Die Finanzkrise trifft vor allem die Schwellen- und EntwicklungsländerFinanzwirtschaft – kein Selbstzweck

Die globale Finanzkrise geht nicht auf eine unglückliche Verkettung einzelner politischer oder bankbetrieblicher Fehlentscheidungen zurück, sondern auf grundlegende Charakteristika der heutigen Finanzwirtschaft. Besonders betroffen ist die Gruppe der Entwicklungs- und Transformationsländer. Können die Beschlüsse des jüngsten G20-Gipfels in London Abhilfe schaffen?

Aufgrund dauerhaft hoher Verluste benötigte im Sommer 2008 die Investmentbank Lehman Brothers zusätzliches Eigenkapital. Weil keine privatwirtschaftlichen Investoren neues Geld in die taumelnde Bank einbringen wollten, stand der US-Finanzminister vor der Frage, ob er mit Steuergeldern die Bank retten solle. Henry Paulson, der vor Annahme des Ministerpostens als Vorstandsvorsitzender von Goldman Sachs, einem der größten Lehman-Konkurrenten, gearbeitet hatte, beschloss, nicht einzugreifen, so dass Lehman Brothers am 15. September Insolvenz anmeldete.

Mit diesem Konkurs weitete sich die nach den so genannten „Subprime-Krediten“ (Kredite mit nicht optimaler Bonität) bezeichnete „Subprime-Krise“ zu einer globalen Finanzkrise, welche die Weltwirtschaft insgesamt in eine Rezession zwingt (vgl. HK, September 2008, 460ff.).

In der Finanzwirtschaft sind seitdem die Kurse zahlreicher Finanztitel und die Preise von Immobilien noch weiter abgerutscht. Island, Ungarn, Ukraine, Weißrussland, Südkorea – immer mehr Länder gerieten in massive Zahlungsschwierigkeiten. Den international aktiven Finanzinstituten schnüren die realen und die drohenden Ausfälle den Atem ab. Immer mehr von ihnen können nur überleben, weil die Regierungen ihnen problematische Vermögenswerte abkaufen, für sie Bürgschaften übernehmen, frisches Kapital in sie einbringen oder sie vollständig in Staatsbesitz überführen.

Das Platzen einer Preisblase

Bis zum September 2008 konnte man noch von einer begrenzten, wenn auch recht heftigen Krise einzelner Vermögensmärkte ausgehen. Seitdem hat die Krise jedoch Dimensionen erreicht, die nach neuen Deutungsmustern verlangen: Offenbar gab es in der internationalen Finanzwirtschaft in den letzten Jahrzehnten massive Fehlentwicklungen, die durch tiefgreifende Veränderungen der finanzwirtschaftlichen Strukturen korrigiert werden müssen. Auf den internationalen Vermögensmärkten ist eine große Preisblase entstanden und immer weiter gewachsen. Schließlich zeigen die massiven Wertverluste bei Finanztiteln und bei den Immobilien vieler Länder, dass die Weltfinanzkrise vor allem als ein Platzen dieser Preisblase zu verstehen ist.

Die Entstehung der großen globalen Preisblase hat mit einer grundlegenden Funktion der Finanzwirtschaft zu tun: mit der elastischen Versorgung der Wirtschaftsakteure mit Geld. Dabei kommt das Geld vor allem dadurch in die Wirtschaft, dass die Geschäftsbanken Kredite vergeben. Bei einer Kreditvergabe räumt die Bank dem Kunden auf einem Girokonto ein Guthaben ein, über das er verfügen kann. Da Giroeinlagen heute das wichtigste Zahlungsmittel und mithin selbst Geld sind, ist mit der Kreditvergabe der Banken Geldschöpfung verbunden. Neues Geld entsteht darüber hinaus dann, wenn die Kreditinstitute von anderen wirtschaftlichen Akteuren Vermögensgüter (zum Beispiel Aktien oder Immobilien) kaufen. In diesem Fall ist es der Verkäufer des Vermögensgutes, der auf seinem Girokonto eine Guthabenbuchung erhält.

