Das postkommunistische Europa zwanzig Jahre nach der WendeZwischen Kirche und Konsumismus

Der Kommunismus hat tiefe Spuren in seinem früheren Herrschaftsbereich hinterlassen, die sich auch zwanzig Jahre nach der Wende noch bemerkbar machen. Die Gesellschaft ist vielfach gespalten. Vielerorts sind die Kirchen die einzigen Institutionen, die Vertrauen genießen und die Menschen an sich binden.

In einer langen Lebensmittelschlange in Bukarest. Ein verärgerter Mann tritt aus der Reihe. „Ich gehe den Diktator umbringen“, sagt er. Nach etwa einer Stunde kehrt er zurück. Die Leute fragen ihn neugierig: „Hast du ihn getötet?“ – „Nein“, erwidert er, „aber ich habe mir auch dort einen Platz in der Schlange gesichert“.

Vor der Wende in Osteuropa waren solche politischen Witze wie dieser in Richard Wagners Roman „Habseligkeiten“ zitierte eine Form, die Absurditäten des kommunistischen Systems besser zu bewältigen oder zumindest für kurze Momente zu verdrängen. Es war ein Ausdruck des passiven Widerstands zwischen Ost-Berlin und Bukarest, der stillen Opposition hinter vorgehaltener Hand. Die Allüren der selbstverliebten Politbonzen und die pathetisch-ideologischen Homilien der allmächtigen wie allgegenwärtigen Partei waren gleichermaßen Ziel von Spott und Hohn.

Heute – 20 Jahre nach der Wende – lacht niemand mehr politisch. Aus der feinen Ironie zur Lebens- und Politikbewältigung ist in den Jahren seither purer Sarkasmus und Zynismus als Beschreibungen der Lebenswirklichkeit geworden. Und der politische Witz ist auch abhanden gekommen.

Doppelzüngigkeit als Überlebenstaktik

Die Propaganda und das Zwangssystem des Kommunismus haben Generationen von Menschen über Jahrzehnte zum Lügen erzogen und gezwungen. Jeder hatte mindestens zwei Schaltkästen im Kopf: den offiziellen in der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz – und den eigenen zu Hause und im vertrauten Kreis. Wobei niemand je wusste, wem wirklich zu trauen war.

Das Ergebnis dieser Gehirnwäsche war ein Leben in absolut getrennten Parallelwelten: der staatlich-politischen Floskelsphäre und der privaten Welt. Der Bürger mutierte als vom real existierenden Sozialismus beglückter Genosse zum schizophrenen Chamäleon mit Wechsel der politischen Außenfarbe nach der je aktuellen Umgebung. Diese Doppelzüngigkeit war reine Überlebensstrategie.

Alle Menschen pflegten und übten die „doppelte Sprache“: die eine zum Aussprechen des Erlaubten und die andere zur Formulierung ehrlicher Überzeugungen. Diese Schere im Kopf war praktisch überlebenswichtig. Es war ein präzise eingestellter innerer Filter, dessen psychologische Mechanismen von der Angst vor dem allgegenwärtigen System und purem Überlebenswillen bestimmt waren.

Die Überlebenskunst des Alltags im kommunistischen System markierten zudem eine bemerkenswerte intellektuelle Flexibilität und persönliche Pragmatik. Das verhinderte freilich die Orientierung an allgemein gültigen Werten und die Entwicklung von alternativen Lebenshaltungen, die nicht durch den offiziösen Lebensentwurf, den der Arbeiter- und Bauernstaat für seine Volksgenossen bereithielt, abgedeckt waren. Die kommunistische Regierungspraxis bezweckte ihrer eigenen Rhetorik zufolge die Emanzipation der Menschen von den feudalen Mächten wie Kapital und Kirchen, führte aber vor allem zu einer kollektiven Gehirnwäsche und geistiger Entmündigung. Richard Wagner schildert in seinen Erzählungen „Ausreiseantrag. Begrüßungsgeld“ die Perfidien und Absurditäten des Systems zwischen Fluchträumen und Fluchtträumen.

Im rumänischen Kommunismus boten neben der inneren Opposition einzig die Kirchen und der christliche Glaube Halt und eine – bei aller Gängelung und Verfolgung durch das System – inhaltlich unabhängige Identifikation und Werteorientierung. Hier gibt es Unterschiede zwischen den kommunistischen Ländern, die auch in nationalen Prägungen der gesellschaftlichen Mentalitäten begründet liegen. Rumänien ist diesbezüglich mit dem katholischen Polen und der Slowakei vergleichbar.

Die Kirchen offerierten eine Gegenwelt zum real existierenden Sozialismus. Jedes Credo mit dem Bekenntnis zum allmächtigen Gott war ein Bekenntnis gegen die allmächtige Partei, jede Liturgie eine Alternative zur politischen Paraliturgie der Machthaber bei Paraden, Parteitagen und Aufmärschen. In Rumänien erklärten sich bei der ersten freien Volkszählung 1992 gerade einmal 0,1 Prozent der Bevölkerung als Atheisten. Rund 96 Prozent aller Staatsbürger bekennen sich zu den christlichen Kirchen – nach über 50 Jahren Kommunismus à la Ceaus¸escu.

Von der staatlich verordneten Schizophrenie haben sich alle im Kommunismus bis etwa 1980 geborenen und politisch-ideologisch sozialisierten Bürger bis heute nicht wirklich erholt. Das ist umso tragischer für die politische Entwicklung dieser Länder, als genau diese Schicht der heute 30- bis 70-Jährigen die jetzigen Führungseliten stellt – in Politik und Parteien, Verwaltung und Wirtschaft, Wissenschaft und Medien, Gesellschaft und Justiz.

Die Funktions- und Führungsträger aller Ebenen bis 1989, aber auch die einfachen Bürger, hatten die offizielle Sichtweise internalisiert, die ihnen Leben und Überleben und im besten Falle sogar Teilhabe an der Macht sicherte. Diese Propagandarhetorik war eine Form ritualisierter Erfolgsmeldungen, garniert mit affektiven Appellen im Sinne von Durchhalte- und Leistungssteigerungsparolen sowie selbstvergewissernden ideologischen Identifizierungsangeboten.

Die sozialistische Ideologie kam teilweise in pseudoreligiöser Sprache daher. Der rumänische Diktator Nicolae Ceaus¸escu fabulierte gerne von der „Erschaffung des neuen Menschen“ (crearea omului nou). Das ist eine pur biblische Sprache. Er wollte in seinem Wahn – wie die anderen Diktatoren auch – den neuen sozialistischen Massenmenschen schaffen: gelöst von jeder Bindung an gesellschaftliche Entitäten und Kräfte außer Staat und Partei und der von ihnen kontrollierten wirtschaftlichen oder vorpolitischen Institutionen und Verbände sollte der gleich denkende und handelnde, in der Trabantenstadt lebende Mensch geschaffen werden.

Der rumänische Führer entwickelte dazu auch sein Urbanisierungs- und Dorfsystematisierungsprogramm: Er wollte ganze Dörfer schleifen und abschaffen. Gezielte Umsiedlungen von Menschen aus Dörfern etwa in der Moldau in siebenbürgische Städte wie Hermannstadt/Sibiu verdoppelten und verdreifachten in wenigen Jahrzehnten deren Einwohnerzahl und demontierten stabile soziale Gefüge. Die Dörfer in den armen Regionen überalterten massiv, in den Städten entstand ein mit dem bisherigen, über Jahrhunderte ausgeprägten Siedlungsstrukturen schwer kompatibles neues Industrieproletariat.

Die Wende wirkte wie ein Befreiungsschlag

Die Wende von 1989 wirkte zunächst wie ein unvorhergesehener Befreiungsschlag. Weder der Westen noch die Menschen in Ost- und Südosteuropa waren aber psychologisch darauf vorbereitet. Es gab auch keine Gebrauchsanweisung für die Wiedervereinigung Deutschlands und die Transformation ehemaliger Ostblockstaaten in marktwirtschaftliche Staaten mit freiheitlicher Demokratie. In kürzester Zeit mussten sich die Menschen von einer sozialistischen Staats- und Planwirtschaft in einem totalitären System auf Demokratie, Marktwirtschaft und Pluralismus umstellen. Ganze Lebensentwürfe erschienen nun in kürzester Zeit obsolet. Die sozialistische Ideologie zerbröselte. Es mussten mindestens zwei Schalter im Gehirn umgeklappt werden – der politische und der ökonomische. Politische Konstanten blieben die Korruption und die oligarchischen Herrschaftsstrukturen – als politische Phänomene, die in Rumänien wie ganz Südosteuropa noch jedes System überdauert haben.

Die Menschen freuten sich an der neuen Freiheit, waren aber nicht in der Lage, kurz- wie langfristig eigene politische Identifikationsmuster im Sinne eines stabilen und gesellschaftsfördernden Selbstbildes zu entwickeln. Die enthusiastische Begeisterung für die Revolution war vor allem eine kollektive Genugtuung mit kurzer Halbwertszeit am Sturz und der physischen Beseitigung des Diktators und vor allem seiner noch verhassteren Frau. Im unmittelbaren Anschluss daran begannen die „Verteilungskämpfe von Macht- und Wirtschaftsressourcen“, wie die Südosteuropaexpertin Anneli Ute Gabanyi die Neusortierung der bisherigen Führungsriegen umschreibt. Die breite Bevölkerung blieb dabei außen vor.

Laut dem Soziologen Anton Sterbling wurde der demokratische Umbruch in Osteuropa „auch und vor allem als Befreiung des Denkens aus ideologischen Verpflichtungen und Selbstverpflichtungen, als Rückkehr zu einer gemeinsamen universalistischen Sprache des kritischen Diskurses und der erfahrungsgeprüften Vernunft, als neue Chance des Geistes, sich der Machtunterwerfung zu entziehen und ausschließlich in den Dienst der Wahrheit zu stellen, verstanden“.

Gemessen an der vorherigen Schere im Kopf entstand zunächst aber ein ideologischer horror vacui. Die Menschen waren auf die individuelle Rhetorik zurückgeworfen, sieht man von den maßlos überstrapazierten „Reform“-Floskeln einmal ab. Eine neue Kultur des Privaten entstand nach 1989: Heimwerken mit den neuen Importprodukten aus dem Westen und Grillen am Fluss und im Wald statt Paraden und öffentlicher Politpossen und -schauspiele. Die Bürger erkämpften sich das Recht auf Privatsphäre und Privatleben. Das ist evident und gilt wohl als der wichtigste persönliche Gewinn aus der Revolution. Doch dies ist weder politisch noch wirtschaftlich messbar und stellt sogar eine Gefahr dar. Denn dieses mentale Biedermeier, das sich vor allem aus der Saturiertheit über die bisherige vollkommene Politisierung aller Lebensbezüge speist, führte auch direkt ins Unpolitische.

Stand früher die gesamte Lebenswirklichkeit im öffentlichen wie im privaten Bereich unter dem Diktat der politischen Ideologie, so wurde nach 1989 die neue Wirtschaftsordnung zum alleinigen Maßstab. Wobei sie vor allem denen dient, die ihre Schäfchen ins Trockene gebracht haben und zu den sogenannten „Revolutionsgewinnern“ gehören. Und so hat sich etwa in Rumänien eine klassische Zweidrittelgesellschaft entwickelt. Die oberen Zehntausend tragen ihren Neureichtum teilweise obszön zur Schau in einem Land, in dem Menschen an heilbaren Krankheiten sterben, weil sie Medikamente und lebensrettende Operationen nicht bezahlen können.

Die Bewältigung der Wende geschah nach Klassen

Alle Menschen ab einem gewissen Alter politischer Wahrnehmungsfähigkeit versuchen nun in einem Transformationsstaat wie Rumänien, die Wende auf je eigene Weise zu bewältigen. Und doch lassen sich kollektive sozialpsychologische Verhaltensmuster beobachten, auch wenn diese leider noch nicht einmal ansatzweise untersucht und wissenschaftlich erfasst sind.

Auf jeden Fall klafft das mentale Vakuum der Ideologie: eine als allgemein verbindlich anerkannte öffentliche gesellschaftliche Orientierung im Ethischen wie Politischen fehlt. Das politische wie das wirtschaftliche Leben sind gekennzeichnet von einer allgemeinen Ellbogenmentalität. Nachdem sich die bisherigen Machthaber häufig genug aufgrund ihrer alten Seilschaften in wichtige Schaltstellen des neuen Systems hinüberretten konnten, herrscht eine breite Lethargie und tiefe politische Depression und Frustration in breiten Bevölkerungsschichten. Erschreckend gering sind daher die Sympathie- und Vertrauenswerte für Politik und Politiker, Demokratie und staatliche Institutionen, von der Wahlbeteiligung in der jungen Demokratie ganz zu schweigen.

Die grundskeptische Ablehnung des Politischen an sich und der sich vor allem persönlich bereichernden Politkaste im Besonderen gewinnt im postrevolutionären Rumänien häufig schon pathologische und irrationale Züge. Die Rumänen sind wahre Meister der misstrauischen Selbstbezichtigung des eigenen Volkes und des eigenen politischen Systems. Es fehlt nach nur wenigen Jahren jegliches Vertrauen in die neuen demokratischen Institutionen und in die Politik. Die Kirchen hingegen führen im Vertrauensranking seit der Wende mit meist rund 85 Prozent, gefolgt von der Armee mit über 70 Prozent. Dies auch als Dank dafür, dass die Armee bei der Revolution von 1989 auf der Seite des Volkes gegen die Securitate-Einheiten gekämpft hat. Kirchen und Armee wird Moral zugestanden, mehr als Medien, Politik und anderen Institutionen.

Dabei sind diese kritischen Haltungen zu Demokratie und Rechtsstaat nicht einfach Phänomene der Nostalgie zur Verdrängung der neuen Lebenswirklichkeiten. Es sind vor allem die Beobachtung der politischen Bühne und die Unsicherheit über den eigenen Lebensstandard, die retrospektive Sentimentalitäten nähren. Den Menschen in den Transformationsstaaten wird zudem ein großes Maß an Eigenverantwortung abverlangt. Genau diese aber wurde ihnen 40 Jahre lang aberzogen.

Konsumismus und Materialismus als Ersatzideologie

Die Tatsache, dass Politik vor allem der Selbstbereicherung der herrschenden Klassen dient und hinter den Parteien auch entsprechende Wirtschaftsclans stehen, fördert auch keine positiven Einstellungen zu Demokratie und Parlamentarismus. Seit etwa acht Jahren gibt es nun einen Wirtschaftsaufschwung mit Wachstumsraten von vier bis acht Prozent pro Jahr, das Land schaffte den NATO- und den EU-Beitritt. Doch dieser geht an der Bevölkerungsmehrheit bisher vorbei. Zwar ist die Arbeitslosigkeit sehr niedrig. Doch dafür sorgen Billiglohnarbeitsplätze. So stehen Durchschnittslöhne von 200 bis 300 Euro Lebenshaltungskosten gegenüber, die in wesentlichen Bereichen deutlich höher sind als etwa in Deutschland. Nur etwa 300000 Arbeitnehmer in Rumänien verdienen ein Bruttogehalt von über 1000 Euro, teilte das Nationale Institut für Statistik (INS) in Bukarest für 2008 mit. Das sind sechs Prozent der registrierten Arbeitnehmer. Etwa 60 Prozent verdienen Bruttolöhne zwischen 149 und 447 Euro – bei westlichen Preisen für Konsumgüter und Gas wohlgemerkt.

Die Wendebewältigung setzt daher im Kopf und im Geldbeutel gleichermaßen an. Sie geschieht primär nach Klassen. Die Menschen haben sich Ersatzideologien und -befriedigungen gesucht, die das Vakuum ausfüllen sollen. Nicht alle Alternativen aber bieten geistige Orientierung.

Die sichtbarsten Ersatzideologien sind Konsumismus und Materialismus. Hier gibt es auch den größten Nachholbedarf in prestigeträchtiger Absicht. Nach Jahrzehnten mit dem ideologischen Ballast des „historischen Materialismus“ als Weltanschauung im Kopf, bevorzugen die Menschen in Rumänien seit 1990 den „real existierenden Materialismus“. Ein entscheidendes postrevolutionäres Imagekriterium ist die Sichtbarkeit des wirtschaftlichen Erfolgs, und zwar des Individuums, nicht mehr des Kollektivs. Der gesellschaftspolitische Kollateralschaden dieser Entwicklung ist die Verflüchtigung des Sozialen als gesellschaftliche Kategorie und Maßstab politischer Entwicklung sowie der Sozialkompetenz. Individualismus und Egoismus sind heute Trumpf, Idealismus und ehrenamtliches Engagement antagonistisch belächelte Romantismen.

Dem Ziel, wirtschaftlich möglichst sichtbar zu reüssieren und andere finanziell hinter sich zu lassen, wird vieles untergeordnet. Der ökonomische Selbstbeweis durch Markenidentität und Statussymbole gewinnt den Charakter einer als frei und selbstbestimmt empfundenen Ersatzbefriedigung für das Geist- und Sinndefizit durch den Wegfall der früheren sozialistischen Ideologie und Identität. Dabei wird nie reflektiert, in welch großem Umfang diese neue Markenidentität ein Produkt der Medien und eine Manipulation durch Werbung darstellt.

Vor allem die allgegenwärtige Werbung und Filme wie Serien aus den USA bilden und prägen diese Images mit identifizierendem Charakter. Die USA sind für die Rumänen schon traditionell ein Fernmythos. Diese kollektive Bewunderung nach 1989 hat historische Wurzeln. Viele sozialpsychologische Phänomene in Ost- und Südosteuropa sind von geschichtlichen Entwicklungen beeinflusst. „Die Amis kommen“ – lautete ein frommer Wunsch der Rumänen 1944. Damals hatte Rumänien die Fronten gewechselt, weg von Hitler-Deutschland. Die Rote Armee marschierte im Land ein, die Kommunisten leiteten die Sowjetisierung des Landes ein. Die Rumänen warteten vergeblich auf die Befreiung durch die USA. Nun haben die Amerikaner im Bewusstsein der Rumänen mit Verspätung gesiegt. US-Lifestyle, oder was man dafür hält, ist „in“ und verspricht höchste Anerkennung.

Zwei Statussymbole kennzeichnen das Leben der Wendegewinner in Rumänen: die eigene Villa und der Geländewagen – beides möglichst groß. Davon gibt es in Rumänien mittlerweile prozentual mehr als in Deutschland. 2008 hatte Rumänien auf die Gesamtbevölkerung gerechnet die höchste Quote neu angemeldeter Geländewagen der Marke Porsche Cayenne. Breite Schichten der Bevölkerung wiederum tragen zum Siegeszug der Markenikonen des Westens bei: Coca Cola und McDonald’s gelten als symbolträchtiges pars pro toto für die bunte Glitzerwelt des Westens, mit der sich irgendwie alle identifizieren. Das kann sich jeder leisten. Das signalisiert im allgemeinen Bewusstsein die Zugehörigkeit zum Westen, mehr als Demokratie, Meinungsfreiheit und EU-Mitgliedschaft. Das wird zwar alles grundsätzlich befürwortet und bejaht, prägt aber nicht die postkommunistische und postrevolutionäre Identität. Die prägen Fast Food und Coca Cola.

