung“ (Art. 111), „Tötung auf Verlangen“ (Art. 114) oder „Totschlag“ (Art. 113) strafbar. Mitleid oder Gewissensnot werden weder von der Rechtsprechung noch in der Lehre als Schuldausschliessungsgrund anerkannt. Allerdings ist die direkte aktive Sterbehilfe in ihrer reinen Form von einer Grauzone umgeben, weil es gelegentlich schwierig ist, die direkte aktive von der indirekten aktiven Sterbehilfe scharf abzugrenzen.
Ein erneuter Regelungsversuch
Die indirekte aktive Sterbehilfe liegt vor, wenn zur Linderung von Leiden Mittel eingesetzt werden, welche als Nebenwirkung die Lebensdauer herabsetzen können. Diese Art der Sterbehilfe ist im geltenden Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich geregelt, gilt aber als grundsätzlich erlaubt. Die passive Sterbehilfe liegt bei einem Verzicht auf die Aufnahme oder bei einem Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen vor. Auch diese Form der Sterbehilfe ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt, wird aber als erlaubt angesehen.
Mit den Normen des Strafgesetzbuches ist nur ein Rahmen abgesteckt. Die Grundlagen und die Grenzen ärztlicher Tätigkeit werden in der Schweiz wie in anderen Ländern durch Richtlinien von ärztlichen Berufsorganisationen präzisiert. Diesen kommt zwar nicht die Verbindlichkeit staatlicher Gesetze zu, sie fassen aber den gesicherten Stand medizinischer und berufsethischer Erkenntnisse zusammen.
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), eine von den fünf medizinischen und zwei veterinärmedizinischen Fakultäten sowie der Verbindung der Schweizer Ärzte (FMH) 1943 gegründete Stiftung und heute eine der vier schweizerischen wissenschaftlichen Akademien, hatte erstmals im Jahr 1976 Richtlinien über die Sterbehilfe erlassen ohne diesen Begriff im Richtlinientext zu verwenden; diese wurden mehrmals revidiert. Auf diese Richtlinien wurde auch in Expertenberichten immer wieder Bezug genommen. Denn für die Mitglieder der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte sind sie Bestandteil der verbindlichen Standesordnung.
Die für den vorliegenden Zusammenhang wesentlichen Aussagen der SAMW-Richtlinien betreffen die Zulässigkeit der passiven sowie der indirekten aktiven Sterbehilfe. Die ärztliche Beihilfe zum Suizid erklärten die Richtlinien als nicht zur ärztlichen Tätigkeit gehörend. 2004 wurden die Richtlinien „Sterbehilfe“ von den Richtlinien „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“ abgelöst.
Im Gefolge eines parlamentarischen Vorstoßes aus dem Jahr 1994 setzte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) 1997 eine aus Fachleuten der Medizin, des Rechts und der Ethik zusammengesetzte Arbeitsgruppe ein mit dem Auftrag, die im Bereich der Sterbehilfe sich stellenden komplexen Fragen abzuklären. Sie legte dem Departement 1999 ihren Bericht vor, in dem die Mehrheit der Arbeitsgruppe vorschlug, für extreme Ausnahmesituationen einen Strafbefreiungsgrund für die direkte aktive Sterbehilfe einzuführen: Wer aus Mitleid einen Menschen auf dessen eindringliches Verlangen hin von einem Leben erlöst, das nur mehr aus sinnlosem Leiden besteht, soll nicht bestraft werden.
Eine Minderheit der Arbeitsgruppe lehnte diesen Änderungsvorschlag ab und bestand auf der uneingeschränkten Beibehaltung der bisherigen Regelung. Sie machte geltend, die moderne Palliativmedizin sei, richtig eingesetzt, in der Lage, auch schwerste Leiden zu lindern. Zudem befürchtete sie, dass eine Abschwächung der Strafbarkeit von Tötungsdelikten unabsehbare Folgen für den Umgang mit alten, kranken und behinderten Menschen haben könnte. Einstimmig befürwortete die Arbeitsgruppe eine ausdrückliche gesetzliche Regelung der passiven und der indirekten aktiven Sterbehilfe. Wohl gälten diese beiden Formen der Sterbehilfe in den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften als zulässig. Da aber die Sterbehilfe das Leben als höchstes Rechtsgut betreffe, sollte deren Regelung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber erfolgen.
