Die Sozialenzyklika Benedikts XVI. ermöglicht viele LesartenEntwicklung und Wahrheit

Mit seiner Anfang Juli veröffentlichten Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ hat Benedikt XVI. ein vielstimmiges Echo ausgelöst. In hochtheologischen Passagen über Wahrheit und Liebe, die den eher nüchternen Mittelteil zu den gravierenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Problemen weltweit einrahmen, betont der Papst immer wieder, dass Liebe und Wahrheit zusammengehören.

Selten hat eine Sozialenzyklika ein so geteiltes Echo hervorgerufen. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, bezeichnete sie als „großartiges Werk“, sie sei „ein bedeutender Schritt in der Fortschreibung der Katholischen Soziallehre.“ Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx, selbst Sozialethiker und Vorsitzender der Kommission VI für „gesellschaftliche und soziale Fragen“ der Bischofskonferenz erklärte, wir dürften „dem Papst für dieses moralische Ausrufezeichen und für sein zutiefst ermutigendes Wort dankbar sein“. Ähnlich äußerten sich verschiedene kirchliche Verbände, und politische Parteien pickten ohnehin gezielt das heraus, was ihre eigene Position stärken konnte.

Die Kommentare in der Presse fielen zum Teil weniger positiv aus. Daniel Deckers kritisierte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8. Juli 2009), selten sei eine Enzyklika „hermetischer“ dahergekommen und sah in ihr ein „katholisches Selbstgespräch“. In der Süddeutschen Zeitung (8. Juli 2009) monierte Matthias Drobinski, es fehle der Enzyklika an „visionärer Kraft“, sie sei „unscharf, schwammig, routiniert“, ein „schwacher Aufguss des bereits Gesagten“, insgesamt eine „Enttäuschung“. Der Jesuit und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, langjähriger Leiter des Nell-Breuning-Instituts in Frankfurt/ St. Georgen, kommentierte in einem Interview (Deutschlandfunk am 11. Juli 2009) sogar, die Enzyklika sei „formal gesehen“ „ein ziemliches Schrottpapier“.

Ein in sich heterogener Text

Wie kann es zu so unterschiedlichen Einschätzungen kommen? Haben die Genannten wirklich das gleiche Dokument gelesen? Sicherlich gibt es in der Lektüre solcher Texte unterschiedliche Perspektiven und Interessen. Eine der Ursachen für die Divergenzen liegt aber darin, dass der Text selbst in sich sehr heterogen ist. Wenn man genau liest – und wortstatistische Analysen bestätigen diesen Eindruck –, drängt sich unweigerlich der Gedanke auf, dass Benedikt XVI. ein vermutlich vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden unter Leitung des Kardinals Renato Raffaele Martino erarbeiteter Text mit einer Vielzahl von Aussagen zu aktuellen Weltproblemen und möglichen Lösungsperspektiven vorgelegt worden ist. Aber offenbar war dieser Entwurf dem Papst nicht theologisch und nicht grundsätzlich genug.

So wurde diese Vorlage eingerahmt und gelegentlich unterbrochen durch Hinweise auf Themen, die dem Papst besonders am Herzen liegen: Glaube, Vernunft, Hoffnung, Liebe und Wahrheit.

Die Grundidee für diese Rahmung nimmt Bezug auf Epheserbrief 4,15, wo – laut Einheitsübersetzung – Paulus die Christen auffordert, sich „von der Liebe geleitet an die Wahrheit zu halten“. In der lateinischen Vulgata steht: „Veritatem autem facientes in caritate (...).“ („die Wahrheit aber in Liebe zu tun“). In Nummer 2 der Enzyklika findet sich nur ein Zitat dieses Verses in der Verkürzung „veritas in caritate“, um daraufhin zu erläutern, dass sich dies auch umdrehen ließe, denn „die Liebe muss ihrerseits im Licht der Wahrheit verstanden, bestätigt und praktiziert werden“. So erklärt sich auch der etwas sperrige Titel: „Caritas in veritate“. Da es der Endredaktion nicht gelungen ist, die stilistischen Sprünge zwischen der Vorlage und dem Rahmen zu glätten, wirkt die Enzyklika eigenartig brüchig und an vielen Stellen unfertig, was den Vorwurf von Hengsbach verständlich macht.

