In der „Süddeutschen Zeitung“ hat Dirk Peitz vor zwei Jahren Herbert Grönemeyer als „eine Art gigantisches Über-Ich der Deutschen in Sinn-Angelegenheiten“ bezeichnet. In der psychoanalytischen Logik Freuds thematisiert das Über-Ich – zumindest zunächst einmal – eine moralische Instanz, die das Ich bedrängt, es überwältigt. Angesichts der Tatsache, dass sich Grönemeyers CDs seit Jahrzehnten glänzend verkaufen, er mühelos Konzerthallen füllt und selbst ältere Lieder nach wie vor immer wieder im Radio gespielt werden, scheint die neutrale Feststellung, dass es sich beim „Phänomen Grönemeyer“ um ein echtes Massenphänomen handelt, angemessener. Grönemeyers Musik fasziniert. Diese Resonanz hat Gründe, und weil diese Gründe etwas darüber aussagen, wie Menschen heute sich selbst und ihr Leben verstehen, lohnt es sich, nach ihnen zu fragen: Grönemeyer als Seismograph für herrschende Trends menschlicher Selbstinterpretation.
Sollte sich Grönemeyers Popularität tatsächlich auf die ihm unterstellte Deutungskompetenz in Sinnfragen zurückführen lassen? Wenn es ihm gelingt, das auszudrücken beziehungsweise auf den Begriff zu bringen, was viele Zeitgenossen empfinden, sollte dies den religiösen Institutionen hierzulande zumindest zu denken geben. Immer noch sind es vor allem die Kirchen, die sich als die Expertinnen für Sinnfragen zuständig geben. Decken sich jedoch die Antworten, die die Kirchen und Grönemeyer auf Sinnfragen aufzubieten haben? Vor allem aber ist offen, ob Sinn vergleichbar verstanden wird – oder präziser: wie das Leben jeweils empfunden wird und warum überhaupt die Sinnfrage aufbricht.
Die auf Grönemeyer projizierte Erwartungshaltung in Sinn-Angelegenheiten zeigt zunächst einmal, dass die Frage nach Sinn präsent ist. Vom Sinn ist schnell die Rede, ebenso jedoch ist die Grenze zur inhaltsleeren Rhetorik rasch überschritten. Wird aber die Frage nach dem Sinn in ihrer existentiellen Form aufgeworfen, dann nie als bloß abstrakte; sie ist dann bedrückend konkret, weil angebunden an, ja eigentlich aufgeworfen durch das tatsächlich gelebte Leben selbst. Die Sinnfrage entspringt einer Verlusterfahrung. Sie setzt damit bereits erste Erfahrungen oder zumindest die Ahnung dessen voraus, was subjektiv sinnhaftes, gelungenes Leben bedeutet. Wer die Sinnfrage stellt, dem schwebt vor, unter welchen Bedingungen er sein Leben als sinnvoll bezeichnete. So bedrückend die Erfahrung des Sinnverlustes ist, so vertraut dürfte sie allen Menschen sein. Allzu häufig tut das Leben einem eben nicht den Gefallen, den ersehnten Verlauf zu nehmen. Darüber kommt dem bewussten Leben seine unbefragte Leichtigkeit abhanden.
Dieser Verlust seiner Selbstverständlichkeit provoziert dazu, die Sinnfrage zu stellen. Wer sie aufwirft, entwickelt zwangsläufig Kriterien, die ihre Beantwortung leiten. Je radikaler die Brucherfahrungen sind, sie als diese Erfahrungen zugelassen werden und es so verunmöglichen, wieder zum alltäglichen Leben überzugehen, desto radikaler wird die Frage der Kriterien gestellt werden. Dabei zeigt sich: Es gibt niemand eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Daseins, der nicht auch eine Antwort auf die Frage gibt, was der Mensch und was das Leben sei. Grönemeyers Lieder singen vom Leben. Aber wie beschreiben sie es?