Die Arbeitsgruppe war auch der einhelligen Auffassung, dass die sehr großen und Erfolg versprechenden Möglichkeiten der Palliativmedizin und der Palliativpflege ausgeschöpft werden dürfen, ja ausgeschöpft werden müssen. Weil dies in der Praxis nicht immer der Fall sei, befürwortete sie eine verbesserte Ausbildung in diesen Techniken und eine bessere Aufklärung von Medizinalpersonen und Publikum über die bestehenden Möglichkeiten.
In seinem anschließenden Bericht an das Parlament sprach sich der Bundesrat (die Bundesregierung) im Sommer 2000 für eine ausdrückliche gesetzliche Regelung der passiven und der indirekten aktiven Sterbehilfe aus. Dagegen wandte er sich gegen eine Änderung der bestehenden Strafbestimmung über die direkte aktive Sterbehilfe, betonte aber zugleich die Möglichkeiten der Palliativmedizin und -pflege, die es auszuschöpfen gelte. Angesichts der Bedeutung dieser Frage wünschte er zudem, dass die Diskussion über die Sterbehilfe auch im Parlament geführt werde. Die darauf folgenden Jahre standen im Zeichen stiller Expertenarbeit und aufgeregter Auseinandersetzungen um die Zunahme der Aktivitäten von Sterbehilfeorganisationen, verbunden mit entsprechenden politischen Vorstößen.
Als eine erste größere Arbeit erschien 2002 das Pastoralschreiben der Schweizer Bischofskonferenz zur Frage der Sterbehilfe und der Sterbebegleitung unter dem Titel „Die Würde des sterbenden Menschen“. Das Schreiben ging noch davon aus, dass über kurz oder lang eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe einer Volksabstimmung unterbreitet würde und betonte, dass es in dieser Diskussion aber um mehr gehen müsse: „Es geht um Sinn und Würde des menschlichen Lebens und Sterbens und um die Bedeutung, die unser Umgang mit dem Sterben für unser gesellschaftliches Zusammenleben und für die menschliche Qualität unserer Gesellschaft hat.“ In ihrem Pastoralschreiben wollten die Bischöfe deshalb ihr grundsätzliches menschliches und christliches Verständnis des menschlichen Lebens und Sterbens zum Nachdenken vorlegen, und zwar allen Mitchristen. „Daraus ergeben sich nicht nur einige eindeutige Grenzziehungen bezüglich der sogenannten Sterbehilfe, sondern auch seelsorgerliche Hinweise zur leiblichen und geistlichen Begleitung sterbender Menschen.“
Eine klare Grenze ziehen die Bischöfe zum Mehrheitsvorschlag der Arbeitsgruppe des Bundes. In betonter Übereinstimmung mit dem „Katechismus der Katholischen Kirche“ und unter Bezugnahme auf die Richtlinien der Akademie der Medizinischen Wissenschaften erklärten sie, im Blick auf das Strafrecht könnten sie „niemals einer irgendwie gearteten Legalisierung der Tötung“ auf Verlangen zustimmen. Das gilt auch für eine allfällige Straffreiheit des/der Tötenden, wenn Sterbende auf ,deren ernsthaftes und eindringliches Verlangen getötet‘ werden, ,um sie von unerträglichen und nicht behebbaren Leiden zu erlösen‘.“ Wegen ihrer Nähe zur Tötung auf Verlangen lehnen die Bischöfe auch die Beihilfe zum Suizid kategorisch ab.
Nach mehreren parlamentarischen Vorstößen beauftragte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) 2003 die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, die Gesamtproblematik der Sterbehilfe einschließlich der Suizidhilfe in ethischer und rechtlicher Sicht zu prüfen und Vorschläge für eine gesetzliche Regelung zu erarbeiten. Die Kommission, die seit 2002 an Problemen der Entscheidungen am Ende des Lebens gearbeitet hatte, behandelte darauf die ethischen Fragen der Beihilfe zum Suizid prioritär.