Ohne die Geldschöpfung der Geschäftsbanken käme in einer hoch-arbeitsteiligen Wirtschaft das wirtschaftliche Geschehen gar nicht erst in Gang. Zugleich kann die hochdynamische Kredit- und Geldmaschine der Geschäftsbanken aber auch wirtschaftliche Fehlentwicklungen verursachen. Den Geschäftsbanken ist es nämlich möglich, die anderen wirtschaftlichen Akteure mit mehr Geld ausstatten, als diese benötigen, um die bereitgestellten (beziehungsweise aktuell überhaupt bereitstellbaren) Güter zu kaufen. Wird dieses überschüssige Geld für den Kauf neuer Waren und Dienstleistungen verwendet, dann kommt es zur Inflation: das Niveau der Preise für die Güter der laufenden „Produktion“ steigt. Werden mit ihm jedoch bestehende Vermögenswerte wie Aktien oder Immobilien gekauft, dann kommt es auf diesen Märkten zu einer Preisblase.

Expansive Kreditvergabe und die Entstehung von Preisblasen auf einzelnen Vermögensmärkten mit anschließendem „Crash“ – ein solches Szenario finanzwirtschaftlicher Übertreibungen und Krisen hat es zumeist in kleinerem Maßstab vor 1929 und nach 1979 immer wieder einmal gegeben. Dass es etwa fünf Jahrzehnte lang in den Industrieländern zu keiner größeren Finanzkrise kam, ist in einer Ordnung der Finanzwirtschaft begründet, welche die US-Regierung und andere Regierungen der Industrieländer vor allem nach der 1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise eingeführt hatten.

Ein globales System des Investmentbanking

Diese Ordnung schützte die Finanzinstitute vor dem Zusammenbruch und hielt sie zugleich unter Kontrolle: Erstens gelang es in den Industrieländern, Bankenzusammenbrüche zu verhindern. Die Einlagen der Kunden wurden garantiert und die Zentralbanken sicherten allen solide wirtschaftenden Geschäftsbanken zu, ihnen im Krisenfall unbeschränkt jenes Bargeld zur Verfügung zu stellen, in das ihre Kunden gegebenenfalls Bankeinlagen zu tauschen wünschen („Lender of Last Resort“).

Die so abgesicherten Geschäftsbanken wurden zweitens einer strengen Regulierung unterworfen. Vor allem mit Vorschriften, welche die Ausdehnung der Bilanzsumme an die Höhe des Eigenkapitals binden, wurden sie an einer zu schnellen Expansion ihrer Geschäfte und damit an der Übernahme zu vieler Risiken gehindert.

Drittens wurde in jenen Ländern, in denen es überhaupt entwickelte Wertpapiermärkte gab, insbesondere in den USA und in Großbritannien, die Finanzwirtschaft in zwei strikt voneinander getrennte Segmente aufgeteilt: in das Segment der Geschäftsbanken („commercial banking“), die ausschließlich Kredite vergeben und Einlagen entgegen nehmen, und in das Segment der Wertpapiermärkte, in dem nur einschlägig spezialisierte Finanzinstitute („Investmentbanken“) tätig werden durften („Trennbankensystem“). Diese Trennung verhinderte, dass die Geschäftsbanken selbst in großem Stil Wertpapiere kauften oder in großem Umfang Kredite an die Käufer von Wertpapieren vergaben. So konnten auf einzelnen Vermögensmärkten zwar immer wieder einmal Preisblasen entstehen. Deren Wachstum konnte aber nicht zusätzlich durch Gelder angeheizt werden, welche die Geschäftsbanken eigens für Wertpapiergeschäfte geschaffen hatten.

Seit Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts kehrten Finanzkrisen allmählich in die Volkswirtschaften der Industrieländer zurück. Diese neue Instabilität wie auch die aktuelle große Finanzkrise hängen eng zusammen mit einer neuen Gesamtkonstellation der Finanzwirtschaft, die sich in dieser Zeit allmählich durchsetzte und sich grundlegend von der nach 1929 begründeten Ordnung unterscheidet. Ausgangspunkt für diese Veränderungen war der Wandel des Wertpapierbesitzes in den Finanzsystemen der USA und Großbritanniens, die traditionell volkswirtschaftlich bedeutsame Wertpapiermärkte aufweisen. In diesen Ländern waren die privaten Haushalte früher selbst direkt die Käufer und Besitzer der Wertpapiere gewesen. Jetzt kauften und kaufen sie mit ihren Ersparnissen vor allem Anteile an Investment- und Pensionsfonds und überlassen es den Mitarbeitern der Fondsgesellschaften, ein Portfolio an Vermögenswerten professionell zusammenzustellen.