Demokratie und EU-Normen werden in dem Bewusstsein ertragen, dass sie zur Transformation eben notwendig sind. Wenn jedoch Verwaltungsexperten, Journalisten und Politiker die Termini „Reform“ oder „EU-Normen“ im Munde führen, dann sind das bereits negativ besetzte Worthülsen und Floskeln einer politischen Rhetorik, vergleichbar den Ideologie-Slogans vor 1989.

Die Renaissance der Religion ist mit Händen zu greifen

In eine ganz andere Richtung der Wendebewältigung geht der religiöse Aufbruch. Das kirchliche Leben blüht. Kirche und christlicher Glaube versprechen im Unterschied zu den Gütern des Konsumismus Antworten auf die Sinn- und Wertefrage. Wer nicht nur nach dem Wert der Dinge, sondern den Werten des Lebens fragt, findet in Rumänien den Weg zu den Kirchen.

Bis 1989 als Gegenwelt zum atheistischen Kommunismus wahrgenommen, sind die Kirchen heute eine Gegenwelt zur hässlichen Fratze des Egoismus, des Neokapitalismus und des Materialismus, die sich auch in Rumänien in aller Brutalität und Banalität zeigt. Bekanntlich hatte schon der sozialethisch versierte Papst Johannes PaulII. nach der Wende in Ost- und Südosteuropa den Neoliberalismus und Wildwestkapitalismus in den Transformationsstaaten wie weltweit mit gleicher Schärfe kritisiert wie den atheistischen Sozialismus und totalitären Kommunismus vor 1989.

Die Sinnstiftung durch die Kirchen wird dabei in Rumänien – anders als in Deutschland – durchaus als institutionell-kirchlich vermittelt wahrgenommen und gesucht. Rumänien ist heute ein Land, in dem Kirchen nicht geschlossen, sondern neu gebaut werden. Die Renaissance der Religion ist mit Händen zu greifen und erfasst breite Bevölkerungsschichten. Die orthodoxe Kirche hat seit der Wende 1000 neue Kirchen im Land gebaut. Gab es 1989 nur noch rund 120 Klöster mit etwa 450 Mönchen und Nonnen, so sind es heute wieder 600 Klöster mit 8000 Mönchen und Nonnen. Auch die Katholiken bauen neue Kirchen. Das Ordensleben blüht. In Klöstern wie dem der Franziskaner in Roman in der Moldau gibt es derzeit über 200 Novizen.

Dieser kirchliche Aufbruch mag sich in den nächsten Jahren auf etwas niedrigerem Niveau einpendeln. Doch die Kirchen in Rumänien besitzen heute eine unübersehbare positive und identitätsstiftende Rolle in der Gesellschaft, an der niemand vorbeikommt. War die Kirche bis 1989 ein Hort des Rückzugs in Zeiten der Angst und der kollektiven Traumata, so hat sie seither in der Zeit der Transformation mit all ihren massiven Umbrüchen und Unsicherheiten eine die Gesellschaft stabilisierende Rolle verkörpert.

So haben sich in Rumänien nach 1989 – wie in den anderen Transformationsstaaten auch – ganz unterschiedliche existenzielle Formen der Wendebewältigung gezeigt, vom Konsumismus bis zum Wiederaufblühen der Kirchen, vom Rückzug ins Private bis hin zu neuer Gehirnwäsche durch die Medien. Eine wissenschaftliche Analyse dieser Entwicklungen und Haltungen durch die Psychologie ist ein dringendes Desiderat. Die Zeit dafür ist reif.

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