Denn die Debatte um die gesetzlichen Regeln für die Entscheidungen am Ende des Lebens wurde in der Schweiz bis anhin von der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe her angegangen. Im Zentrum stand mehrfach die Frage, ob die Tötung auf Verlangen in bestimmten Fällen straflos bleiben sollte. Die medizinisch-ethischen und politisch-ethischen Dimensionen der Beihilfe zum Suizid, die in der Schweiz straflos ist und auch praktiziert wird, waren hingegen noch relativ wenig diskutiert. Zudem führte gerade die Beihilfe zum Suizid in der Gesellschaft zu Unsicherheiten. So erarbeitete die Kommission eine umfangreiche Stellungnahme, die sie unter dem Titel „Beihilfe zum Suizid“ 2005 veröffentlichte.
In ihrer Stellungnahme empfiehlt die Ethikkommission, die Mitwirkung bei der Selbsttötung von der Tötung auf Verlangen aus ethischer Sicht zu unterscheiden. Sie geht davon aus, dass die ethischen Fragen, welche die Suizidbeihilfe aufwirft, sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen der gebotenen Fürsorge für suizidgefährdete Menschen einerseits und dem Respekt vor der Selbstbestimmung eines Suizidwilligen andererseits ergeben: „Empfehlungen, Richtlinien und rechtliche Regelungen müssen beiden Polen in diesem Spannungsverhältnis Rechnung tragen.“
Die Kommission unterstützt mit ethischen Gründen die gegebene liberale strafrechtliche Regelung, wonach die Suizidbeihilfe legal ist, solange sie nicht aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt. Sie empfiehlt keine Veränderung der strafrechtlichen Regelung in diesem Punkt, sieht aber Handlungsbedarf in anderen Rechtsbereichen. Um den Problemen gerecht zu werden, die durch das Phänomen der Sterbehilfeorganisationen entstanden sind, ist es nach Auffassung der Kommission nötig, diese unter staatliche Aufsicht zu stellen. So solle die Einhaltung von Qualitätskriterien für die Abklärung von Suizidhilfeentscheiden gewährleistet werden.
Mit Nachdruck weist die Kommission auf sozialethische Risiken hin, die mit einer Verbreitung des assistierten Suizids entstehen. Rechtliche Vorgaben sollten deshalb sicherstellen, dass in der Anwendung von Art. 115 des Strafgesetzbuches neben dem Respekt vor der Selbstbestimmung auch die Fürsorge für suizidgefährdete Menschen im Sinn des Schutzes ihres Lebens gleichgewichtige Berücksichtigung findet. Konkret sollten eine Reihe von minimalen Sorgfaltskriterien für die Praxis der organisierten Suizidbeihilfe vorgeschrieben werden. In ihrer Stellungnahme unter dem Titel „Sorgfaltskriterien im Umgang mit Suizidbeihilfe“ legte die Ethikkommission 2006 einen solchen Kriterienkatalog vor.
Medizinisch-ethische Richtlinien
Im gleichen Zeitraum überarbeitete die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften ihre Sterbehilfe-Richtlinien und ergänzte sie mit Richtlinien zu besonderen Problemen und mit Stellungnahmen ihrer Zentralen Ethikkommission. 2004 genehmigte der Rat der Akademie die Richtlinien „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“; im Unterschied zu den Sterbehilfe-Richtlinien wird dabei ausschließlich auf die Situation sterbender Patienten Bezug genommen. Die „Richtlinien zur Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten“ wurden entsprechend erstmals gesondert formuliert und bereits 2003 veröffentlicht. Da sich dennoch gemeinsame Fragen und Probleme ergeben, sind beide aufeinander bezogen.
Das Gleiche gilt für die „Richtlinien zu Grenzfragen der Intensivmedizin“ (1999) und für die „Richtlinien zur Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen“ (2004). Bezüglich der speziellen Problematik der sehr unreifen Frühgeborenen verweist die Akademie auf die „Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie zur Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze zur Lebensfähigkeit“ (2002).
Die Richtlinien über Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende gehen vom Recht auf Selbstbestimmung aus: „Die frühzeitige, umfassende und verständliche Aufklärung des Patienten oder seiner Vertreter über die medizinische Situation ist Voraussetzung für die Willensbildung und Entscheidfindung. Dies bedingt eine einfühlsame und offene Kommunikation und die Bereitschaft des Arztes, die Möglichkeiten und Grenzen sowohl der kurativen wie auch der palliativen Behandlung zu thematisieren.“
Bei der Behandlung und Betreuung steht die palliative Betreuung an erster Stelle. „Diese umfasst alle medizinischen und pflegerischen Interventionen sowie die psychische, soziale und seelsorgerliche Unterstützung von Patienten und Angehörigen, welche darauf abzielen, Leiden zu lindern und die bestmögliche Lebensqualität des Patienten zu gewährleisten.“ Was „Palliative Care“ bei Patienten am Lebensende konkret bedeutet, wird in eigenen medizinisch-ethischen Richtlinien und Empfehlungen (2006) ausgeführt.
Die Richtlinien benennen aber auch die Grenze der Selbstbestimmung: „Die Respektierung des Patientenwillens stößt dann an ihre Grenzen, wenn ein Patient Maßnahmen verlangt, die unwirksam oder unzweckmäßig sind oder die mit der persönlichen Gewissenshaltung des Arztes, mit der ärztlichen Standesordnung oder dem geltenden Recht nicht vereinbar sind.“ Während die Tötung auf Verlangen eines Patienten vom Arzt auch bei ernsthaftem und eindringlichem Verlangen abzulehnen ist, ist die Beihilfe zum Suizid ein Dilemma: „Auf der einen Seite ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit, weil sie den Zielen der Medizin widerspricht. Auf der anderen Seite ist die Achtung des Patientenwillens grundlegend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Diese Dilemmasituation erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes.“
Diese vorsichtige Öffnung hat in der Ärzteschaft gegensätzliche Reaktionen ausgelöst, wobei eine große Mehrheit darauf besteht, dass „die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit“ ist.
Seit längerem setzt sich die Akademie auch für eine Aufsicht des Bundes über die Sterbehilfeorganisationen ein. Sie erachtet es als unbefriedigend, dass gerade da, wo es um Leben und Tod geht, nur ungenügende Sorgfaltskriterien und keine Aufsicht bestehen. Nach dem Entscheid des Lausanner Universitätsspitals 2006, unter streng kontrollierten Bedingungen Sterbehilfeorganisationen zuzulassen, hat die Akademie an ihre Position „Zur Praxis der Suizidbeihilfe in Akutspitälern“ erinnert, in jedem Fall zu vermeiden, „dass medizinische Institutionen, gleichgültig ob in der Akutmedizin oder in der Chronischkranken-Pflege, Suizidbeihilfe gleichsam als erweiterte medizinische Dienstleistung anbieten“.
Die Zentrale Ethikkommission der Akademie bezeichnete kurz darauf eine Beteiligung des Personals innerhalb einer Institution als problematisch und sieht es deshalb „zurzeit als nicht opportun an, dass sich das Personal eines Akutspitals auf irgendeine Weise an einer Suizidbeihilfe beteiligt“. Man verfolge die laufenden Entwicklungen sorgfältig und werde sich zu gegebener Zeit erneut äußern.
Ein evangelischer Beitrag zur ethischen Orientierung
Auch der Rat des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes beschäftigte sich in dieser Zeit mit Fragen rund um Palliative Care und Sterbehilfe. Mit der vom Rat 2007 genehmigten Broschüre „Das Sterben leben. Entscheidungen am Lebensende aus evangelischer Perspektive“ (SEK Position 9) wollte er diese Themen vertiefen und die Menschen ermutigen, sich mit diesen schwierigen, aber unabwendbaren Fragen zu beschäftigen.
Dieser evangelische Beitrag zur ethischen Orientierung geht aus vom normativen Dreieck von Lebensschutz (Tötungsverbot, Lebensrettung, -erhaltung und -bewahrung), Autonomie (Selbstbestimmung, -verantwortung und Respekt gegenüber der Freiheit der und des Anderen) und Fürsorge (Solidarität, Empathie, Unterstützung, Stellvertretung) und ihrer Vermittlung. Alle drei Grundsätze müssten so miteinander vermittelt werden, dass ihnen ihr – situationsabhängig und -angemessen – Platz eingeräumt wird. Deshalb müssten Entscheidungen auf der Grenze des Lebens „in jedem einzelnen Fall, vor dem Hintergrund der konkreten Lebenssituationen der Betroffenen und Beteiligten, reflektiert, gewichtet und beurteilt werden. Das setzt den Willen und die Bereitschaft voraus, für die getroffenen Entscheidungen und die daraus resultierenden Folgen Verantwortung zu übernehmen.“
Im Blick auf die Suizidhilfediskussion und die Forderung nach ihrer rechtlichen Regelung erinnert das Positionspapier daran, dass wegen der üblichen Suizidbeihilfepraxis in der Schweiz (die Verschreibung des Barbiturats Natrium-Pentobarbital) keine assistierte Selbsttötung ohne entscheidende Mitwirkung von Ärztinnen und Ärzten stattfindet. Das Positionspapier stellt aus kirchlicher Perspektive deshalb die Frage nach dem Ziel der Forderung einer Verrechtlichung in den Vordergrund.
Einerseits müsse eine Gesellschaft fordern, „dass die Arbeitsweise von Suizidhilfeorganisationen transparent, nach gesellschaftlich allgemein anerkannten Normen und Regeln sowie von den entsprechenden Institutionen überprüfbar und sanktionierbar erfolgt“. Gegen ein eigenständiges Suizidbeihilfegesetz steht die Befürchtung, mit einer rechtlichen Legalisierung die moralischen und ethischen Konflikte einzuebnen: „Suizidbeihilfe würde zu einer Handlungsoption oder rechtlich geregelten Dienstleistung, wie jede andere auch.“
Kein Handlungsbedarf?
Die Bundesversammlung (die beiden Kammern des Parlaments) beauftragte 2004 den Bundesrat, Vorschläge für die gesetzliche Regelung der indirekten aktiven und der passiven Sterbehilfe zu unterbreiten und Maßnahmen zur Förderung der Palliativmedizin zu treffen. Der 2006 vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) vorgelegte Bericht „Sterbehilfe und Palliativmedizin – Handlungsbedarf für den Bund?“ stellte weder bei der indirekten aktiven noch bei der passiven Sterbehilfe, weder bei der Suizidhilfe noch beim so genannten Sterbetourismus einen bundesgesetzgeberischen Handlungsbedarf fest. Mögliche Missbräuche in der Suizidhilfe könnten und müssten durch die konsequente Anwendung und Durchsetzung des geltenden Rechts insbesondere von Seiten der Strafverfolgungsbehörden verhindert werden.
Auch im Bereich der Palliativmedizin sieht er keinen zwingenden Handlungsbedarf für den Bund; der Bund könnte, falls es für nützlich erachtet wird, „die Entwicklung von Palliative Care dort unterstützen und fördern, wo er über entsprechende Kompetenzen verfügt: in der Aus- und Weiterbildung der universitären Medizinalberufe, der Gesundheitsberufe auf Fachhochschulebene sowie derjenigen im nicht universitären Bereich, bei der Finanzierung von Palliative-Care-Leistungen und in der Forschungsförderung“.
Aufgrund dieses Berichtes beschloss der Bundesrat, gegenüber dem Parlament zu beantragen, auf eine Gesetzesänderung beziehungsweise eine Gesetzgebung in dieser Sache zu verzichten. Gleichzeitig wurde das EJPD beauftragt, zusammen mit dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) dem Bundesrat ein Aussprachepapier zu unterbreiten über Maßnahmen zur Verhinderung von Missbräuchen bei der Suizidhilfe und Vorschläge über Einschränkungen der Verschreibung und Abgabe des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital (NAP) in letaler Dosis (Änderung des Betäubungsmittelgesetzes) und die zur Förderung der Palliativmedizin getroffenen und geplanten Maßnahmen.
Der Ergänzungsbericht von 2007 kommt zum Schluss, dass die bestehenden Vorschriften zur Verschreibung und Abgabe von NAP in letaler Dosis im Betäubungsmittelrecht als ausreichend zu bewerten seien. Einschränkendere Regelungen zur Verhinderung allfälliger Missbräuche bei der Suizidhilfe in diesem Bereich seien nicht angebracht. Der Bericht stellt in Aussicht, dass das Eidgenössische Departement des Innern dem Bundesrat zu gegebener Zeit Vorschläge für eine Stärkung der Forschung auf dem Gebiet von Palliative Care unterbreiten werde, sei dies über ein Nationales Forschungsprogramm oder über andere geeignete Förderungsmassnahmen.
Nachdem der Bundesrat den Ergänzungsbericht zur Kenntnis genommen hatte, blieb die öffentliche Diskussion kontrovers und von verschiedenen Seiten wurden minimale Sorgfalts- und Beratungspflichten für Suizidhilfeorganisationen gefordert. Zudem erblickte der Bundesrat im Ausweichen auf die so genannte Helium-Methode eine Tendenz der organisierten Suizidhilfe, sich der ärztlichen Kontrolle über die Verschreibungspflicht für Natrium-Pentobarbital zu entziehen; finde diese Kontrolle nicht statt, entstehe ein Freiraum, der einen würdevollen Suizid in Frage stellen und Missbrauchsgefahren bei der organisierten Suizidhilfe erhöhen könnte.
Im Sommer 2008 beauftragte der Bundesrat deshalb das EJPD, zusammen mit betroffenen Ämtern zu klären, ob in gewissen Punkten ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehe. Geprüft werden sollen etwa eine gesetzliche Regelung gewisser minimaler Sorgfalts- und Beratungspflichten der Suizidhilfeorganisationen, einer Dokumentationspflicht, der Qualitätssicherung bei der Auswahl und Ausbildung von Suizidbegleitern, der Pflicht zu finanzieller Transparenz sowie die Festlegung ethischer Schranken für Suizidhilfeorganisationen.
Im vergangenen Sommer führte der Bundesrat eine erste Aussprache über die Notwendigkeit gesetzlicher Schranken und eines Verbots der organisierten Suizidhilfe durch. In dieser ethisch kontroversen Frage ist der Bundesrat geteilter Meinung. Er wird deshalb eine Vernehmlassung mit mehreren Varianten erarbeiten und zur Diskussion stellen.
Eine Staatsanwaltschaft prescht vor
Eine Studie der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat die Fälle von Suizidbeihilfe untersucht, die zwischen 2001 und 2004 vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich abgeklärt wurden; jede Suizidbeihilfe ist meldungspflichtig und wird durch die Untersuchungsbehörden geprüft. Die Studie umfasst fast alle Fälle der Sterbehilfeorganisation „Dignitas“ sowie die Stadtzürcher Fälle von „Exit“, rund ein Drittel derer Fälle in der Deutschen Schweiz. Ein Vergleich zeigt deutliche Unterschiede zwischen „Dignitas“ und „Exit“ auf. Während „Exit“ bei den 147 untersuchten Fällen nur ausnahmsweise Suizidbeihilfe bei Ausländern leistet (2001 bis 2004: 3 Prozent), stammen bei „Dignitas“ 91 Prozent der im gleichen Zeitraum 274 in den Tod begleiteten Menschen aus dem Ausland.
Mit der Sterbehilfeorganisation „Exit“, deren Tätigkeit einen Schwerpunkt im Raum Zürich hat, hat die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich im vergangenen Sommer eine „Vereinbarung über die organisierte Suizidhilfe“ getroffen. Damit werden zum Zweck der Qualitätssicherung Rahmenbedingungen festgeschrieben, die der Erreichung der folgenden Ziele dienen sollen: „a) Respektierung des Rechts auf einen würdigen Tod, b) Gewährleistung des Rechts auf Selbstbestimmung, c) Wahrnehmung der Fürsorge bei suizidgefährdeten Menschen, d) Geordneter Umgang mit Verschreibung/Anwendung von Heilmitteln, e) Geordneter Ablauf der Untersuchung betreffend die Umstände des Todes“.
In dieser Vereinbarung verpflichtet sich „Exit“ unter anderem, sich an die von der Nationalen Ethikkommission verfassten „Sorgfaltskriterien im Umgang mit Suizidbeihilfe“ zu halten und die Suizidbegleitungen ausschließlich unter Verwendung von Natrium-Pentobarbital durchzuführen. Human Life International Schweiz, die Vereinigung Katholischer Ärzte der Schweiz und die Schweizerische Gesellschaft für Bioethik fechten diese Vereinbarung juristisch an. Dazu haben die Organisationen gemeinsam eine Beschwerde an das Bundesgericht und zugleich eine Aufsichtsbeschwerde an den Regierungsrat des Kantons Zürich eingereicht. Dieser wie die Sterbehilfeorganisation „Exit“ selber befürworten eine nationale gesetzliche Regelung der Suizidhilfe.