Zweifelsohne wurde die Aufnahme der Enzyklika auch dadurch belastet, dass der Text immer wieder angekündigt und dann mehrmals verschoben wurde – zuletzt mit Verweis auf die Finanzmarktkrise, die noch berücksichtigt werden müsse, oder die Probleme einer Übersetzung ins Lateinische, die aber immer noch nicht vorliegt, obwohl diese erst der offizielle Text wäre. Ursprünglich sollte sie im Jahr 2007 zum 40. Jahrestag der Enzyklika Pauls VI. „Populorum Progressio“ veröffentlicht werden. Dass sie schließlich unmittelbar vor dem G8-Gipfel in L’Aquila der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, musste höchste Erwartungen wecken, die dann aber leider enttäuscht wurden. Eine verpasste Chance, denn selten war eine Gelegenheit günstiger, seit vor 18 Jahren (1991) kurz nach dem Fall der Mauer die letzte Sozialenzyklika „Centesimus annus“ von Johannes Paul II. im Gedenken an die Enzyklika Leo XIII. „Rerum Novarum“ (1891) veröffentlicht worden war.

Bei aller Kritik ist jedoch festzuhalten, dass die Enzyklika durchaus einige sehr richtige und wichtige Aussagen macht. Benedikt XVI. klagt den Hunger in der Welt und die Weltarmut an, er sieht die Probleme der Finanzmarktkrise, der Globalisierung und des Ressourcenverbrauchs. Es genügt ihm nicht, dass es unter anderen auch „ethische Geldanlagen“ gibt. Er fordert, dass die gesamte Wirtschaft der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl dienen muss. Dabei spricht er immer wieder von der „Einheit der Menschheitsfamilie“ (die Nummern 7, 33, 50, 54 und im Titel von Kapitel 5), um wie auch schon Paul VI. einzuschärfen, dass Gemeinwohl und Gerechtigkeit heute notwendig eine globale Dimension haben müssen.

Auf keinen Fall dürfe die Globalisierung fatalistisch hingenommen werden. Wir dürften uns nicht als Opfer der Globalisierung begreifen, sondern müssten sie gestalten (42). Dass an dieser Stelle die Worte „indem wir mit Vernunft vorgehen und uns von der Liebe und von der Wahrheit leiten lassen“, eingefügt wurden, gehört zu den etwas unbeholfenen Bemühungen (ähnlich wie in 20, 30, 33, 38, 67), das Leitthema der Enzyklika auch noch in die sehr viel nüchterneren Mittelteile einzutragen. Weiter heißt es, die Entwicklungshilfe müsse ohne Hintergedanken erfolgen, der Agrarprotektionismus der reichen Länder abgebaut, eine neue globale Ordnung für die Finanzmärkte entwickelt werden. Die Bedeutung der Gewerkschaften wird hervorgehoben, eine stärkere internationale Koordination ihnen anempfohlen.

Oberste Priorität habe immer das Wohl aller Menschen. So ist wohl auch der etwas missverständliche Satz gemeint: „Allen, besonders den Regierenden (...) möchte ich in Erinnerung rufen, dass das erste zu schützende und zu nutzende Kapital der Mensch ist, die Person in ihrer Ganzheit.“ (25)

Ein großes Anliegen des Papstes ist es, deutlich zu machen, dass „Mittel“ wie Rechtsordnungen, gesellschaftliche Institutionen und Marktmechanismen alleine nicht ausreichen, um die Entwicklung der Gesellschaft in eine positive Richtung zu lenken. Vielmehr müssten sich Politiker, Manager, Konsumenten und letztlich alle Bürger an moralischen Werten ausrichten und diese auch in ihrem wirtschaftlichen Handeln zur Geltung bringen. Damit wird – durchaus einem Trend der letzten Jahre entsprechend – die Tugend-Ethik wieder gegenüber der so genannten Institutionen-Ethik aufgewertet. Dabei rückt jedoch eine im Prinzip richtige Bemerkung wie die, die Kritik dürfe „sich nicht an das Mittel, sondern an den Menschen richten, an sein moralisches Gewissen und an seine persönliche und soziale Verantwortung“, die Notwendigkeit der Veränderung von Strukturen und Institutionen doch zu sehr in den Hintergrund (36). Der ursprünglich aus der Theologie der Befreiung kommende Gedanke von „Strukturen der Sünde“, von denen Johannes Paul II. unbefangen sprechen konnte, findet sich hier nicht mehr.