In Zusammenhang mit den Aktivitäten dieser Portfolio-Spezialisten entstand jene neue Form der investmentdominierten Finanzwirtschaft, die wir heute kennen: mit einer hohen Umschlaghäufigkeit der Wertpapiere, gesamtwirtschaftlich bedeutsamen Finanz- und Immobilienmärkten sowie einem hohen Tempo der Erfindung neuer Finanzprodukte (vgl. HK, September 2008, 461ff.).

Seit den achtziger Jahren beschlossen die US-amerikanischen und die britischen Politiker mehrere Gesetze, welche die strikte Aufteilung der Finanzwirtschaft in zwei Segmente Schritt für Schritt aufweichten. Teils in den achtziger, teils in den neunziger Jahren kam es in Japan, Kontinentaleuropa und manchen Schwellenländern zu einem starken Bedeutungszuwachs der Wertpapiermärkte. Nach anglo-amerikanischem Vorbild entwickelte sich schnell ein bedeutsames Investmentbanking. Dieses war hier von Anfang eng mit den Geschäftsbanken verbunden; denn die meisten dieser Länder hatten das Spektrum der Geschäftsfelder, in dem ihre Banken tätig sein durften, schon immer kaum eingeschränkt („Universalbanken“).

In allen Industrieländern, auch in den USA und in Großbritannien, gründeten die großen Geschäftsbanken Tochtergesellschaften, in denen sie einen erheblichen Teil ihrer Wertpapiergeschäfte abwickelten. Einige dieser Töchter dienten vor allem dazu, Eigenkapitalvorschriften zu umgehen. So konnten die Banken ihre Geschäftstätigkeit schneller ausweiten und mehr Risiken eingehen, als es der Entwicklung ihres Eigenkapitals eigentlich entsprochen hätte.

Das Ergebnis dieser Veränderungen in beinahe allen wirtschaftlich entwickelteren Ländern kann man als ein globales System des Investmentbanking charakterisieren, das durch die Kreditvergabe der Geschäftsbanken kontinuierlich aufgebläht wurde. In diesem System ist das Segment des Investmentbanking dominant, aber zugleich mit dem Segment der Geschäftsbanken eng verbunden. Indem letztere seit den achtziger Jahren viele Kredite für Wertpapier- und Immobiliengeschäfte vergaben, haben sie das Investmentbanking kontinuierlich mit sehr viel Geld („Liquidität“) versorgt. Dadurch ermöglichte die dynamische Kreditmaschine der Geschäftsbanken nicht nur realwirtschaftliches Wachstum, sondern trieb zugleich auch die Expansion der Investmentgeschäfte voran. Regulierungen, die diese Expansion eigentlich hätten bremsen sollen, wurden umgangen.

Dieses System des verschuldungsintensiven, durch neu geschaffene Gelder aufgeblähten Investmentbanking bietet eine plausible Erklärung dafür, dass in den letzten 25 Jahren weltweit auf den Vermögensmärkten eine große Preisblase entstanden ist: Über Kredite an die Käufer von Vermögenswerten und dadurch, dass sich die Geschäftsbanken selbst an den Wertpapier- und Immobiliengeschäften beteiligten, sind immer mehr Geldmittel auf diese Märkte geflossen und haben dort für einen langfristigen Anstieg der Vermögenspreise gesorgt.

Schaut man auf die Entwicklung der Aktienkurse und Immobilienpreise in den großen Industrieländern, dann zeigt sich, dass dieser Anstieg zwar von kurzen Phasen vorübergehender Marktwertverluste unterbrochen wurde, aber insgesamt bis Mitte 2007 zu sehr hohen Vermögenswerten führte. So ist beispielsweise in den USA das Verhältnis der Aktienkurse zu den jährlichen Gewinnen (je nach gewählter Maßzahl) zwischen 1980 und 2000 um 300 Prozent bis 400 Prozent gestiegen. Das Verhältnis der Preise für US-Wohnimmobilien zu den damit erzielten Mieteinnahmen hat zwischen 1996 und 2006 um 40 Prozent zugelegt. Zudem ist in den letzten 25 Jahren die Kreditvergabe in den Industrieländern erheblich schneller gewachsen ist als das jeweilige Bruttoinlandsprodukt.