Eine bisher unveröffentlichte Befragung von knapp 800 Besuchern von Konzerten Grönemeyers in Freiburg und Berlin zeigt, dass sich die beschriebenen Erfahrungen des Lebens, wie sie sich in seinen Texten abbilden, mit den Erfahrungen sehr vieler Menschen decken. Nicht nur legen die Ergebnisse nahe, dass es vor allem die Texte sind, durch die Grönemeyers Musik Bedeutung gewinnt. Explizit gaben 48 Prozent der Befragten an, sie stimmten der Aussage zu, Grönemeyer beschreibe das Leben so, wie es tatsächlich sei. Weitere 49 Prozent betrachten diese Aussage als eher zutreffend. Befragt, wie denn die – geteilte – Lebensbeschreibung Grönemeyers aussehe, weisen die Befragten vor allem darauf hin, dass das Leben als ambivalent, als ständiges Auf-und-Ab, als Achterbahn etc. erscheine. Das Leben wird als Aufgabe begriffen, als Tanz über dem Abgrund.
Grönemeyer wird Religiosität unterstellt
Dass Herbert Grönemeyer in der Frage, wie das Leben zu bewältigen sei, eine Vorbildfunktion zugesprochen wird, kann nicht überraschen. Ob beabsichtigt oder nicht, Grönemeyers eigene Biographie bildet die entscheidende Hintergrundfolie für diese Wahrnehmung: Dem Künstler Grönemeyer wird unterstellt, dass er nicht nur treffend vom Leben, sondern dass er auch als Mensch Grönemeyer von seinem eigenen Leben singt. Allem voran der Tod seiner Frau Anna im Jahr 1998 prägt die öffentliche Lesart der Lieder „Mensch“ und „Der Weg“; sie werden nicht nur am häufigsten als Lieblingslieder genannt, sondern stehen auch in der Liste der Lieder, in denen „am meisten Wahrheit (steckt)“, ganz oben. Diese Lieder machen nachdenklich, traurig. Das Lied „Der Weg“ wurde und wird wohl auch nicht ganz zu Unrecht immer wieder in eine biographische Nähe zur Erfahrung dieses Todes gebracht. Denn einige Zeilen weisen deutliche Bezüge zur damals in der „Süddeutschen Zeitung“ geschalteten Todesanzeige auf, Motive kehren wieder.
Allerdings nuanciert der Text des Liedes „Der Weg“ dann doch entscheidend anders, und zwar „religiös“ anders. Ob diese andere Nuancierung Auskunft gibt über Grönemeyers eigenes religiöses Erleben, sei dahingestellt; diesbezüglich Rückschlüsse zu ziehen, ist nicht statthaft. Allerdings sind die Differenzen deshalb interessant, weil „Der Weg“ einerseits klare sprachliche Anspielungen auf religiöse und explizit auch auf jüdisch-christliche Traditionsbestände aufweist („Wär’n füreinander gestorben/Haben den Regen gebogen/Uns Vertrauen gelieh’n“, „Die Unendlichkeit bestaunt“), sich andererseits aber jeglicher religiöser Affirmation enthält.
Mehr noch: Im Unterschied zu der Todesanzeige für seine Frau Anna ist die Grenze des Horizonts, den das Lied „Der Weg“ in den Blick nimmt, der Tod. Hier geht es um das Leben, das die Signatur der Endlichkeit trägt, an dessen Ende „der Vorhang fällt“ – von nichts über diese Grenze hinaus ist dort die Rede. Umso überraschender muss sein (oder ist es eben gerade nicht), dass Grönemeyer der Mehrheit der Befragten als ein religiöser Mensch gilt.
In Anbetracht der religiösen Zurückhaltung des Liedtextes, seiner Verweigerung einer affirmativen Gottesthematisierung, ist dann allerdings zu fragen, ob nicht die Grönemeyer unterstellte Religiosität eigentlich die wahrgenommene Haltung beschreibt, das Leben trotz seiner Abgründe, die nicht verharmlost werden, zu bejahen: es ernsthaft und voller Hoffnung auf Sinn zu leben, um das Glück zu kämpfen, zu gestalten, wo es die Möglichkeit dazu gibt, und das Leben dafür zu lieben. Eine vom Menschen und der Welt unterschiedene Größe Gott, ein Gott, der bezogen sein will auf die Menschen und handeln kann, der die Bitte hört, der als diese Größe erfahren wird, scheint hier immer weniger in den Blick zu kommen.
An der Todesanzeige fällt auf, dass sie kein biologisches Geburtsdatum nennt, sondern der Todestag als Geburtsdatum ausgegeben ist: * 5. November 1998. Kein Kreuz ist abgebildet, gleichwohl ist auch die Rede von Gott. Wie im Lied „Der Weg“ wird zunächst Annas Würde erinnert, ihr kompromissloser Liebeswille, der Wille, dem Leben aus Liebe zu ihm Gestalt zu geben: „Deine grandiose Inszenierung war eine Ode ans Leben“. Das Leben wird geliebt, trotz seiner unbarmherzigen Schläge. Und die Würde des Menschen zeigt sich da, wo dieses Leben nicht nur hingenommen, sondern in seinem Kommen und Gehen gestaltet wird.
Wie auch im Lied beteuern die Zurückgebliebenen ihre Treue: „Wir drei werden Dich in uns vertreten/Bist in jedem Lachen, jeder Faser, jedem Licht.“ Wenn schon keine andere Hilfe, keine andere Verbindung möglich ist, nur noch die liebende Erinnerung bleibt, dann soll wenigstens diese sein. Interessant ist aber, dass die Todesanzeige die Verstorbene als Lebende anspricht: „Leb uns mit unbändigem Vertrauen bis zum Wiedersehn ...“. „Erzähl uns ab und zu von Deiner Reise/Wie man so fühlt, was man so tanzt, was man so trägt“.
Der Himmel wird so als Fortsetzung des irdischen Lebens vorgestellt, als verlängerter Tanz. Jüdisch-christlicher könnte es kaum gehen: Keine Seelenwanderung, sondern „fleischliche“, die Identität des Menschen eschatologisch bewahrende Fortexistenz. Als Garant dieses Weiterlebens wird Gott ins Spiel gebracht, um der Geliebten willen, deren Tod nicht das letzte Wort haben darf: Er ist derjenige, der der Toten „seine Loge anbieten“ wird; er, der zuvor geradezu „eifersüchtig den letzten Vorhang abgewartet“, ungeduldig ihr „Wunderwerk verfolgt“, ihre Inszenierung und damit Liebeserklärung an das Leben bestaunt hat.
Der Schöpfer bewundert sein Geschöpf. Er erwartet in dieser Todesanzeige sehnsüchtig, dass der Vorhang für die irdische Ode an das Leben fallen und das neue, himmlische Stück beginnen möge. Kann man – aus theologischer Perspektive gefragt – in der Situation des Schmerzes über den Verlust eines geliebten Menschen größer über Gott denken? Größer als in der Gestalt eines beinahe schon eifersüchtig menschenliebenden Gottes? Eines Gottes, der sich an dem Menschen erfreut, der das Leben als die Gabe schlechthin, die Gabe des Seindürfens und der Gestaltungsmöglichkeit des Lebens bejaht?
Ob Grönemeyer seine reale Hoffnung formuliert, dass ein solcher Gott existiert, oder ob hier ein skeptischer Wunsch Ausdruck findet und Gott die Metapher dafür ist, dem Tod nicht das letzte Wort überlassen zu wollen, muss nicht entschieden werden. Vielleicht steht hier für Grönemeyer die Frage nach der Existenz Gottes eigentlich gar nicht an, weil jeder Gedanke der Toten gilt und es ihm zunächst einmal ausschließlich darum geht, in der Trauer und gegen sie ein Verhältnis zum Tod zu erkämpfen, das nicht unerträglich ist und die Möglichkeit eröffnet, der Geliebten inständig den liebe- und würdevollen Umgang zu wünschen, den er ihr selbst gern zukommen ließe.
Das Lied „Der Weg“ ist theologisch noch deutlich zurückhaltender. Offensiv interpretiert: Gott kommt nur als der vor, der enttäuscht hat. Im Auf und Ab des Lebens greift Gott nicht ein, die Treue eines Gottes zu seinen Geschöpfen wird nicht vernommen. Bestaunt wird das Leben, und vor allem der Mensch – in diesem Fall die Tote, die trotz des sicheren Wissens um den bald verschlingenden Abgrund kreativ und vor allem menschlich leben will; bestaunenswert ist der Mensch, der liebt, der immer wieder verzweifelt, der aber dennoch das Leben liebt und in seiner ganzen Lebenslust und seiner gleichzeitigen Melancholie seine Würde wahrt.
Die Unendlichkeit wird immer noch bestaunt, aber nicht mehr Gott wird hier gleichgesetzt mit der Unendlichkeit. Zwar wird der biblische Bundesgott noch erinnert, jedoch als einer der enttäuscht hat: Gott hat das Versprechen seiner Treue gebrochen. Nicht Gott erweist sich als der, der treu ist, im Zeichen seines Bundesschlusses, dem Regenbogen, sondern der Mensch. „Wir haben den Regen gebogen“, was heißen will: das uns Mögliche versucht.
Selbstverständlich wird man nicht erwarten können, dass diese Anspielung auf den biblischen Bundesschluss im Zeichen des Regenbogens notwendig verstanden wird. Allerdings lässt die Freiburger Erhebung vermuten, dass ein Gott, an den existentiell bedeutsame Erwartungen formuliert werden können, bei den Befragten in weite Ferne gerückt ist. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass ein solcher Gott prinzipiell nicht mehr thematisiert wird oder aber auch in einer mehr oder weniger unthematisch bleibenden Weise erhofft wird. Allerdings zeigen die Umfragewerte deutlich, dass als religiöse Dimension eines Lebens, das in seiner ganzen Abgründigkeit als Aufgabe übernommen und gestaltet werden soll, andere Marker entscheidend sind. Diese Aufgabe überhaupt zu übernehmen, das Leben als liebenswertes Auf und Ab gestalten zu wollen, es grundsätzlich zu bejahen und dann vor allem dieses moralisch sensibel mit anderen Menschen zu teilen, ist bereits Religiosität.
Zumindest in der primären religiösen Definition dessen, was Religiosität ist, zeichnet sich in der Untersuchung ein Trend zu einer Religiosität ohne Gott ab. Religiöse Authentizität wird im Kontext dieses Trends als Einssein mit sich selbst beschrieben, wobei ein ganz wesentliches Merkmal dieser so beschriebenen Authentizität menschliche Verbindlichkeit zu sein scheint. So erklärt sich, warum auf die Frage „Halten Sie Herbert Grönemeyer für einen religiösen Menschen?“ 22 Prozent der Befragten eindeutig mit „ja“ und 38 Prozent mit „eher ja“ antworteten.
Dies muss eigentlich überraschen, da die für die Zuhörer mehrheitlich so wichtigen Liedtexte Anspielungen auf die monotheistische jüdisch-christliche Religiositätstradition nur in negativer Form kennen. Umgekehrt überrascht diese Einschätzung dann wiederum nicht, wenn die religiöse Ein- beziehungsweise Wertschätzung eines anderen Menschen primär unter dem Gesichtspunkt seines authentisch verbindlichen Umgehens mit dem Leben, vor allem mit dem anderen Menschen vorgenommen wird.
Grönemeyer gilt nicht nur deshalb als religiös, weil er in seinen Liedern Ausdrucksformen für das Leben gefunden hat, wie es menschenmöglich zu gestalten ist, sondern weil ihm unterstellt wird, das Menschenmögliche getan zu haben. Für diese Interpretation spricht auch, dass bezogen auf die Einschätzung Grönemeyers die eigene Religiosität tendenziell geringer veranschlagt wird. Maßstab ist das an den Texten abgeglichene gelebte Leben, und da bei Grönemeyer eine starke Übereinstimmung zwischen Liedaussagen und Biographie angenommen wird, kann er zu so etwas wie einer religiösen Identifikationsfigur werden. Religiosität wird bestimmt als Authentizität, und selbstkritisch schätzen sich die Befragten als weniger religiös ein. Zu stark, so lässt sich vermuten, ist der Eindruck des eigenen Fehlverhaltens.
Die Kirchen werden nicht einmal mehr negativ assoziiert
Der Versuch, an empirischen Studien gesellschaftlich-kulturelle Gesamttrends abzulesen, ist immer mit einer gewissen Vorsicht zu betreiben. Allerdings sind einige Ergebnisse der Untersuchung zum Phänomen Grönemeyer nicht nur für sich genommen bemerkenswert, sondern fügen sich in andere Studien ein. Dass die soziologisch beschreibbare Größe der Wiederkehr der Religion nicht identisch ist mit einer Revitalisierung des Christlichen, ist immer wieder angemerkt worden (vgl. etwa Detlef Pollack, „Religion und Moderne. Versuch einer Bestimmung ihres Verhältnisses“, in: Peter Walter [Hg.], Gottesrede in postsäkularer Kultur, Freiburg 2007, 19–52).
Das Antwortverhalten der Befragten zeigt zunächst Folgendes: Die immer wieder einmal traktierte Rede vom grassierenden Werterelativismus zumal in Westeuropa muss zumindest differenziert werden. Menschen wollen verbindlich, achtsam für den anderen Menschen und vor allem in gelingender Partnerschaft leben. In der Werteskala stehen diese Werte ganz oben. Und diese Sehnsucht, so und nicht anders leben zu wollen, wird mit dem somit durchaus positiv besetzten Begriff der Religiosität verbunden.
Relativiert wird eher da, wo es um die geschichtlich tradierten normativen Gehalte von Religion geht. Die auch am Phänomen Grönemeyer nachweisbare Reduktion von Religiosität auf einen authentischen Lebensstil, sich in das Leben einzuschwingen, wie es „nun einmal ist“, deutet eine doppelte Enttäuschung an. Die hierzulande gesellschaftlich immer noch vorherrschenden Kirchen kommen in ihrer (selbst zugeschriebenen) Funktion als Deutungsinstanzen von religiöser Sehnsucht kaum noch in den Blick.
Es muss schon verwundern, dass die Kirchen in den religionsbezogenen Fragen der Untersuchung praktisch keine Rolle spielen, auch kaum einmal negativ assoziiert Erwähnung finden. Sobald es um das reale Leben geht, um die „Liturgie“ des tatsächlich erlebten Lebens, drängen sich nicht einmal Negativassoziationen ins Bewusstsein. Den Menschen ist es zu ernst, als dass sie sich auf Nebenschauplätze bewegen würden.
Wenn man so argumentiert, drängt sich selbstverständlich die Unterscheidung Dietrich Bonhoeffers zwischen Religion und Glaube auf. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass die religiöse Selbstthematisierung dazu instrumentalisiert wird, sich selbst zu rechtfertigen. Die Daten dieser Untersuchung sprechen allerdings nicht dafür. Es geht nicht um irgendeine Authentizität, sondern um eine dem Leben und dem anderen Menschen gegenüber achtsame Authentizität.
Nichts deutet in dieser Umfrage auf eine sich angeblich ausbreitende „Kultur des Todes“ hin. Allerdings wird der Tod gerade in seiner manchmal so unerwartet frühen Erbarmungslosigkeit, in seiner beziehungszerstörenden und deshalb so schmerzverursachenden Gewalt als unerträglich empfunden. Wenn etwas erstaunt, dann dies: Dass der Tanz über dem Abgrund des Todes, das Lebendürfen, dennoch gewollt ist. Und dabei wird nicht ästhetisiert. Nicht wird der Tod zum Schönen verklärt, das Böse blumig affirmiert. Sondern das Leben wird trotz allem dennoch gewollt und geliebt. Dies ist die sich klar abzeichnende Tendenz der Umfrage.
Erstaunlich ist, dass die in der Todesanzeige sehr deutliche Gottesartikulation von den Befragten, die sich ja auf die Liedtexte und nicht auf die Todesanzeige beziehen, nicht einmal vermisst wird. Offensichtlich weckt das bezogen auf die Gottesfrage sehr zurückgenommene, wenn nicht gar im Vergleich zur Todesanzeige anders akzentuierte Lied „Der Weg“ keine „theologischen“ Gegenstimmen.
Vielleicht geht es ein wenig zu weit, die Todesanzeige auf der literarischen Linie von Klagepsalmen zu lesen. Allerdings deutet sich durchaus so etwas wie eine Auferstehungshoffnung an, in der die irdisch gelebten Verhältnisse ihren Raum haben. Und vor allem bleibt Gott mit seinem Namen präsent. Er ist es, der sich an der Würde des Menschen erfreut. Der Schmerz des Todes bleibt, er wird nicht verschwiegen. Aber die Klage malt sich in eine Bilderwelt ein, die eine traditionelle Auferstehungshoffnung mit dem Bild des „getanzten Lebens“ verbindet. Die Verzweiflung verrät die Lebenslust nicht, und sie hält sich vielleicht gerade deshalb im Horizont Gottes, weil die Lust am gelebten Leben zu intensiv nachhallt: Der Tod darf nicht das letzte Wort haben.
Wenn Grönemeyer den Befragten, wie die Studie zeigt, mit dem Lied „Der Weg“ geradezu aus dem Herzen spricht, wenn er in dem dort explizierten Verhältnis zu Leben und Tod Kind seiner Zeit ist, dann ist zu vermuten, dass diese Dimension Gottes, die in ihm verankerte Auferstehungshoffnung, lebenspraktisch kaum noch eine Rolle spielt. Zumindest lassen die Umfrageantworten nichts Gegenteiliges erkennen. Die Treue zu den eigenen Versprechen gilt, aber sie vermag sich – wenn nicht alles täuscht – immer weniger über den Punkt des Todes hinaus zu erstrecken, „ich halt Dich bei mir/bis der Vorhang fällt“ (Der Weg).
Sollte sich diese Interpretation tatsächlich auf die gesammelten Daten beziehen dürfen, so scheint die Untersuchung zum Phänomen Grönemeyer vor allem eines zu zeigen: Mit dem Verlust Gottes, vorsichtiger: mit dem schleichenden Abschied aus einer menschlich ambitionierten Gottessehnsucht verschiebt sich auch die immer in historischen Konstellationen vorgenommene religiöse Selbstbeschreibung des Menschen. Gemessen an der bereits in alttestamentlicher Zeit ausgeprägten Hoffnung auf Rettung, auf ein Leben in Fülle über den Tod hinaus, auf Gerechtigkeit und Versöhnung, scheinen die Daten darauf hinzuweisen, dass der Mensch in seinen religiösen Ansprüchen bescheidener wird.
Die Kirchen könnten dies zum Anlass nehmen, mehr über den Menschen und über den dem Menschen angemessenen Gott zu reden, anstatt sich in Debatten von gestern zu verstricken oder aber sich auf Fragen der Institution zu verengen. Sie könnten zur Kenntnis nehmen, dass sich Menschen offenbar zutiefst verstanden fühlen, wenn von einem Leben die Rede ist, in dem es erfüllende Höhen und erschütternde Abgründe gibt – und dies in einer Haltung, an der die Liebe zu diesem Leben und die existentiellen Hoffnungen auf Glück ebenso deutlich werden wie das Hadern mit seinen Enttäuschungen und Grenzen, kurz: in der die großen Fragen gestellt werden, um des Menschen willen.