Der freie Markt wird nicht verurteilt. Im Gegenteil, er wird noch positiver gewürdigt als in „Centesimus Annus“ und als eine wichtige gesellschaftliche Institution zum Austausch von Gütern und zur Begegnung von Menschen angesehen (35–36). Allerdings müsse die dort herrschende Tauschgerechtigkeit durch Verteilungsgerechtigkeit ergänzt werden, durch bestimmte Mechanismen der Umverteilung und durch Werke, die vom Geist des Schenkens geprägt sind (37) und offenbar im zivilgesellschaftlichen Bereich zwischen Markt und Staat verortet werden.

Damit kommt tatsächlich eine für die bisherige Soziallehre neue Idee ins Spiel, die offenbar auf Theorien einer „Ökonomie der Gabe“ rekurriert, die unter anderem von Jacques Derrida inspiriert zu sein scheint (vgl. HK, Juni 2009, 304ff.). Dabei bleibt jedoch unklar, auf Grund welcher Institutionen und Regelungen die eingeforderte „Logik des Geschenks ohne Gegenleistung“, die Logik der „Unentgeltlichkeit“ in der Wirtschaft funktionieren soll. Deutsche Sozialethiker werden hier mehr ökonomischen Sachverstand und einen klaren Hinweis auf das Konzept Sozialer Marktwirtschaft vermissen. Immerhin lobt die Enzyklika die durch die Finanzkrise entstandene Diskussion über die neue Rolle des Staates.

Wie realistisch ist der Vorschlag einer politischen Weltautorität?

Manchmal geht der Papst sehr ins Detail: Um die Gesundheitsversorgung in den armen Ländern zu verbessern, wendet er sich gegen die „strenge Anwendung des Rechts auf geistiges Eigentum, speziell im medizinischen Bereich“ (22). Wenig überzeugend klingt der Vorschlag, das Steuersystem so zu gestalten, dass die Steuerzahler selbst über die Verwendung von Anteilen ihrer Steuerzahlungen entscheiden (61). Die katholische Kirche in Deutschland jedenfalls erlaubt es ihren Kirchensteuerzahlern nicht, darüber zu bestimmen, in welches kirchliche Arbeitsfeld oder an welche kirchliche Einrichtung ihre Steuern fließen sollen.

Auch anderes wirkt unrealistisch, so beispielsweise die Forderung, es müsse eine „echte politische Weltautorität“ errichtet und mit wirksamer Macht ausgestattet werden, damit die globalen Aufgaben bewältigt werden könnten (67). Zwar braucht es in der Tat eine globale Ordnungspolitik, die unter dem Stichwort „Global Governance“ seit Jahren diskutiert wird. Aber wie könnte es gelingen, diese „Weltautorität“ demokratisch zu kontrollieren? Wie sollten die Großmächte sich dazu bereit finden, sich einer solchen Weltautorität zu unterwerfen?

Auf diese Fragen gibt die Enzyklika keine Antwort. Angesichts der Tatsache, dass „Caritas in veritate“ von 87 Textabschnitten von „Populorum Progressio“ immerhin 40 zitiert, stellt sich die Frage, warum ausgerechnet in diesem Punkt die so genannte Friedens-Enzyklika Johannes XXIII. „Pacem in Terris“, nicht aber „Populorum Progressio“ erwähnt wird. Paul VI. hatte sich zu diesem Punkt zurückhaltender geäußert (PP 78).

Ein enger Zusammenhang zwischen Themen des Lebensschutzes und der Sozialethik allgemein

Viele Themen und ethische Reflexionen, die man angesichts der heutigen Weltsituation erwarten würde, fehlen leider: Beispielsweise die Option für die Armen, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, eine Verurteilung des Rassismus, die Probleme des Rüstungswettlaufs und von Krieg und Frieden. Immerhin wird das Thema „Bewahrung der Schöpfung“ zum ersten Mal in einer Sozialenzyklika ausführlicher angesprochen (48–50), nachdem es schon im Kompendium der Soziallehre der Kirche breiten Raum eingenommen hatte. Ohne Schutz der Umwelt sei keine sinnvolle Entwicklung möglich. Die Gerechtigkeit der Generationen fordere eine Drosselung des Ressourcenverbrauchs und die Suche nach alternativen Energien. Dazu müssten alle Staaten solidarisch zusammenarbeiten. Erstaunlicherweise kommt aber das Stichwort „Klima“ nur an einer einzigen Stelle vor (50). Hierzu waren klarere Forderungen entsprechend der Dringlichkeit des Problems zu erwarten.