Fragt man nach den kreditfinanzierten Finanztransaktionen, die in den letzten 25 Jahren den Anstieg der Vermögenspreise immer weiter vorangetrieben haben, dann ist neben spekulativen Markttransaktionen vor allem das ständige Neuarrangieren von Vermögenspositionen zu nennen, das für das Investmentbanking typisch ist: Die Portefeuilles der Fonds und vieler vermögender Haushalte werden durch Umschichtungen ständig „optimiert“. Und die Konzerne stoßen – von Investmentbankern begleitet – immer wieder Unternehmensteile ab, kaufen neue hinzu oder fusionieren untereinander.

Bei diesen Umschichtungen der Vermögenspositionen wurde fast immer auch deren Finanzierung „optimiert“: Um höhere Eigenkapitalrenditen zu erreichen, stieg kontinuierlich der Anteil, den die Käufer der Vermögenswerte nicht aus Eigenmitteln, sondern durch Aufnahme neuer Schulden finanzierten („leverage“). Das für diese Geschäfte neu geschaffene Geld ermöglichte dann einerseits den Anstieg der Vermögenspreise, andererseits aber extrem hohe Gewinne und Spitzeneinkommen im Finanzsektor. In dem besonders eindrücklichen Beispiel der USA sind zwischen 1980 und 2005 die Gewinne in der Finanzwirtschaft mehr als doppelt so schnell gestiegen wie das nominale Bruttoinlandsprodukt des Landes und die Gewinne der Unternehmen außerhalb des Finanzsektors.

Starke Krisenbelastung vieler Entwicklungs- und Transformationsländer

Die spektakuläre Dynamik der Probleme in den Industrieländern führt gegenwärtig dazu, dass die starke Krisenbelastung vieler Entwicklungs- und Transformationsländer in der öffentlichen Debatte häufig übersehen wird. Dabei trifft die Krise die meisten peripheren Länder nur von außen, indirekt und unverschuldet.

Anders als die Großbanken der meisten Industrieländer waren die Finanzinstitute dieser Länder kaum am Geschäft mit den – zu Wertpapieren gewandelten – US-amerikanischen subprime-Krediten beteiligt. Erst in einer zweiten Phase der Krisenausbreitung wurden sie über drei Ansteckungskanäle in die globale Abwärtsbewegung hineingerissen.

Erstens sind diejenigen Schwellen- und Transformationsländer, die überwiegend als Empfänger in die internationalen Finanzströme integriert sind, von einem plötzlichen und massiven Kapitalabfluss betroffen. Vor allem Staaten, die in der osteuropäischen Peripherie der Europäischen Währungsunion angesiedelt sind, hatten bei der Unternehmensfinanzierung stark auf Kredite von Großbanken aus Westeuropa gesetzt, die in Euro ausgezahlt wurden und in Euro zu bedienen sind. Im Zuge der Krise haben die Bankenzentralen einen erheblichen Teil dieser Gelder nun abgezogen, um sie vor allem in Schuldtiteln solcher Industrieländer-Regierungen anzulegen, die sie für dauerhaft kreditwürdig halten.

In einigen osteuropäischen Ländern kommt es deshalb zu einer Kreditklemme. Gleichzeitig entsteht auf die Währungen dieser Länder ein Abwertungsdruck. Wenn tatsächlich abgewertet wird, sind die in Euro verschuldeten Unternehmen, Privathaushalte und Gebietskörperschaften des Landes plötzlich mit einem sehr viel höheren Schuldendienst konfrontiert, so dass sie scharenweise in Zahlungsschwierigkeiten geraten und Konkurs anmelden müssen.

Zweitens sind auch die Länder besonders stark betroffen, die wie einige ostasiatische Staaten bewusst eine exportorientierte Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung gewählt haben. Dadurch haben sie sich von der Konjunktur der Weltwirtschaft extrem abhängig gemacht und leiden nun – ähnlich der Bundesrepublik – massiv unter dem Rückgang des Welthandels.

Schließlich schlägt sich die Verunsicherung durch die Finanzkrise auch in einer rückläufigen Investitionsbereitschaft der Unternehmen im Ausland nieder. Für die Gesamtgruppe der Entwicklungsländer (einschließlich der Schwellenländer) wird für das Jahr 2009 gegenüber dem Boomjahr 2007 ein Einbruch der ausländischen Direktinvestitionen um mehr als 80 Prozent erwartet.

