Die Evolutionslehre und die kirchliche BuchzensurBedrohte Brückenschläge

Die Haltung der katholischen Kirche zur Evolutionslehre tendierte zuerst zu immer schärferer Ablehnung, dann zu Rückzugsgefechten. Die historische Perspektive hilft zu erhellen, welche Missverständnisse bis heute nachwirken und welche theologischen Prämissen hinter der Ablehnung einer Entwicklung des Lebendigen noch heute stehen.

Eine Zeit lang schien es, als hätten die Kirche und die biologische Entwicklungslehre Frieden geschlossen. Selbst Johannes Paul II. bestätigte der Evolutionstheorie 1996, mehr als eine Hypothese zu sein. Doch der Schein trügt: In den letzten Jahren wurde die Evolutionstheorie wieder Hauptzeuge einer naturalistischen Interpretation des Menschen, und hohe kirchliche Vertreter warnen vor einem falschen Burgfrieden. Um diese erneute Kontroverse, 150 Jahre nach Charles Darwins Hauptwerk „The origins of species“, zu verstehen, verleiht erst die historische Besinnung auf die Geschichte dieser Konfrontation dem Blick Tiefenschärfe. Wie und warum hat die Kirche gegen die Evolutionstheorie Position bezogen? Oder fiel die offiziöse kirchliche Reaktion eher moderat aus, da noch die peinlichen Rückzugsgefechte des 19. Jahrhunderts im „Fall Galilei“ vor Augen standen, bei dem man sich zu weit auf naturwissenschaftliches Gebiet vorgewagt hatte?

Die Lektüre Darwins war ohnehin verboten

Seismograph für die kirchliche Haltung ist die Praxis der römischen Buchzensur. Mit deren Hilfe versuchten das Heilige Offizium und die Indexkongregation seit der frühen Neuzeit, das verfügbare Wissen für die Gläubigen zu kontrollieren und zu steuern. Deren Praxis war Spiegel der römischen Theologie. Denn die zuständigen Kardinäle und Konsultoren studierten und lehrten meist an den römischen Hochschulen und arbeiteten oft auch in anderen Dikasterien der Kurie. Die Entwicklung des Index librorum prohibitorum ist also ein Stück weit die Entwicklung der Theologie Roms und der Leitung der Weltkirche.

Bereits vor 40 Jahren hat Hermann Joseph Dörpinghaus das katholische Zeitschriftenwesen auf die Rezeption der Theorien Darwins ausgewertet (Darwins Theorie und der deutsche Vulgärmaterialismus im Urteil deutscher katholischer Zeitschriften zwischen 1854 und 1914, Freiburg 1969). Seit zehn Jahren steht nunmehr auch das Archiv der römischen Glaubenskongregation für die Forschung offen. Erste einschlägige Monographien sind erschienen (vgl. vor allem Mariano Artigas u.a., Negotiating Darwin. The Vatican confronts evolution 1877–1902, Baltimore 2006).

Zum Verständnis der kirchlichen Indizierungspraxis sind die so genannten tridentinischen allgemeinen Indexregeln grundlegend. Regel 2 bestimmte, dass Katholiken die Lektüre all jener Bücher ohnehin verboten war, die Häresie und Schisma rechtfertigten oder die Grundlage der Religion zerstörten. Viele Schriften brauchten deshalb nicht eigens indiziert zu werden. Der Index konnte sich eine gewisse Lückenhaftigkeit und Zufälligkeit erlauben: Man wurde ja nur auf Anzeige hin tätig. Das Schwergewicht lag auf Büchern in den romanischen Sprachen, englische und deutsche Literatur nahm man nur sporadisch zur Kenntnis.

Darwins Theorie entstand nun in einem breiten Umfeld biologisch-materialistischer Theorien, die tatsächlich die Grundlagen der Religion angriffen, so etwa die Mediziner und Naturwissenschaftler Carl Vogt, Ludwig Büchner und Jakob Moleschott. Entsprechend wurde Darwin sofort materialistisch interpretiert und als atheistische Wunderwaffe eingesetzt, besonders prominent vom Jenaer Zoologen Ernst Haeckel. Berüchtigt war dessen Werk „Die Welträtsel“.

Es ist nicht allzu verwunderlich, dass sich auf dem Index die Namen Darwins, Haeckels und der Materialisten nicht finden, weil deren Lektüre ohnehin aufgrund der zweiten Indexregel als verboten galt. Eine Ausnahme bildet Darwins Großvater, Erasmus Darwin. Dessen Werk „Zoonomia“ wurde 1817 ausdrücklich als materialistisch indiziert. Gründe waren eine Übersetzung ins Italienische und der reaktionäre Einfluss des späteren Papstes Gregors XVI. und seines Ordensmitbruders Albertino Bellenghi. Beide sahen in derartigen Theorien (wie übrigens auch im Denken Kants) die Ursache der Revolutionen in Europa.

Aber die Theorie einer Evolution des Lebendigen musste ja nicht materialistisch und atheistisch interpretiert werden. War es legitim zu versuchen, Evolutionstheorie und Glauben miteinander zu vereinbaren? Inwieweit fühlten sich Papst und Kurie für diese Fragen der Wissenschaft zuständig?

Die Zensur von Büchern lässt sich als praktische Applikation der Tätigkeit des päpstlichen Lehramts auf das Wissen der Zeit verstehen. Die Aufgabe dieses Lehramts war bis ins 19. Jahrhundert hinein von derjenigen der Theologen klar unterschieden. Papst und Bischöfe sollten den geoffenbarten, überlieferten Glauben bewahren, bezeugen und verkündigen. Die wissenschaftliche Theologie sollte dieses Offenbarungswissen begründen, verteidigen und denkerisch weiter durchdringen.

Folgenschwere theologiegeschichtliche Entwicklungen

In Rom wurden um 1850/60 nun aber einige wichtige Indexprozesse geführt, bei denen die Weichen des Verhältnisses von Glaube und Vernunft neu gestellt wurden: Binnen weniger Jahre wurden der Moraltheologe Johann Baptist Hirscher und die Philosophen Antonio Rosmini, Casimir Ubaghs, Anton Günther und Jakob Frohschammer verurteilt. Deren Verfahren hatten Gemeinsamkeiten: Alle fünf Denker leugneten keine Dogmen, sondern wollten die kirchliche Lehre verteidigen. Sie wurden jeweils von einer Gruppe um die römische Jesuitenzeitschrift Civiltà Cattolica attackiert, die an der Kurie ihre führenden Repräsentanten in dem Jesuiten Giovanni Perrone und den beiden nach Rom übersiedelten Deutschen Josef Kleutgen (ebenfalls Jesuit) und Kardinal August Graf von Reisach hatte. Im Gefolge dieser Prozesse gewann deren Richtung an der Kurie um 1860 die Oberhand.

Ergebnis war die Unterdrückung bislang legitimer Schulmeinungen. Kardinal von Reisach gelang es hier, opponierende Strömungen durch seine direkten, informellen Kontakte zu Pius IX. auszuschalten. Es setzte sich aber auch eine umfassendere Sicht des päpstlichen Lehramts durch, die mit dem Breve „Tuas libenter“ 1863 offizielle Kirchenlehre wurde. Hier führte Reisach dem Papst die Feder, indem er eine Unterscheidung von Kleutgen aufgriff: Es war dessen Theorie des „ordentlichen Lehramts“. Neben dem bislang terminologisch bekannten, nun „außerordentlich“ genannten päpstlichen Lehramt übe der Papst auch ein magisterium ordinarium aus. In ihm äußere er sich verbindlich, wenn auch nicht unmittelbar als Offenbarungszeuge, zu Fragen der Theologie, der Wissenschaft und der Philosophie.

Die noch junge Praxis päpstlicher Lehrenzykliken, die sich zu immer zahlreicheren Fragen des kirchlichen Lebens und der Wissenschaft äußerten, wurde so legitimiert. Das Durchdenken und Weiterentwickeln der kirchlichen Glaubensregel, wofür bislang Theologie und Wissenschaft zuständig waren, wurde Aufgabe des Papstes. Dieses Konzept wurde von Leo III. dann inhaltlich gefüllt: Er schrieb der Kirche eine einzige Philosophie, den aristotelisch verstandenen Neuthomismus vor. Die von Kleutgen und in der Civiltà Cattolica erarbeiteten philosophischen Theorien wurden offizielle Kirchenlehre.