Angesichts der Zukunftsprobleme der Menschheit ist es auch unbefriedigend, wie sich die Enzyklika zum Bevölkerungswachstum äußert (44). Zwar ist richtig, dass die Probleme der Entwicklungsländer nicht allein auf ein hohes Bevölkerungswachstum zurückzuführen sind. Trotzdem kann die Bevölkerung der Erde nicht weiter so wachsen wie bisher. Das würde die Ressourcen des Planeten über Gebühr belasten, zumindest, wenn eine positive Entwicklung tatsächlich für alle Menschen realisiert würde. Die Enzyklika verharmlost das Problem, wenn sie betont, die reichen Länder seien ja auch einmal „dank der großen Zahl und der Fähigkeiten ihrer Bewohner“ reich geworden. Ein Großteil des entsprechenden Abschnitts handelt zudem nur von den – sicherlich gravierenden – Problemen des Bevölkerungsrückgangs in den europäischen Industrieländern. In diesem, von tiefem Kulturpessimismus geprägten Abschnitt wird den „kleinen, manchmal sehr kleinen Familien“ unterstellt, „die sozialen Beziehungen zu vernachlässigen und keine wirksamen Solidaritätsformen zu gewährleisten“ (44). Hängt die offensichtliche Verdrängung der Probleme des Bevölkerungswachstums damit zusammen, dass der Papst am strikten Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung festhalten will? Er betont ausdrücklich die weitere Geltung von „Humane Vitae“ und stellt einen engen Zusammenhang her zwischen den Themen des Lebensschutzes und der Sozialethik allgemein.

Jede Sozialenzyklika enthält Passagen zum Selbstverständnis katholischer Soziallehre. Dabei war in den Dokumenten von Johannes XXIII. und Paul VI. das Bemühen zu spüren, das klassische Naturrechtsdenken aufzubrechen und die Sozialverkündigung der Kirche offener und dialogischer zu gestalten, an den „Zeichen der Zeit“ (schon in „Pacem in Terris“!) anzusetzen und sich der Grenzen einer für alle Ortskirchen gleichermaßen verbindlichen Lehre bewusst zu werden (so vor allem Paul VI. 1971 in „Octogesima adveniens“ 4).

In den Konzilstexten selbst wurde der Begriff der Soziallehre bewusst vermieden, dafür weicher und offener von „sozialen Weisungen der Kirche“ gesprochen, worauf Marie Dominique Chenu in seinem heute wieder aktuellen Büchlein „Katholische Soziallehre als Ideologie“ hingewiesen hatte. Die meisten Sozialethiker sehen deshalb im Konzil auch eine Wende in der katholischen Sozialverkündigung. Johannes Paul II. hat den Begriff „Soziallehre“ zwar wieder eingeführt (zuerst bei der lateinamerikanischen Bischofsversammlung 1979 in Puebla), allerdings an einem sehr offenen Konzept festgehalten.

Joseph Ratzinger hatte sich 1964 zunächst sehr ablehnend gegenüber dem Naturrechtsdenken geäußert (vgl. HK, Mai 2008, 236ff.). Er sah darin eine „in abstrakten Formeln“ formulierte „überzeitliche Sozialdogmatik (...), die es so nicht geben kann.“ Noch im Gespräch mit Jürgen Habermas im Jahr 2004 erklärte er, das Instrument des Naturrechts, mit dem die Kirche die Verständigung in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft suche, sei „leider stumpf geworden“. Demgegenüber deutete sich in „Deus Caritas est“ bereits eine Wende an: „Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist“ (28a).

Vor dem Hintergrund der großen Anstrengungen des Papstes, sich mit der traditionalistischen Pius-Priesterbruderschaft auszusöhnen, fällt nun besonders auf, wie stark er sich jetzt bemüht, das Zweite Vatikanische Konzil und die Enzyklika „Populorum Progressio“ vom Eindruck des „Neuen“ zu befreien oder einen „Bruch“ mit der früheren Lehrtradition der Kirche in Abrede zu stellen. So heißt es ausdrücklich in „Caritas in veritate“: „Es gibt nicht zwei Typologien von Soziallehre, eine vorkonziliare und eine nachkonziliare, die sich voneinander unterscheiden, sondern eine einzige kohärente und zugleich stets neue Lehre“ (12).