Neuorientierung am globalen Gemeinwohl

Die Ausbreitung der Krise in die peripheren Länder wird dort vor allem die in Armut und Elend lebende Bevölkerungsmehrheit treffen. Vom Internationalen Währungsfonds (IWF) gedrängt oder um den Kapitalmärkten dauerhafte Kreditwürdigkeit zu signalisieren, werden nicht wenige Länderregierungen zu Ausgabenkürzungen greifen, die häufig den Bildungs- und den Gesundheitsbereich betreffen. Die Armutsquoten werden ansteigen, weil die Arbeitslosigkeit zunimmt und viele Arme ohne sozialstaatliche Absicherung in die informelle Wirtschaft abgedrängt werden; die dort erzielbaren Einkommen werden noch weiter sinken. Die Negativeffekte von Wirtschaftskrisen, beispielsweise Schulabbruch oder Unterernährung, reichen oft bis weit in die Phase der wirtschaftlichen Erholung hinein und hinterlassen dauerhafte soziale Probleme.

Aus ethischer Perspektive verdeutlichen diese Entwicklungen die dringliche Herausforderung, vor der gegenwärtig die Regierungen der Industrieländer sowie jener Schwellen- und Transformationsländer stehen, die in die internationalen Kapitalströme integriert sind: Gemeinsam mit den von ihnen geführten multilateralen Organisationen müssen sie die globale Finanzwirtschaft wieder in den Dienst an der Realwirtschaft stellen. Dies ergibt sich daraus, dass auch alles wirtschaftliche Handeln der Menschen letztlich dem Gemeinwohl dienen muss. Das Gemeinwohl kann man dabei so verstehen, dass allen Menschen so viel reale Freiheit wie möglich eröffnet wird. Auch wirtschaftliches Handeln muss also letztlich dem Ziel dienen, das Überleben aller zu sichern und die Beteiligungs- und Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen zu erhöhen.

In Bezug auf das globale Gemeinwohl ist aus normativer Sicht die Aufgabe vorrangig, in den Ländern des Südens das Überleben der in Elend lebenden Bevölkerungsgruppen zu sichern. Unternehmen tragen erst einmal dadurch zum Gemeinwohl bei, dass sie Waren produzieren oder Dienstleistungen erbringen, die das Überleben von Menschen sichern helfen oder von denen sich Kunden Vorteile beziehungsweise eine Steigerung ihres Wohlbefindens versprechen. Die Wirtschaftsordnung ist deshalb so zu gestalten, dass Unternehmen ausschließlich durch solche Bereitstellung von Gütern und nicht durch Aktivitäten, die keinem Kunden oder Konsumenten nutzen, Geld verdienen können. Für die Finanzinstitute als Unternehmen der Finanzwirtschaft bedeutet dies, dass sie nur solche Finanzdienstleistungen erbringen sollen, die den Bürgerinnen und Bürgern selbst, ihren Gebietskörperschaften, Unternehmen oder sozialen Organisationen wirklich dienlich sind.

Aus dieser ethischen Perspektive ergibt sich erstens, dass die Regierungen und die internationalen Organisationen versuchen müssen, den seit etwa 1980 greifbaren Trend zu immer häufigeren und dramatischeren finanzwirtschaftlichen Störungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung umzukehren. Entsprechend dem internationalen Zuschnitt, den das System des verschuldungsintensiven Investmentbanking hat, muss dabei auch das Gemeinwohl global begriffen werden. Es geht also darum, dass durch die internationale Finanzwirtschaft die Aussichten verbessert – und eben nicht verschlechtert – werden, durch wirtschaftliches Handeln das Überleben aller Menschen zu sichern sowie ihre Entfaltungs- und Beteiligungschancen zu erhöhen.

Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre zeigen aber, dass die mit dem System des kreditaufgeblähten Investmentbanking verbundenen Chancen und Risiken sehr ungerecht verteilt sind. Zusätzliche Chancen bietet dieses System vor allem den Vermögensbesitzern, insbesondere den sehr reichen unter ihnen. Diese sind zwar auch mit dem Risiko konfrontiert, dass in Finanzkrisen ein Teil ihres Vermögens vernichtet wird. Von Finanzkrisen jedoch, die auch die Realwirtschaft in den Abwärtstrend ziehen, sind die Reichen weniger stark und weniger nachhaltig betroffen als jene Bevölkerungsschichten, die primär von ihrer Erwerbsarbeit leben und dabei völlig unzureichend oder gar nicht sozialstaatlich abgesichert sind.

Zweitens geht es um die Zielsetzung, eine neue Ordnung der Finanzwirtschaft zu etablieren, in der die Finanzinstitute nur noch mit solchen Aktivitäten Geld verdienen können, die positiv zum Wohlstandsniveau der beteiligten Gesellschaften beitragen. So ist nicht nur für einen erheblichen Teil der Finanzspekulation, sondern auch für manche Investmentgeschäfte, bei denen Vermögenspositionen immer wieder neu arrangiert werden, fraglich, ob sie überhaupt oder mehr als nur in sehr geringem Maße wertschöpfend sind.

Ein erheblicher Teil der Einkommen, die im Investmentbanking erzielt wurden, dürfte aus der Geldschöpfung durch jene Ausdehnung der Verschuldung stammen, die mit diesen ständigen Vermögensumschichtungen verbunden sind. Insofern sollte es bei der (supra-)staatlichen Rahmensetzung für die Finanzwirtschaft in Zukunft nicht mehr einfach darum gehen, die Finanzwirtschaft wie andere Branchen zu fördern, damit dort mehr Einkommen und mehr Arbeitsplätze entstehen. Vielmehr muss dafür gesorgt werden, dass die Dienstleistungen der Finanzinstitute den anderen Wirtschaftsakteuren wirklich Vorteile bringen, indem sie ihnen bessere Möglichkeiten der Geldanlage, der Finanzierung oder der Absicherung von Risiken erschließen. Insbesondere den Unternehmen außerhalb der Finanzwirtschaft sollten sie es erleichtern, Waren zu produzieren oder Dienstleistungen zu erbringen, die für Menschen überlebenswichtig sind oder von denen sie sich eine Steigerung ihres Wohlbefindens erhoffen, so dass sie diese Güter für einen Preis erwerben, der die entstandenen Kosten übersteigt.

Die zerstörerische Dynamik des Investmentbanking wurde nicht eingedämmt

Nimmt man vor dem Hintergrund der vorgetragenen Analysen und der skizzierten finanzethischen Perspektive die Beschlüsse des zweiten G20-Finanzgipfels Anfang April in London in den Blick, dann wird deren Bewertung vor allem von einer Frage abhängen: Handelt es sich dabei um unverbindliche Absichtserklärungen der Regierungen oder haben diese nun Schritte eingeleitet, die in den nächsten Monaten zur vollständigen Umsetzung der Agenda führen werden?

Geht man wohlmeinend von letzterem aus, dann kommt man in Bezug auf einige Beschlüsse zu einem eher positiven Ergebnis. Trotz einiger Schwachpunkte zeigen sie in die richtige Richtung einer konsequenten flächendeckenden Regulierung aller Institute, Produkte und Märkte der Finanzwirtschaft. Hierhin gehört der Beschluss, die Eigenkapitalnormen für Geschäftsbanken umzubauen. In Zukunft sollen sie gerade in konjunkturell guten Zeiten zum Aufbau von Eigenkapital zwingen und damit endlich die in diesen Phasen schnelle Ausdehnung der Geschäftstätigkeit bremsen und insofern die Übernahme von Risiken wirksam begrenzen.

Darüber hinaus sollen jene Investmentfonds, die in großem Maßstab Schulden aufnehmen, um über die eingesammelten Ersparnisse hinaus spekulative Marktpositionen aufbauen zu können (so genannte Hedge Fonds), ihre sämtlichen Aktivitäten offen legen. Ähnlich den Geschäftsbanken sollen sie so reguliert werden, dass die von ihnen eingegangenen Risiken wirksam begrenzt werden – allerdings leider nur dann, wenn der jeweilige Fonds als relevant für die Stabilität der internationalen Finanzwirtschaft eingeschätzt wird. Schließlich sollen Steueroasen trockengelegt werden. Diese bieten bekanntlich nicht nur Chancen, Steuern zu hinterziehen oder Geld zu waschen, sondern ermöglichen den Finanzinstituten auch, einen erheblichen Teil ihrer Geschäftstätigkeit vor den Aufsichtsbehörden ihres Landes zu verbergen.

So sinnvoll diese Beschlüsse für eine Begrenzung der Risiken in der Finanzwirtschaft sind, die hier herausgestellten Hauptprobleme gehen sie gar nicht oder allenfalls indirekt und halbherzig an: Zunächst sind die Reformansätze, auf die sich die G20 in London geeinigt haben, in Bezug auf das globale Gemeinwohl und die darin vorrangigen wirtschaftlichen Entwicklungsinteressen peripherer Länder völlig unzureichend.

Als besonderer Erfolg ihres Londoner Gipfels feierten die Staats- und Regierungschefs die Aufstockung der Mittel, mit denen der IWF Transformations- und Entwicklungsländer finanziell unterstützen kann, um 750 Milliarden US-Dollar. Zwei Drittel dieser Gelder werden aber auch in Zukunft an Auflagen zur Strukturanpassung gebunden sein, deren Umsetzung in den letzten zwölf Jahren die Finanz- und Währungskrise manches Entwicklungslands weiter verschärft hatte. Nur für die Hälfte dieser 500 Milliarden Dollar liegen feste Finanzierungszusagen vor, in den meisten Fällen bereits aus den Monaten vor dem Londoner Gipfel.

Die allgemein gehaltene Erklärung der G20, bei einer baldigen Organisationsreform des IWF wolle man die Position der Entwicklungs- und Transformationsländer stärken, verschafft diesen noch keinen wirklichen Einfluss auf wichtige Entscheidungen – wie beispielsweise auf die Kriterien, die der Fonds seiner Kreditvergabe zu Grunde legt. Auch wenn die Abschlusserklärung des Gipfels die Unterrepräsentation der ärmeren Länder bemängelt, benennt sie als entscheidendes Ziel für die anstehende Umverteilung der Stimmrechte die nachhaltige Finanzierung des IWF.

Daraus kann man schließen, dass die massive Dominanz der Nettozahler in den Entscheidungsprozessen des Fonds unangetastet bleiben soll. Damit rückt aber auch das notwendige Ziel einer neuen, multilateralen Weltwährungsordnung in weite Ferne. Des Weiteren haben die G20 keine Maßnahmen beschlossen, welche die zerstörerische Dynamik des verschuldungsintensiven Investmentbanking eindämmen und so verhindern, dass es auf die Dauer wieder zu einer kreditfinanzierten großen Preisblase auf den internationalen Vermögensmärkten kommt. Während diese Neuordnung für die USA die Rückkehr zum alten Trennbanken-System bedeuten würde, liefe sie in Kontinentaleuropa auf die Einführung einer völlig neuen Form der Finanzwirtschaft hinaus. Schreckt man vor einer derart revolutionären Transformation zurück, dann bleibt freilich die Frage, wie man in Zukunft Preisblasen auf den Vermögensmärkten entgegenwirken möchte.

Eine einfache Hochzinspolitik würde in die jetzige Situation kaum passen, denn die Preisentwicklung auf den Vermögensmärkten hat sich in den letzten Jahren von der der Gütermärkte, für die Inflation kein Thema mehr war, abgekoppelt. Damit würden die Zentralbanken die beteiligten Volkswirtschaften insgesamt in eine lange Schwächephase zwingen, wodurch es zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Einkommensentwicklung und der Beschäftigung käme. Die Finanzpolitiker wären dann völlig mit der Aufgabe überfordert, die Staatsverschuldung, die in der Krise mit Sicherheit sehr stark steigen wird, wieder abzubauen.

Um nicht zwischen Pest, der Entstehung einer neuen großen Preisblase, und Cholera, einer anhaltenden Stagnation bei galoppierender Staatsverschuldung, wählen zu müssen, bedarf es neuer Steuerungsinstrumente. Mit diesen muss es den Zentralbanken oder anderen (supra-)staatlichen Stellen in Zukunft ermöglicht werden, Kreditzuflüsse auf die Vermögensmärkte einzuschränken, ohne zugleich auch das realwirtschaftliche Wachstum abzuwürgen. Bei Entstehen und Wachstum einer Preisblase sollten sie in der Lage sein, selektiv nur diejenigen Kredite zu verteuern, die für die Käufe von Vermögenswerten genutzt werden.

Zu diesem Zweck könnten beispielsweise die Eigenkapitalnormen für Geschäftsbanken so umgebaut werden, dass bei Bedarf nur die Eigenkapitalanforderungen für diejenigen Kredite erhöht werden können, mit denen der Schuldner den Kauf beispielsweise von Aktien oder bereits vorhandenen Immobilien finanziert. Mit der Einführung eines solchen Instruments könnte ein wichtiger Schritt getan werden, um die internationale Finanzwirtschaft zu stabilisieren und sie konsequent für die realwirtschaftliche Entwicklung in Dienst zu nehmen, kurzum: um sie wieder stärker auf das globale Gemeinwohl auszurichten.

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