Dies hatte mittelfristig Konsequenzen für den Umgang der Kirche mit der Evolutionslehre. Obwohl Darwins Theorie schnell von Monisten und Materialisten ausgeschlachtet wurde, rezipierten sie zunächst auch katholische Denker. Bereits 1855 gründete eine Gruppe um den Münsteraner Philosophen und Priester Friedrich Michelis die Zeitschrift „Natur und Offenbarung“ gegen den Naturalismus Vogts. Michelis kämpfte an führender Stelle gegen den Materialismus, aber auch für die Freiheit der Wissenschaft in der Kirche und für das Lebensrecht eines christlichen Platonismus gegen Kleutgens Neuscholastik. Michelis wehrte sich gegen ein wörtliches Verständnis der ersten Kapitel der Genesis. Die Ergebnisse der Naturwissenschaften müssten anerkannt werden. Er rezipierte die Theorie des eng mit Darwin verbundenen Geologen Charles Lyell, der als erster schlüssig die biblischen Berechnungen über das Alter der Welt widerlegte.

Auch Darwin wurde rezipiert: John Gmeiner, ein amerikanischer Priester, dessen Familie aus der Oberpfalz stammte, vertrat in den USA die Vereinbarkeit von katholischem Glauben und Entwicklungslehre. Gmeiner wurde wegen dieser Ansichten von den kirchlichen Autoritäten nicht belangt. Dies gilt ebenfalls für den bedeutendsten katholischen Rezipienten und Opponenten Darwins, den englischen Konvertiten und Biologen St. George Jackson Mivart. Mivart war bei Darwin und dessen Hauptpropagator Thomas H. Huxley hoch angesehen – bis er deren Theorie der Selektion als alleiniges Movens der Entwicklung kritisierte. Seine Einwände zwangen Darwin zu Präzisierungen. Mivart selbst bestritt zwar die exklusive Geltung des Selektionsprinzips, akzeptierte jedoch 1871 in der Schrift „On the Genesis of Species“ die Tatsache der Evolution der Arten. Auch der menschliche Leib habe sich aus dem Tierreich entwickelt; der biblische Schöpfungsbericht wolle keine naturwissenschaftlichen Wahrheiten lehren. 1876 verlieh Leo XIII. dem angesehenen englischen Katholiken die philosophische Ehrendoktorwürde.

Rezeption auch bei katholischen Denkern

Danach setzten sich in Rom die neuen Kompetenzansprüche des päpstlichen Magisteriums und die neuthomistische Philosophie durch. Folge war die Verurteilung dreier Werke, die ebenfalls Glauben und Evolutionslehre harmonisieren wollten: Es handelt sich um die 1877 veröffentlichten Vorlesungen des toskanischen Priesters und Naturwissenschaftlers Raffaello Caverni, um das 1891 verfasste Werk des französischen Dominikaners Dalmace Leroy „L’évolution restreinte aux espèces organiques“ und um die 1896 geschriebene Studie „Evolution and Dogma“ von John A. Zahm. Zahm war Priester der Congregation of the Holy Cross und als Philosophiedozent an der Hochschule Notre Dame einer der einflussreichsten katholischen Intellektuellen der Vereinigten Staaten.

Alle drei Harmonisierungsversuche argumentierten nach demselben Muster. Sie hielten die Theorie der Entwicklung des Lebens auf der Erde für vereinbar mit dem katholischen Glauben. Man müsse nur an der unmittelbaren Erschaffung der menschlichen Geistseele durch Gott festhalten. Das Buch Genesis sei kein naturwissenschaftlicher Bericht. Deshalb könne man auch Gen 2,7, wonach Gott den Menschen aus Ackerboden geformt und seinen Lebensodem eingehaucht habe, so interpretieren, als habe sogar der Mensch nach seiner körperlichen Seite seine Ursprünge in der Evolution. Für diese Theorie wurden Stützen in der theologischen Tradition gesucht, besonders Zahm glaubte, hierfür Augustinus und Thomas von Aquin zitieren zu können.

Alle drei Entwürfe wurden in Rom indiziert. Die entscheidende Rolle spielte dabei der römische Neuthomismus. Scharfe philosophische Angriffe der Civiltà Cattolica waren jeweils vorangegangen. Im Falle Cavernis war das Gutachten des Dominikaners Tommaso Zigliara entscheidend, der für seine thomistische Philosophie bald darauf zum Kardinal erhoben wurde. Bei Leroy, für den sich zunächst zwei Gutachter vorsichtig positiv ausgesprochen hatten, setzten sich dann jene Voten durch, die ihre Argumente aus dem neuscholastischen Handbuch De Deo creante des Jesuitenkardinals Camillo Marzella geschöpft hatten. Mazzella und die römischen Jesuiten erreichten schließlich auch die Verurteilung Zahms.

Entwicklung als Feindbild

Da keiner der Autoren ein Dogma leugnete, sind die Begründungen der Zensuren von Interesse. Es gab je einen theologischen und einen philosophischen Argumentationsstrang: Theologisch wandte man sich gegen eine Hermeneutik des Schöpfungsberichts, die die Erschaffung des ersten Menschenpaares, also auch Evas, nicht im Wortsinn auslegte und eine Unterscheidung zwischen göttlicher Wahrheit und menschlicher Gestalt des Textes vornahm. Dazu berief man sich auf den theologischen Konsens. Die Tradition sollte eine sichere Antwort auf eine Frage geben, die sich früher so noch gar nicht gestellt hatte.

Das Schwergewicht lag aber auf der philosophischen Unvereinbarkeit von Evolutionstheorie und Christentum. Die „gesunde Philosophie“ lehre die klare Unterschiedenheit der Artbegriffe, der aristotelischen Formen also, zwischen denen es keine Übergänge geben könne. Aus Niedrigem könne zudem niemals Höheres entstehen. Entwicklung war somit ein zweifaches Feindbild: Theologisch fürchtete man eine Evolution des Dogmas und der Bibelinterpretation, philosophisch die Verflüssigung unserer realistisch interpretierten Verstandesbegriffe und damit einen Erkenntnisskeptizismus.

Besonders bei der Verurteilung Zahms lassen sich auch kirchenpolitische Gründe erkennen. Er war führender Repräsentant einer irisch geprägten Gruppe im amerikanischen Katholizismus. Diese stand für eine Anpassung an die amerikanische Gesellschaft und deren Werte der Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung. Seine Gegner um Kardinal Mazzella führten eine Richtung vor allem deutschstämmiger Auswanderer an, die für Abschottung plädierte. Sie erreichte die Verurteilung dieser Reformströmung als „Amerikanismus“ durch Leo XIII.

Die neuere Forschung hat aber deutlich gemacht: Amerikanismus war keine Sondermeinung jenseits des Ozeans, sondern Teil einer breiten, auch in Europa einsetzenden reformkatholischen Strömung. Diese wollte die Kirche mit der modernen Kultur und Wissenschaft versöhnen und bewertete die menschliche Natur und deren Fähigkeiten optimistischer. Amerikanismus war also eng mit dem französischen, deutschen und italienischen Reformkatholizismus verbunden. Führender deutscher Vertreter war der Würzburger Dogmatiker Herman Schell. Wie kein anderer Dogmatiker seiner Zeit war Schell aufgeschlossen für Kategorien wie Dynamik und Entwicklung. Schell war befreundet mit dem italienischen Reformkatholiken und Bischof von Cremona, Geremia Bonomelli. Als einziger im italienischen Episkopat hatte dieser es 1898 gewagt, öffentlich die Vereinbarkeit von Glaube und Evolution zu behaupten.

Umfassende kosmologische Neukonzeption der Schöpfung

Der katholische Anti-Evolutionismus hatte somit ein klares kirchenpolitisches Profil. Er betonte gegenüber den Fähigkeiten des Individuums und dessen Eigenverantwortung die Stellung der kirchlichen Autorität. In der so genannten „Modernismuskrise“ hat Pius X. diese Zusammenhänge, wie sie das päpstliche Lehramt sah, dann explizit ausgesprochen. Es bestehe ein Verhältnis der notwendigen und wechselseitigen Implikation: Die Entwicklung in einem Gebiet (und sei es der Biologie) zugestanden, führe zum Entwicklungsgedanken in der Exegese und der Philosophie, dieser wiederum zur Entwicklung des Dogmas und der Kirche selbst.

Dies, so der Papst, ist die Metatheorie, der diejenigen anhängen, die nach Reformen in der Kirche rufen. Der „Gedanke der Entwicklung“, so die Enzyklika „Pascendi“, ist die „Quintessenz der Lehre“ der Modernisten. Zwei Jahre später legte die Bibelkommission verbindlich fest, dass die biblische Schöpfungsgeschichte wörtlich auszulegen sei. Jedem, der Darwins Entwicklungsgedanken mit dem Glauben versöhnen wollte, stand so das Stigma des Modernismus, das „Sammelbecken aller Häresien“, an die Stirn geschrieben. Ein Beweis ex negativo: Am Ende des Pontifikats Pius’ X. wurde auch Henri Bergson indiziert, dessen Philosophie in Frankreich viele Schüler zur Kirche geführt hatte. Denunziant und Gutachter waren strenge Thomisten. Begründung war unter anderem, dass der Entwicklungsgedanke in Bergsons Werk „L’évolution creatrice“ Darwinismus und damit in sich schlecht sei.

Dennoch gab es Versuche des Brückenschlags. Die zeitweise bei Biologen weit verbreiteten vitalistischen Tendenzen konnten diese erleichtern, so in der Würzburger Preisschrift des späteren Regensburger Hochschulrektors Joseph Engert. Der Schell-Verteidiger Franz Xaver Kiefl wurde 1911 von der Nuntiatur zur Aufgabe seines Würzburger Lehrstuhls gedrängt. In einer beachtenswerten Rede zum 50. Jubiläum der Deszendenztheorie hatte Kiefl aber noch als Rektor der Würzburger Universität 1909 Darwin gewürdigt: Entwicklungslehre und Schöpfungsglaube seien sehr wohl vereinbar. Ebenso wenig schlössen sich Mechanismus und Teleologie aus. Nicht nach Thomas von Aquin, aber nach Augustinus sei die Entstehung auch neuer Arten denkbar und selbst eine leibliche Abstammung des Menschen aus dem Tierreich sei in die augustinische Perspektive integrierbar, so der künftige Regensburger Domdekan.

Der Jesuitenbiologe Erich Wasmann, wichtigster Gegner Haeckels im deutschen Katholizismus und Spezialist in der Ameisenforschung, musste die Evolution des Lebendigen als Faktum anerkennen. Die Hypothese einer leiblichen Abstammung des Menschen aus dem Tierreich sei zwar unbegründet, aber keine Häresie. Ein noch offeneres Bekenntnis Wasmanns verhinderte wohl die jesuitische Ordenszensur.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Indizien für eine umfassende Entwicklung des Lebens und für die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich immer drückender. Bezüglich der Hominisation wurden bald neue Fossilien gefunden, die als missing links auf dem Weg zu Homo sapiens gelten konnten. In China war an diesen Entdeckungen der Jesuit und Geologe Pierre Teilhard de Chardin beteiligt, der wichtige Anregungen von Bergson empfangen hatte. So entstanden nach 1918 unabhängig voneinander zwei groß angelegte theologische Entwürfe, die die Evolutionstheorie zum Angelpunkt einer umfassenden kosmologischen, christologischen und gnadentheologischen Neukonzeption der Schöpfung machten.

Das Erscheinen der Schriften von Teilhard de Chardin wurde von der jesuitischen Ordenszensur auf tragische Weise unterdrückt, er selbst vom Unterrichten abgezogen. Einen verwandten Entwurf einer evolutiven Weltsicht, die die Gnade gerade in dem der Natur eigenen Potenzial der Selbstverwirklichung sah, entwarf zeitgleich der Bonner Fundamentaltheologe Arnold Rademacher. Sein Manuskript, für das er um die kirchliche Druckerlaubnis bat, gelangte vor das Hl. Offizium. Ergebnis war: Das Buch durfte niemals erscheinen und Rademacher musste diesen Lehren abschwören. Da der damalige Nuntius Eugenio Pacelli die Konkordatsverhandlungen nicht gestört sehen wollte, verzichtete man schließlich doch darauf, Rademacher ein lebenslängliches Redeverbot über Fragen des Glaubens aufzuerlegen und beließ ihn auf seiner Professur.

Im Streit um eine evolutive theologische Weltsicht zeichneten sich so in den zwanziger Jahren bereits jene Konflikte um das Verhältnis von Natur und Gnade ab, die nach 1945 zwischen dem römischen Neuthomismus und der Nouvelle théologie erneut aufbrachen. Ergebnis war 1950 die Enzyklika „Humani generis“, die nunmehr Evolution als rein naturwissenschaftliche Hypothese zu lehren erlaubte, die menschliche Seele aber ausnahm und die Abstammung aller Menschen von einem Urelternpaar und eine Zwei-Stockwerk-Gnadenlehre verbindlich lehrte.

Noch immer war die Position der Kirche zur Evolutionslehre dadurch bestimmt, wie eng man die Verbindlichkeit des Thomismus interpretierte, wie wörtlich man die Heilige Schrift auslegen musste und wie verbindlich die theologische Tradition in einer Frage war, die sich in der Vergangenheit auf diese Weise noch gar nicht gestellt hatte. Noch auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde um jede dieser Fragen gerungen. Für viele überraschend hatte sich hier aber erstmals die reformkatholische Linie ein Stück weit durchgesetzt.

Eine gewisse Rücknahme der Verbindlichkeit des Thomismus, eine neue Bibelhermeneutik und eine Anerkennung der Eigenständigkeit autonomer Kultursachbereiche eröffneten erst jenen Spielraum, den Theologen brauchten, um die Ergebnisse der Naturwissenschaften vorbehaltlos anerkennen zu können. Meilensteine auf diesem Weg waren in den sechziger Jahren die Schriften der Jesuiten Paul Overhage, Karl Rahner und Adolf Haas. Ein über hundert Jahre währender Kampf, aber auch ein beinahe ebenso langes Rückzugsgefecht schien überwunden zu sein.

Die Haltung der Kirche zur Evolutionslehre war in der Geschichte also nicht konstant, sondern tendierte zu immer schärferer Ablehnung, dann zu Rückzugsgefechten. Natürlich äußerte sich das päpstliche Lehramt nur 1909 im Dekret der Bibelkommission und dann 1950 in „Humani generis“ direkt zur Entwicklungslehre. Die Zensurpraxis bedrohte freilich lange Zeit alle Versuche des Brückenschlags.

Die ablehnende Haltung war nur zu einem geringen Teil durch naturwissenschaftliche Gründe bestimmt. Vielmehr hatte sie ihre Wurzeln in einem neuen Selbstverständnis des päpstlichen Lehramts und der Angst vor dem Entwicklungsgedanken. Hätte man die Entwicklung des organischen Lebens zugegeben, so fürchtete man, wären auch Schriftauslegung, Traditionsverständnis, Philosophie und Kirche selbst nicht ewig und unwandelbar geblieben.

Das Konzil half endlich, theologische Engführungen zu überwinden. Für die Gegenwart wird man deshalb zwei Dinge festhalten können: Ein exaktes systematisches und exegetisches Erfassen dessen, was unter Schöpfung, Erst- und Zweitursächlichkeit, Gnade, Natur und Erbsünde zu verstehen sei, kann gegen neue naturalistische Angriffe gelassener machen. Die historische Perspektive aber hilft zu erhellen, welche Missverständnisse bis heute nachwirken und welche theologischen Prämissen hinter der Ablehnung einer Entwicklung des Lebendigen noch heute stehen.

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