Damit geht auch eine Wiederaufwertung des Naturrechtsdenkens einher, das auch als eine Voraussetzung des interkulturellen Dialogs betrachtet wird. Die Zustimmung zu ihm sei Voraussetzung konstruktiver sozialer Zusammenarbeit (59). Zugleich wird die Soziallehre jedoch ganz eng an Glaubenswahrheiten herangerückt, an eine Vernunft, die letztlich nur im Glauben weit genug ist (beispielsweise in 12), weshalb auch der Anspruch des christlichen Glaubens (und damit der Kirche) bekräftigt werden kann, anderen Kulturen zu helfen, sich zu reinigen und zu wachsen, so als sei das Christentum nicht Teilnehmer im interkulturellen Dialog sondern der Garant seiner naturrechtlichen Voraussetzungen (59).

Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass in den umweltethischen Passagen (besonders 48) ebenfalls von „Natur“ die Rede ist, ohne dass unterschieden würde zwischen dieser Natur im Sinne dessen, was die Naturwissenschaften erforschen und was als natürliche Voraussetzungen des Lebens bewahrenswert ist, und der Natur im Sinne des Wesens des Menschen, aus dem Ordnungen für das menschliche Zusammenleben abgelesen werden könnten. So liefert sich dieser Ansatz katholischer Soziallehre drei Gefahren aus, vor denen in den sozialethischen Grundsatzdebatten der letzten Jahre immer gewarnt worden war: Mit dem Rekurs auf das Naturrechtsdenken bezieht man sich auf ein in der Philosophie inzwischen eher marginales moraltheoretisches Konzept und erschwert den Dialog mit neueren philosophischen Ansätzen. Mit der Betonung des Glaubens als Voraussetzung für die rechte Vernunft untergräbt man – jedenfalls dann, wenn es um moralische Fragen geht – das ursprüngliche Anliegen des Naturrechtsdenkens, den sozialethischen Diskurs über einen allgemein-menschlichen Zugang wirklich für alle Menschen guten Willens zu öffnen und auch von ihnen zu lernen. Und mit dem Verwischen der Unterscheidungen zwischen den beiden Naturbegriffen provoziert man den Vorwurf eines „naturalistischen Fehlschlusses“.

„Rerum novarum unserer Zeit“

In einem gewissen Gegensatz zur Betonung der Kontinuität wird „Populorum Progressio“ in gewisser Weise doch als Neuanfang gewertet. In einer schönen Formulierung würdigt Benedikt XVI. diese Enzyklika als „die Rerum Novarum unserer Zeit“ (8). Trotzdem ergibt eine genauere Analyse der Zitate aus „Populorum Progressio“, dass diese recht einseitig gelesen und interpretiert wurde. Offenbar wurde gezielt nach Textstellen gesucht, die sich für das Anliegen, dass Liebe auf Wahrheit verweise, nutzen ließen. Besonders beliebt waren dabei Passagen (PP 20–21), in denen in einer anschaulichen Darstellung der Entwicklung von „weniger menschlichen“ zu „menschlicheren“ Verhältnissen als Gipfel der Entwicklung die Anerkennung Gottes steht, oder wo vor einem verkürzten Humanismus ohne Öffnung für das Absolute gewarnt wird (PP 42).

In „Populorum Progressio“ stehen solche Aussagen jedoch eher im Kontext der Zukunftsperspektive einer gemeinsamen Entwicklung der Menschheit, weniger werden sie als Voraussetzungen von Dialog und Zusammenarbeit betrachtet, schon gar nicht als Anforderungen an die Liebe. Manchmal wirken die Zitate sehr gesucht, wenn etwa die Aussage, es brauche für die Entwicklung „weise Menschen mit tiefen Gedanken“ (PP 20) in „Caritas in veritate“ auf das Plädoyer eingeengt wird, „die Implikationen unseres Familieseins (als Menschheitsfamilie, G. K.) besser zu verstehen.“ (53)

