HK: Herr Professor Bude, der Untertitel Ihres vielbeachteten Essays über die „Ausgeschlossenen“ lautet „Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“. Müssen wir uns wirklich von diesem Traum verabschieden?
Bude: Wir sind am Ende einer Periode angekommen. Die deutsche Nachkriegsgeschichte war von der Vorstellung geprägt, dass wir eine gerechtere Gesellschaft in dem Maße haben, wie die Mitte der Gesellschaft immer breiter und tiefer wird. Die Abstände zwischen den Schichten und gesellschaftlichen Gruppen werden geringer und man findet sich in einem nivellierten Lebensstil wieder, der den allgemeinen Zuschnitt der Lebensumstände darstellt. Symptomatisch für diese Vorstellung war die entsprechende Rede von den „Rändern“, die durch föderativen Ausgleich, und von den „Randgruppen“, die durch die Sozialpädagogik in die Mitte integriert werden. Neben dem „Mittelmaß“, mit Friedrich Sieburg oder Hans Magnus Enzensberger gesprochen, gibt es dann nur noch den „Wahn“. Das sah man übrigens in der DDR ganz ähnlich.
HK: War dies denn nur ein Traum, eine leere Illusion?
Bude: Nein, wir sollten nicht mit Ressentiment auf die deutsche Nachkriegsgeschichte schauen. Das war im Großen und Ganzen eine glückliche Zeit. Wir müssen diese Nachkriegszeit jetzt allerdings zur Geschichte werden lassen, denn nicht nur durch die Inkorporierung der DDR in die Bundesrepublik, sondern auch mit alldem, was unter dem nicht unproblematischen Begriff der Globalisierung diskutiert wird, können wir relativ sicher sagen, dass die Bundesrepublik eine ungleichere Gesellschaft werden wird. Das werden Ungleichheiten sein, die nicht leicht durch institutionelle und politische Maßnahmen aufzufangen sind. Hier sehe ich die eigentliche Herausforderung für den Begriff der sozialen Gerechtigkeit heute, nämlich soziale Gerechtigkeit bei Ungleichheit denken zu können.
HK: Worin unterscheidet sich diese „soziale Gerechtigkeit“ von der früheren politisch-ethischen Forderung oder dem Nachkriegs-Ideal einer gerechten Gesellschaft?
Bude: Es geht jetzt darum, nicht zynisch zu reagieren, wie man das vielleicht in den so genannten neoliberalen Zirkeln tut; im Sinne von „some do and some don’t“, und wer nicht mitkommt, hat Pech gehabt. Ebenso dürfen wir nicht zurückfallen in ein sozialstrukturell konservatives Wir-wollen-den-alten-Wohlfahrtsstaat-wieder-haben. Beide Positionen sind gegenüber der Gerechtigkeitsfrage, wie sie sich heute in Deutschland stellt, nicht mehr angemessen. Wir müssen im Grunde sowohl die konservative bundesrepublikanische Position wie die neoliberale Gegenposition überwinden, um wirklich die Frage der sozialen Gerechtigkeit neu zu stellen, und um uns dann auch komplizierter, weniger denkfaul darüber zu unterhalten oder auch zu streiten.
„Vermehrte Investition in Humankapital und verschärfter Ausschluss von Menschen“
HK: Dabei gibt es doch schon über die angemessene Beschreibung der aktuellen sozialen Frage Streit – darüber nämlich, wo die Gräben eigentlich verlaufen, ob zwischen Arm und Reich, oben und unten, gebildet oder ungebildet ...
Bude: Jede Gesellschaft kennt ein Oben und ein Unten und es lässt sich auch zeigen, dass die Spreizung der Einkommen zunimmt, der Abstand etwa zwischen dem ärmsten und dem reichsten Fünftel der Gesellschaft wächst. Das stimmt. Das ist zwar ärgerlich, wäre aber hinnehmbar, wenn nicht gleichzeitig bestimmte Gruppen den Anschluss an den Mainstream unserer Gesellschaft verlieren würden. Die soziale Frage hat sich von oben oder unten zu der von drinnen oder draußen verändert. Nicht, dass es kein oben oder unten mehr gibt. Nur hat sich die Frage von drinnen oder draußen darübergelegt.
HK: Wo zeigt sich diese Verschiebung am deutlichsten? Wer ist schon draußen, wer noch drinnen?
Bude: Wir haben es beispielsweise mit einer Reihe von Problemen im Bildungssystem zu tun. Lehrerinnen und Lehrer aus Hauptschulen etwa klagen, dass sie es zum Teil mit ausbildungsmüden Jugendlichen zu tun haben, von denen man nicht sagen kann, dass ihnen eine Lehrstelle fehlt oder dass es für sie nicht spezielle pädagogische Programme gibt. Diese ausbildungsmüden Jugendlichen aber verlegen ihre ganze Energie darauf, jeden Unterricht zu unterlaufen mit der Botschaft: Wir verstehen schon, was ihre wollt, aber das interessiert uns alles nicht. Die Schule ist die Bühne für ein anderes Spiel. Man schult sich in der Kunst der Verächtlichmachung von anderen, die langsamer beim Auftrumpfen und schwächer beim Reagieren sind. Das ist überhaupt nicht nett, aber macht blutigen Spaß. Diese Kompetenz braucht man, um groß rauskommen zu können.
HK: Was steckt hinter dieser Botschaft? Ist es totale Resignation, Zukunftsangst?
Bude: Wenn man mit den Jugendlichen redet, zeigt sich, dass sie ihre Chancen ganz woanders sehen. Sie stellen sich ihr Leben in einer ganz anderen Welt vor. Viele träumen von einer spektakulären Lebensführung. Dafür gibt es durchaus eine Grundlage: Das ist weniger „Deutschland sucht den Superstar“ als das erweiterte System der Drogenökonomie. Besonders unter männlichen Jugendlichen ist die Vorstellung verbreitet, dass der Job, den sie auf der Straße finden können, die einzige Chance ist, aus ihrer miserablen Lage herauszukommen. Es sind also nicht die fehlenden Ressourcen, es fehlt diesen Jugendlichen nicht an Geld. Sie haben die falschen Träume und verfallen auf fatale Strategien. Der springende Punkt ist, dass sie ziemlich verzweifelt versuchen, sich den Respekt zu wahren und sich dabei unweigerlich ins soziale Aus manövrieren.
HK: Wie steht es überhaupt um die Chancen dieser Hauptschüler, sich in den regulären und legalen Arbeitsmarkt zu integrieren?
Bude: Natürlich werden die Positionen in unserer Gesellschaft immer anspruchsvoller – auch auf dem Bau kann heute keiner mehr reüssieren ohne ausreichende Computerkenntnisse. Ein Baukonzern wie „Hoch-Tief“ wirbt damit, dass man Intelligenz, nicht Manpower zur Verfügung stellt. Das gilt für alle Positionen in der unmittelbaren Produktion. Daran muss ein Lebensmodell, das auf die harten und dreckigen Jobs in der alten Industrie zugeschnitten ist, scheitern. Die Jobs, auf die sich die proletarischen Jugendlichen mit ihrem Spaß am Widerstand vorbereitet haben, gibt es nicht mehr. Gleichzeitig erklären Personalberater, sie fänden keine Manpower mehr, die Facharbeitermärkte seien leergefegt. Diejenigen, die sie nicht brauchen können, erkennen diese Personalberater sofort: viel Handygebrauch, wenig Lesebereitschaft, zu dick von zu viel Weißmehl und Fett, und zu träge von zu viel Zucker und zu wenig Bewegung. Wir haben eine Vertiefung der Spaltung durch die Kompetenzrevolution in den normalen Tätigkeiten der dienstleistungsorientierten, wissensbasierten Ökonomie unserer Gesellschaft zu konstatieren.
HK: Ist das wirklich ein neues Phänomen? Hatten moderne Gesellschaften nicht immer schon ihre Ränder, solche die nicht mitgekommen sind?
Bude: Das Neue ergibt sich aus der Paradoxie von vermehrter Investition in Humankapital und verschärftem Ausschluss von Menschen. Die Industrie sucht händeringend nach Nachwuchs und macht gleichzeitig bestimmte Gruppen zu einer Überschussbevölkerung. Für diejenigen ohne Hauptschulabschluss oder ohne Nachbildungszertifikat bleiben nur noch die schlecht bezahlten Jobs bei der personenbezogenen Dienstleistung. Wer aber als stolzer Jungmann ohne Ausbildungsabschluss was auf sich hält, kann sich auf die Verliererabfindung nicht einlassen, die die Gesellschaft für ihn vorgesehen hat: Ich soll alte Leute im Rollstuhl durch die Gegend fahren, bist Du verrückt?
HK: Kommt mit diesen ausbildungsmüden Jugendlichen auch der zweite Traum der Nachkriegsrepublik an sein Ende, nämlich die Verheißung sozialen Aufstiegs durch Bildung? Eines der großen Ziele deutscher Bildungspolitik war doch, soziale Ungleichheit zu beseitigen.
Bude: Nicht verabschieden, aber realistisch damit umgehen. Das deutsche Rezeptwissen kennt nur zwei Antworten auf Probleme sozialer Spaltung: Erstens Geld, sprich: Erhöhung der Transfereinkommen, und zweitens: „Bildung, Bildung, Bildung“. Dass man aber gerade mit Bildung möglicherweise solche Spaltungen weiter verschärft, haben wir uns noch nicht richtig vor Augen geführt. Man kann durchaus, wie etwa in Schweden, die Abiturientenquote auf 60 Prozent heben. Sofort aber stellt sich die Frage, was aus den restlichen 40 Prozent eines Jahrgangs wird. Und unter diesen 40 Prozent gibt es dann noch einmal vielleicht zehn Prozent, die eben keinen Sinn in einer Ausbildung sehen – die haben dann keinerlei Chancen mehr. Ein Standardbegriff von Bildung, der sich nicht mehr mit der Frage beschäftigen will, welche Bildung wofür von Nutzen ist, hilft genauso wenig weiter wie der Glaube an immer neue Zertifikate, der mehr der Rechtfertigung der Bildungsträger dient als den Fähigkeiten von deren Klientel. Im Übrigen wusste schon die frühe Bildungsökonomie um den sehr schwachen Zusammenhang zwischen Zertifikaten und Kompetenzen. Aber wenn einem ein bestimmter Schein fehlt, steht man dumm da und kommt allein schon aus Trotz auf dumme Gedanken.
HK: Wo liegt demnach das Hauptproblem unseres Bildungssystems, an dem doch dauernd herumreformiert wird?
Bude: Wir haben aus der Tradition des deutschen Berufsbegriffs, gegen die ich hier gar nichts sagen will, ein sehr zertifikatszentriertes Zugangssystem zu beruflichen Karrieren in Deutschland. Das ist in angelsächsischen Ländern ganz anders, wo man als Elektriker Klempnerarbeiten erledigen darf und als Altphilologe Vorstandsvorsitzender werden kann. Daran hat PISA trotz der Betonung auf Kompetenzen statt Stoffen nichts geändert. Im Gegenteil: Es gehört zu den perversen Konsequenzen der Kompetenztests, dass es am Ende noch Zertifikate für soziale Kompetenzen geben wird. Es ist alles andere als klar, was man braucht, um in einer irgendwie soziologisch vorgestellten Wissensgesellschaft vorankommen oder nur überleben zu können. Ich rede nicht gegen Bildung oder gegen einen Reformbedarf im Bildungsbereich. Nur wir dürfen nicht in der PISA-Diskussion gefangen bleiben. Die soziale Spaltung ist die neue Frage der Post-PISA-Diskussion, die sich vor allem um die nicht intendierten Effekte der in bester Absicht vorgenommenen Reformen drehen wird. Die absurde Fixierung auf die Systemfrage der schulischen Bildung hat die ganze Unsicherheit mit dem Bildungsbegriff verdeckt. Die funktionale Ausrichtung auf die Vorstellung eines berechenbaren Humankapitals hat einer reinen Investitionslogik Vorschub geleistet, die die in der Pädagogik begonnene Diskussion über das Verhältnis von Allgemeinbildung, beruflicher Bildung und sozialer Bildung vergessen hat. So konnte der Eindruck entstehen, man müsse nur eine gewisse Menge Geld in die Hand nehmen und bestimmte Dinge ins Werk setzen – und alles würde sich richten.
„Die Mitte der Gesellschaft ist sich selbst unsicher geworden“
HK: Wie effizient lassen sich die neuen sozialen Herausforderungen mit dem bisherigen sozialpolitischen, wohlfahrtsstaatlichen Instrumentarium angehen? Unsere Gesellschaft lässt sich eine Fülle von Integrationsmaßnahmen doch einiges kosten. Hat sich auch die Idee des deutschen Wohlfahrtsstaates erschöpft?
Bude: Wir haben auch mit einer sozialen Spaltungs-Entwicklung zu tun, die mit dem Wohlfahrtsstaat direkt zu tun hat. In dem Maße, wie unser Wohlfahrtsstaat ein aktivierender Wohlfahrtsstaat ist und sein soll – auch wenn man den Begriff selbst nicht mehr braucht, bleibt doch die Logik erhalten – wird es immer Gruppen geben, die, aus welchen Gründen auch immer, sich nicht aktivieren lassen. Diese Gruppen überfordern die impliziten Gerechtigkeitskonzeptionen des Wohlfahrtsstaates. Der Wohlfahrtsstaat kann aufgrund seiner inneren Gerechtigkeitsgrammatik mit diesen Leuten gar nicht umgehen. Er muss sie als Sozialschmarotzer ansehen; es wurden ja alle Aktivierungsmaßnahmen ausprobiert, die Fallmanager haben alles versucht: Selbst schuld! Da müssen andere zivilgesellschaftliche Organisationen, andere zivilgesellschaftliche Verantwortlichkeiten in Kraft treten, die sagen: Wir können es uns leisten, die Gerechtigkeitsstandards des Wohlfahrtsstaates einzuklammern und uns nach anderen Maßstäben zu richten.
HK: Haben Sie da auch die Kirchen und Ihre Wohlfahrtsverbände im Blick? Geht beispielsweise die „Befähigungsinitiative“ des Deutschen Caritasverbandes für die vermeintlich chancenlosen Jugendlichen schon in diese Richtung?
Bude: Die Kirchen stehen hier vor einem weiten Feld von Arbeit und Verantwortung. Sie dürfen sich, ihrem Menschenbild entsprechend, beispielsweise den Grundsatz leisten, nach dem jeder Mensch etwas kann. Irgendetwas! In der gegenwärtigen sozialpolitischen Debatte sollten dies die Kirchen sehr offensiv vertreten: Wir haben ein Menschenbild, das auf ein Können der Person setzt, das von der Gesellschaft möglicherweise gar nicht mehr nachgefragt wird. Hier geht es nicht um irgendein abseitiges Sozialengagement. Es ist eine Antwort auf die soziale Frage unserer Zeit, die vermutlich von den sorgenden Institutionen unseres Wohlfahrtsstaates nicht mehr bearbeitet werden kann.
HK: Wie steht es um den politischen Willen, die Spaltungen, die „neue soziale Frage“ zu bearbeiten?
Bude: Dies wird schwieriger werden. Man kann nämlich derzeit noch eine zweite wichtige gesellschaftliche Entwicklung beobachten: Es haben sich nicht nur einige Gruppen sozusagen innerlich aus der Gesellschaft verabschiedet wie eben die ausbildungsmüden Jugendlichen, sondern die Mitte der Gesellschaft ist sich selbst unsicher geworden.
HK: Bringt diese Unsicherheit eine neue Sensibilität für schwierige Lebenslagen mit sich oder versucht man sich erst recht nach unten abzugrenzen?
Bude: Es gibt in dieser Mitte eine ziemlich deutliche Wende von einer starken Abgrenzung nach oben hin zu einer kühlen Abgrenzung nach unten. Nehmen Sie das Beispiel der streikenden Lokomotivführer im letzten Jahr. Die Lokomotivführer haben sich in ihren Forderungen nicht mehr mit denen identifiziert, die wie sie in der ICE-Welt beschäftigt sind, sondern mit den Piloten der Fluglinien. Und das ist eine Tendenz, die in der gesellschaftlichen Mitte überhaupt Platz greift. Jeder sucht nach der strategischen Gruppe, der er sich anschließen kann, und dadurch zerfallen betriebliche Solidaritätsräume. Die Leute, die die Waschräume im ICE sauber machen und den Müll entsorgen, werden teilweise von den Schaffnerinnen und Schaffnern nicht einmal mehr gegrüßt, mit dem Argument, die gehören gar nicht zu uns, die sind von einer anderen Firma. Die gleiche Logik regiert auch im Gesundheitssystem. Populationen, die für sich sorgen, suchen Abstand zu solchen, die sich ihrer Meinung nach gehen lassen.
HK: Wie sieht das im Bildungsbereich aus? Hat der die Mittelklasse-Eltern auf seiner Seite, die sich um bessere Chancen benachteiligter Kinder und Jugendlicher bemühen?
Bude: Hier stößt man auf eine mehr oder minder untergründige sozialmoralische Ansteckungsangst bei den Mittelklasse-Eltern: Ihre Kinder sollen bloß nicht mit den falschen Kindern in Berührung kommen, die sie mit falschen Motivationen infizieren. Dies alles führt zu einer Abschottung der Milieus voneinander, so dass man oben nichts mehr wissen will von denen unten. Und umgekehrt: Unten will man auch von oben nichts mehr wissen.
HK: Hat diese wechselseitige Abschottung wirklich zugenommen?
Bude: Die gegenseitige Abgrenzung ist in der Tat stärker geworden. Es lässt sich beispielsweise eine klare Tendenz auch auf den Heiratsmärkten beobachten Die Heiratsmärkte werden immer bildungsorientierter, Ehen und Lebensgemeinschaften werden immer homogener. Die Zeiten inhomogener Heirat, also Manager heiratet Sekretärin und Oberarzt die Krankenschwester, sind vorbei, auch als Idee. Und dies wird noch dramatischer dadurch, dass die jungen Frauen, die im Augenblick hohe Bildungsvorteile gegenüber Männern haben, beides haben wollen, Partner, die ihnen Familie und eigene Berufstätigkeit ermöglichen. Die im Grunde rationale Wahl eines „Marry-Down“ haben die Frauen mehrheitlich noch nicht entdeckt.
„Eine Kultur der gerechten Anstrengung als Antwort auf eine Krise, die alle trifft“
HK: Wir stehen am Beginn eines Superwahljahres. Welche Rolle könnten die Spaltungstendenzen in der Gesellschaft, die neue soziale Frage in den kommenden Wahlkämpfen spielen?
Bude: Für das Superwahljahr stellt sich neben dem verunsicherten Mittelstand noch ein weiteres Problem. Wir haben uns in der Sozialpolitik auf eine Risikogruppenpolitik spezialisiert, Sozialpolitik wird für immer neue Risikogruppen gemacht. Das hat diesen merkwürdigen Effekt, den der französische Soziologe Robert Castel die „Handicapologie“-Logik des modernen Wohlfahrtsstaates genannt hat. Das heißt, man kann immer dann einen Anspruch zur Geltung bringen, wenn man ein Handicap geltend machen kann – dann bekommt man Geld, erhält politisch eine Stimme. Schlimm dran sind die, die kein Handicap vorweisen können und trotzdem arm sind. Diese „Handicapologie“-Logik kommt aber durch die Finanzmarktkrise an ihr Ende. Denn die Wohlstandsverluste, die wir in den Mittelklassen haben werden, müssen irgendwie ausgeglichen werden.
HK: Jeder ist sich selbst der Nächste?
Bude: Nein, die politische Antwort könnte ganz im Gegenteil zu einem neuen politischen Egalitarismus führen, zu Appell und Forderung, dass es jetzt die Anstrengung aller, jeder einzelnen gesellschaftlichen Gruppe braucht, um das Ganze wieder ins Lot zu bringen. Spezielle Benachteiligungen begründen keine partikularen Rechte. Jede Gruppe wird – nach ihren Möglichkeiten natürlich – herangezogen zur Bewältigung der allgemeinen Aufgabe. Insofern hat die gegenwärtige Krise vielleicht sogar etwas Positives. Das Problem ist allerdings, dass dieser Egalitarismus politisch stark formuliert werden und insofern eine moralische Quelle von Politik behaupten können muss.
HK: Wie steht es denn dafür um die politisch ethischen Ressourcen in unserer Gesellschaft?
Bude: Das ist die große Herausforderung an das politische Geschäft der nächsten Jahre. Es würde fürs Publikum Differenzen markieren, wenn sich die großen Volksparteien einen Streit leisten würden über die alltagsmoralischen Konsequenzen ihrer jeweiligen politischen Programme: Was steckt hinter der Idee des Egalitarismus in der rechten, was hinter der in der linken Volkspartei? Darüber kann man streiten. Wie werden nach welchen Vorstellungen Privilegien und Zumutungen verteilt. Diese Auseinandersetzung hätte eine mobilisierende Kraft für die Gesellschaft insgesamt. Wenn die Mittelklasse merkt, dass von ihren Vermögenslagen, die sie für die eigene Zukunft zurechtgelegt hat, zwanzig oder dreißig Prozent weg sind, wird sie sich weigern, Steuererhöhungen mitzutragen, um andere zu finanzieren. Ein neuer politischer Egalitarismus wäre eine Antwort darauf: Jeder wird verpflichtet, nach seinem Möglichkeiten.
HK: Was heißt das konkret?
Bude: Wenn beispielsweise eine Klassenfahrt in der Schule ansteht, zieht das Vorwurfsargument nicht mehr, wir haben kein Geld, um unsere Kinder mitzuschicken, deshalb muss jemand anderes in die Bresche springen. Nein, jeder muss nach seinen Möglichkeiten für seinen Anteil aufkommen. Es ginge um eine Kultur der gerechten Anstrengung als Antwort auf eine Krise, die alle trifft. Wir müssen auf Augenhöhe zusammenkommen. Am Ende können sich alle freuen, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.
HK: Ist da nicht realistisch mit enormen Widerständen zu rechnen? Zumindest vordergründig gibt es für Einzelne ja auch einiges zu verlieren ...
Bude: Das ist richtig. Aber es gibt auch eine Menge sozialmoralischer Ressourcen in unserer Gesellschaft, die brachliegen, für die es einfach keine Artikulationsmöglichkeiten gibt. Das lässt sich doch bei den unterschiedlichsten bürgerschaftlichen Initiativen beobachten, etwa den Tafeln. Die haben eher zu viele, die etwas tun wollen. Nicht die Bereitschaft selbst, sondern die Möglichkeit zur produktiven Umsetzung dieser Bereitschaft ist das Problem. Dazu reicht eine allgemein bleibende Diskussion über bürgerschaftliches Engagement nicht aus.
HK: Steht diesem neuen Egalitarismus die traditionelle Vorstellung von einem für alle sorgenden Wohlfahrtsstaat entgegen?
Bude: Insofern ja, wie dieser Egalitarismus sich auch auf die positive individualistische Tradition angelsächsischer Art beruft. Hinter der Idee, dass jeder seinen Beitrag leisten muss, steht auch die Überzeugung, dass jeder befähigt wird, seinen Beitrag zu leisten. Der kontinentale Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn gerade in Deutschland kennen und den ich gar nicht so sehr kritisieren will, besitzt aber diese negative Seite, dass immer versucht wird, unterschiedliche Gruppen nach ihren jeweiligen Befähigungsgruppen zu definieren. Die einen sind dann vorneweg und die anderen zurück, die einen haben das Problem, die anderen ein anderes. Daran war und ist richtig, dass es zu einem Konzept von sozialer Gerechtigkeit gehört, dass jedem die Möglichkeit gegeben wird, in seinem Horizont auf die Beine zu kommen, dass jedem nach seinem Maß, das Rechte und Richtige zukommt. Aber es gibt eben nicht den einen Lebenszuschnitt für alle, an dem alles gemessen werden kann. Die individualistische Botschaft der Befähigung jedes Einzelnen zu verbinden mit der Idee eines Ganzen, in dem jede und jeder ihren und seinen Ort hat – das sind die beiden großen Prinzipien einer sozialpolitischen Gerechtigkeitsdiskussion, die ich für die Bundesrepublik erwarte und die ihr gut tun würde. Warum sollten wir uns nicht auch mal über Moral streiten in der Politik. Die Renovierung des Gerechtigkeitsdiskurses steht jetzt auf der politischen Agenda.
HK: Die beiden großen Kirchen haben 1997 mit einem gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialwort genau dieses versucht, nämlich eine breite Diskussion anzustoßen über die ethischen Prinzipien unseres Zusammenlebens und Wirtschaftens. Können sie jetzt auch beitragen zu dieser Renovierung des Gerechtigkeitsdiskurses?
Bude: Das Gemeinsame Wort hatte damals die richtige Botschaft: Das Soziale neu denken. Eben weil keiner mehr allein an den Markt glaubt, der alles richten wird. Aber es glauben auch immer weniger daran, dass Kultur uns retten wird. Die Themen der politischen Auseinandersetzung beziehen sich auf die Gesellschaft, in der es Arme und Reiche, Privilegierte und Benachteiligte, Starke und Schwache gibt. Die Unterschiede werden uneindeutiger in der Wahrnehmung und gleichzeitig schärfer in ihren Konsequenzen. Es ist die Kategorie des Sozialen, die Praktiken von Gerechtigkeit dankbar macht. Hier besteht die Chance der Kirchen, für eine Sprache zu sorgen, die die Dinge klarlegt, ohne gleich einem bestimmten politischen Auftrag folgen zu müssen. Sie können zu Anwälten einer Gesellschaft werden, der mit den Kategorien auch die Utopien verloren gegangen sind. Die Kirchen können diese Selbstverständigung natürlich nicht übernehmen. Aber sie können Hinweise, Vokabularien, Motive hierfür anbieten.
HK: Wie lauten solche Motive beispielsweise?
Bude: Für die jetzt geforderte Auseinandersetzung ist die Mischung aus zwei ganz einfachen Bildern relevant. Nämlich, dass der Einzelne unmittelbar vor Gott steht und seine Freiheit gewinnt, und gleichzeitig, dass es den „Weinberg des Herrn“ gibt, der für jeden Einzelnen einen Ort hat. Eine wahrhaft interkonfessionelle Konzeption aus einem katholischen und einem protestantischen Motiv. Die Befähigung der Freiheit jedes Einzelnen und gleichzeitig die Idee, dass im Weinberg des Herrn unterschiedliche Positionen existieren, die aber zum Ganzen gehören und vor Gott ihre eigene Rechtfertigung haben. Wenn man diese beiden Vokabularien nur in einer allgemein verständlichen Form als zwei Seiten, zwei Bilder eines Gerechtigkeitsdiskurses einbrächte, wäre für eine öffentliche Verständigung über unsere gegenwärtige Situation viel gewonnen.
HK: Würde man auf die Kirchen hören?
Bude: Die Kirchen hätten eine starke Stimme. Weil sie eine Verbindlichkeit des Diskurses, eine Verbindlichkeit der Kategorien, eine Verbindlichkeit von Erfahrungen hervorbringen könnten.