An anderer Stelle (30) wird „Populorum Progressio“ mit den Worten zitiert (PP 39): „Alles soziale Handeln setzt eine Lehre voraus“, um daraus abzuleiten, dass die Liebe Orientierung durch Wissen brauche. In „Populorum Progressio“ ist jedoch von einer „gewissen Lehre“ die Rede und der Kontext ist ein anderer: Es geht um die Möglichkeiten der Zusammenarbeit über weltanschauliche und ideologische Grenzen hinaus. Dass auf einige, damals besonders wichtige Stellen, wie etwa zur Legitimität bewaffneter Revolutionen in Extremfällen (PP 30f.), gar nicht eingegangen wurde, ist dann auch nicht mehr verwunderlich. Auch die schöne Stelle am Ende, wo Paul VI. die Laien aufruft, „in freier Initiative und ohne erst träge Weisungen und Direktiven von anderer Seite abzuwarten, das Denken und die Sitten, die Gesetze und die Lebensordnungen ihrer Gemeinschaft mit christlichem Geist zu durchdringen“ (PP 81) wird in „Caritas in veritate“ nicht aufgegriffen.

In den hochtheologischen Passagen über Wahrheit und Liebe, die den Mittelteil einrahmen und am deutlichsten die Handschrift des Papstes tragen, betont er immer wieder, dass Liebe und Wahrheit zusammengehören, manchmal klingt es auch nach einer Art Vorrang der Wahrheit vor der Liebe. In diesen Textteilen ist der Stil apodiktisch. Immer wieder wird ein breites Spektrum von Möglichkeiten auf Alternativen reduziert, bei denen dann nur eine Möglichkeit gelten darf. So behauptet Benedikt XVI. beispielsweise, dass nur in der Wahrheit, für die Jesus Christus Zeugnis abgelegt habe, die Liebe möglich und sinnvoll sei.

Manche Textpassagen klingen auch bedrückend integralistisch. So behauptet der Papst, „dass die Zustimmung zu den Werten des Christentums ein nicht nur nützliches, sondern unverzichtbares Element für den Aufbau einer guten Gesellschaft und einer echten ganzheitlichen Entwicklung des Menschen ist“ (4). Will er damit sagen, dass Nicht-Christen oder Werte, die außerhalb christlicher Tradition überliefert wurden, nicht zu einer guten Gesellschaft beitragen können?

Für Benedikt XVI. sind die beiden größten Hindernisse für die Entwicklung der Menschheit die „ideologische Verschlossenheit gegenüber Gott und der Atheismus der Gleichgültigkeit, die den Schöpfer vergessen und Gefahr laufen, auch die menschlichen Werte zu vergessen“ (78). Aber es gibt doch zweifelsohne weit größere Probleme für die menschliche Entwicklung als den Atheismus, auch wenn dieser in manchen Kreisen heute wieder militanter wird und breite Resonanz findet, sozusagen als Gegenbewegung zu einer gewissen Wiederkehr der Religion. So behauptet Benedikt XVI. pauschal – und lehnt sich damit sehr eng an „Populorum Progressio“ (42) an, wo dieser Satz wiederum als Zitat des französischen Theologen Henri de Lubac (1896–1991, Kardinal ab 1983) ausgewiesen ist: „Der Humanismus, der Gott ausschließt, ist ein unmenschlicher Humanismus.“ Solche unnötig ausgrenzenden Sätze gehen an der Tatsache vorbei, dass auch Atheisten durchaus moralisch integre Menschen sein können.

Es wäre für die Zukunft der Menschheit fatal, wenn es wirklich so wäre, als müssten wir uns immer zuerst über grundlegende Wahrheiten einig werden, bevor wir die Herausforderungen der aktuellen Probleme gemeinsam annehmen könnten. Eine Zusammenarbeit, ohne auch letzte Wahrheiten zu teilen, muss auch keineswegs zu einer immer weiter um sich greifenden „Diktatur des Relativismus“ führen, die der Papst nicht nur kurz vor seiner Wahl bei der Eröffnung des Konklaves als Teufel an die Wand gemalt hat, sondern auch in dieser Enzyklika mit dem Titel „Die Liebe in der Wahrheit“ immer wieder befürchtet (so die Nummern 2, 4, 26, 61). Ist Benedikt dem XVI. möglicherweise zu wenig bewusst, dass ein zu starkes Pochen auf Wahrheitsansprüche auch auf Kosten der Liebe gehen könnte?

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen