Ein Gespräch mit dem Sozialethiker Friedhelm Hengsbach„Nach Warum und Wozu fragen“

Die moralische Kommunikation und auch die sozialethische Reflexion müssen an den wirtschaftlichen und politischen Alltag anschlussfähig sein. Zur Übersetzung moralischer Ziele und ethischer Vorstellungen mahnt der Wirtschafts- und Gesellschaftsethiker Friedhelm Hengsbach in unserem Gespräch mit Blick auf die kirchlichen Stellungnahmen zur Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Fragen stellte Alexander Foitzik.

HK: Pater Hengsbach, Sie haben jüngst gemahnt, die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise verlange nach einem gesellschaftlichen Aufbruch vergleichbar dem Jahr 1989. Wie schätzen Sie diese Krise ein, dass Sie zu einer so weit reichenden Forderung kommen? Oder drückt sich darin vielleicht eine Hoffnung aus?

Hengsbach: Im Unterschied zu den sieben bis acht Finanzkrisen in den letzten dreißig Jahren berührt die aktuelle nun den ganzen monetären Bereich und dies hat wiederum die Krise in der Realwirtschaft verstärkt. Diese Einschätzung ist unumstritten und zu Recht spricht man auch von einer beispiellosen Krise. Besonders auffällig ist, dass mit dieser Krise – wenn vielleicht auch nur unter der unmittelbaren Schockwirkung – 30-jährige Denkmuster abrupt zusammengebrochen sind. Bislang hieß es doch: Vertraut auf die Selbstheilungskräfte des Marktes! Oder, der schlanke Staat ist der beste aller möglichen Staaten und wenn die Notenbank rigoros die Inflation bekämpft, ist Wirtschaftspolitik an anderer Stelle gar nicht mehr nötig. Von diesen marktradikalen wirtschaftsliberalen Dogmen ist plötzlich nicht mehr die Rede. Stattdessen erklärten uns Bankiers, dass sie nicht mehr an die Selbstheilungskräfte des Marktes glauben, und forderten, dass der Staat sie jetzt retten müsse. Und die Notenbanken mussten in einem Ausmaß Geld in das System fluten, wie es seit der Nachkriegszeit noch nie geschehen ist.

HK: Wie weit reicht diese Wirtschafts- und Finanzkrise denn in die verschiedenen Bereiche unserer Gesellschaft hinein?

Hengsbach: Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Anfang des Jahres haben die wirtschaftlichen Eliten sehr zutreffend von den drei Dimensionen der Krise gesprochen. Da ist zuerst die monetäre Krise: Die unendliche Kreditschöpfungsmacht des Bankensystems hat einerseits den Wohlstand des Kapitalismus erzeugt, andererseits hat sie sich auch als ein höchst riskantes Potenzial gezeigt. Hinzu kommt die ökologische Krise. Der Volkswirtschaftler Werner Sombart hat schon vor hundert Jahren darauf verwiesen, die Dynamik des Kapitalismus werde auch dadurch erzeugt, dass die Substanz des Naturvermögens verbraucht werde. Er sprach von einem Griff in die „Sparbüchse der Erde“. Dass dieses Handeln nicht unbegrenzt fortgesetzt werden kann, merken wir jetzt unter dem Vorzeichen des Klimawandels in ganz besonderer Weise. Hinzu kommt schließlich die soziale Dimension der Krise. Denn parallel zur Entregelung der Finanzwirtschaft gerade in Europa und in Deutschland fand die Schwächung der solidarischen Sicherungssysteme statt, die Deformation der Renten-, der Kranken- und der Arbeitslosenversicherung. Man hat die solidarischen Anteile zurückgefahren und entsprechend an die private Vorsorge appelliert.

HK: Müssen wir in Deutschland tatsächlich schon von einer sozialen Krise sprechen?

Hengsbach: Ja, das Armutsrisiko ist deutlich gestiegen, die prekären Arbeitsverhältnisse nehmen zu, weil ja auch die Arbeitsverhältnisse entregelt worden sind. Diese soziale Dimension der Krise kommt mit der ökologischen und der monetären zusammen. Deshalb reicht es eben nicht, dass man nur die Finanzarchitektur wieder neu herstellt. Die Wachstumsprozesse, die man jetzt ankündigt und erhofft, müssen umgesteuert werden. Wir brauchen ein ökologisch verträgliches Wachstum und das Verteilungsproblem in unserer Gesellschaft darf nicht ausgeklammert werden.

HK: Sehen Sie Anzeichen für solches Umsteuern? Oder gehören Sie zu denen, die klagen, man habe aus der Krise leider nichts gelernt?

Hengsbach: Die Lernbereitschaft war groß unter der unmittelbaren Schockwirkung. Wenn der Staat schon so massiv interveniert, sollte er auch Weichen stellen: Finanzunternehmen, die unter den Schirm des Staates flüchten, sollten sich intern in ihren Strukturen ändern und beispielsweise Belegschaften und die öffentliche Hand an Entscheidungsprozessen im Unternehmen, zumindest im Aufsichtsrat beteiligen, so wie es eben nach dem Krieg in der Montanindustrie der Fall war. Nicht nur die Aktionäre dürfen bestimmen, sondern auch diejenigen, in deren Region das Unternehmen Vorleistungen aus der Gesellschaft bezieht, und vor allem die, die mit ihrem Arbeitsvermögen zum Wohl des Unternehmens beigetragen haben.

HK: Das würde über die jetzt diskutierten und beschlossenen Maßnahmen deutlich hinausgehen ...

Hengsbach: Es wäre durchaus möglich, dass man sofort die Strukturregeln ändert und nicht nur die Prozessregeln. Also nicht nur, dass alle Finanzgeschäfte, alle Finanzunternehmen und alle Finanzplätze unter öffentliche Aufsicht und Kontrolle gestellt werden, wie es in den Absichtserklärungen der G20-Konferenz heißt. In den Unternehmen selbst könnten demokratie-ähnliche oder demokratie-fähige Strukturen geschaffen werden. Wenn der Staat schon so massiv in den Finanzsektor eingreift, sollte er nicht Banken fusionieren, so dass sie noch größer und damit noch „systemrelevanter“ werden als bisher. Der Staat sollte systemrelevante Banken, die ihn in der Krise erpressen können, eher zerlegen oder auch zerschlagen.

HK: Die schwarz-gelbe Bundesregierung setzt entschieden auf Wirtschaftswachstum. Müssen wir aber nicht auch über dieses Wachstumsparadigma noch sehr viel grundsätzlicher nachdenken?

Hengsbach: Das wäre dringend notwendig. Einmal, weil Wachstum keinen Sinn hat, wenn nicht gleichzeitig die Verteilungsfrage thematisiert und einer ausgewogenen Lösung zugeführt wird. Zum anderen müssen ökologische Fragestellungen bei diesem Wachstumsziel eine größere Rolle spielen. Man kann dies in einem „magischen“ Dreieck darstellen: Die eine Seite bilden wirtschaftlicher Erfolg und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die andere die ökologische Nachhaltigkeit. Die dritte Seite ist der soziale Zusammenhalt in der Gesellschaft. Wer wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder wirtschaftliches Wachstum ausschließlich fördert, schadet dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und der ökologischen Nachhaltigkeit. Aber gleichzeitig riskiert er die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, weil diese selbst vom sozialen Zusammenhalt und der ökologischen Nachhaltigkeit abhängt. Insofern ist es äußerst kurzfristig gedacht und gegenproduktiv, wenn sich die politisch Verantwortlichen im Koalitionsvertrag derart zugespitzt am Wirtschaftswachstum orientieren. Im vatikanischen Rundschreiben „Caritas in veritate“ steht dazu der bedenkenswerte Satz, die moderne Welt – ich würde lieber von den politischen und wirtschaftlichen Eliten sprechen – frage gegenwärtig, um die Krise zu bewältigen, ausschließlich nach dem „Wie“ und leider nicht nach dem „Warum“ und „Wozu“ ihres alltagspraktischen Handelns.

HK: Was würde es konkret für Deutschland bedeuten, nach dem Warum und Wozu zu fragen und nicht allein am wirtschaftlichen Wachstum Maß zu nehmen?

Hengsbach: Es müsste gefragt werden, was die Lebensqualität der Menschen und zwar aller hier in der Bundesrepublik, aber vor allem der Weltbevölkerung insgesamt fördert. In welchem Ausmaß dient dazu die neu zu konzipierende Weltfinanzarchitektur, wobei diese bislang kaum mehr als eine Absichtserklärung ist. Lebensqualität wird jedoch nicht ausschließlich durch höheres Einkommen und Vermögen erzielt. Es geht darum, ob Menschen ihre vitalen Bedürfnisse befriedigen können: ein eigenständiges Leben führen in gelingenden Partnerschaften, auch mit Kindern. Können sie sich Wohnungen leisten, in denen Kinder heranwachsen und ihre Talente entwickeln können? Gelingt es, im Einklang mit der Natur zu leben, autonom über die eigene Zeit zu verfügen, sich eine Privatsphäre gegen betrieblichen und politischen Druck zu reservieren? Zeitautonomie und humane Lebensqualität, das wären doch eigentlich die Ziele, an denen sich die politischen und finanzwirtschaftlichen Eliten orientieren sollten. Es macht doch keinen Sinn, eine politische Maßnahme nach der andern zu ergreifen, während die Ziele nebelhaft und ungeklärt bleiben.

HK: Solche Zielvorstellungen stehen derzeit gerade wegen der Krise wohl eher im Verdacht, träumerisch zu sein. Wer kann und soll denn in dieser Situation die „richtigen“ Fragen stellen?

Hengsbach: Ich würde zunächst von Wissenschaftlern und auch von den Medien erwarten, dass sie den Blick über den Tellerrand wagen. Auch im politischen Diskurs dürften diese Fragen nicht einfach ausgeklammert werden, indem man sich über visionäre Perspektiven lustig macht und stattdessen immer nur auf die alltäglichen Entscheidungszwänge und praktischen Herausforderungen fixiert ist. Sonst rennt man heute einer Autofabrik die Türen ein, um die aktuellen Schäden zu beheben, und am nächsten Tag rast man zu einer Bank, um sie zu retten. Die Zwänge sind fraglos enorm, aber ab und an müssten Politiker auch die Frage stellen: Habe ich überhaupt noch das Ganze und meine Ziele im Blick?

HK: Von Seiten der beiden großen Kirchen in Deutschland gab es reichlich Stellungnahmen und Erklärungen zur Wirtschafts- und Finanzkrise. Ist es vor allem Aufgabe der Kirche, in solchen Situationen die Frage nach dem Großen und Ganzen zu stellen?

Hengsbach: Die Kirchen hätten hier eine große Aufgabe. Aber christliche Sozialethiker beispielsweise sehen sich in solchen Auseinandersetzungen latent dem Verdacht ausgesetzt, realitätsfern zu sein. Der Dialog zwischen den politisch Verantwortlichen und solchen, die auch mal über den Zaun hinausblicken, stellt sich äußerst schwierig dar. Die moralische Kommunikation und auch die sozialethische Reflexion müssen an den wirtschaftlichen und politischen Alltag anschlussfähig sein. Gerade in der moralischen Kommunikation, der sich ja die Kirchenleitungen meist sehr rasch befleißigen, muss die Übersetzungsarbeit gelingen. Moralische Ziele und ethische Vorstellungen müssen so zur Sprache gebracht werden, dass sie das Wirtschaftssystem auch aufnehmen kann.

HK: Die Kirchen haben beispielsweise zu mehr Verantwortungsbewusstsein in der Wirtschaft gemahnt.

Hengsbach: Die Verantwortung stellt eine Kategorie dar, die in den Unternehmen gerade noch verstanden wird. Aber sie hat den Haken, dass es eine sehr subjektive Kategorie ist. Diesen Vorwurf kann ich auch der Enzyklika „Caritas in veritate“ nicht ersparen, dass sie die Übersetzungsarbeit der moralischen Appelle in die Systeme Wirtschaft und Politik nicht angemessen leistet.

„Die Gier ist nur eine Antwort auf korrumpierte Systeme“

HK: Wie artikuliert sich demnach Verantwortung in unserem Wirtschaftssystem, über die bloß subjektive moralische Verantwortung hinaus?

Hengsbach: Die Verantwortung der Unternehmen etwa für nachhaltiges Wirtschaften muss sich in ihren Kosten und Marktpreisen verkörpern. Ansprüche, die von einem moralischen Standpunkt aus für alle Menschen gelten sollen, müssen in politische Regeln gefasst werden. Wobei wieder zu fragen ist, ob der Staat allein diese Regeln setzen kann. Je schärfer er Regeln formuliert, umso größer ist auch die Neigung der Unternehmen, diese Regelungen zu unterlaufen. Also kommt der Staat als Hüter des allgemeinen Interesses nicht um die Kooperation mit seinen Partnern in der Wirtschaft oder auch in der Zivilgesellschaft herum. Wir müssen uns eher ein politisches Netzwerk vorstellen, in dem staatliche Organe, also die Justiz, das Parlament und die Regierung, mit anderen kollektiven Akteuren kooperieren, also Wirtschaftsverbänden und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen – Bürgerinitiativen, Parteien, Gewerkschaften und eben auch den Kirchen. In gemeinsamer Verständigung, auch im Kräftespiel von Macht und Gegenmacht kommt dann das zustande, was heute allgemeines Interesse heißt und früher Gemeinwohl genannt wurde. Diese delikaten Verständigungsprozesse machen ein politisches „Durchregieren“ unmöglich und lassen das politische Handeln ebenso wie wirtschaftliches und zivilgesellschaftliches Handeln so komplex werden.

HK: Greift die Beschreibung der Krise als Tugendkrise demnach zu kurz? War zu viel oder an falscher Stelle von Moral die Rede?

Hengsbach: „Moral an die Börse!“ ruft der Vater der spekulativen Finanzgeschäfte, George Soros, schon seit Jahren. Demgegenüber steht die Aussage von Hilmar Kopper, dem früheren Vorstandssprecher der Deutschen Bank, er könne das Wort Gier nicht mehr hören. Und Herr Kopper hat meiner Meinung Recht. Der Versuch, Strukturkrisen und gesellschaftliche Risiken einzelnen Menschen, ihren Tugenden und Untugenden zuzurechnen, ist ein Alibi, um sich vor den anstehenden Struktur- und Gesellschaftsanalysen zu drücken. Bei der Arbeitslosigkeit erklärte man früher die „faulen Säcke“ als für ihre missliche Lage selbst verantwortlich. Sie seien eben nicht leistungsfähig und leistungsbereit. Jetzt geht das nach oben in eine ähnliche Richtung. Jetzt soll es die Gier gewesen sein, „unser aller Gier“, wie es ein Erzbischof in einer Predigt ausdrückte.

HK: War nicht tatsächlich auch viel Gier mit im Spiel?

Hengsbach: Was ist mit „Gier“ gemeint? Doch nicht das Eigeninteresse, das jeden von uns und erst recht den Unternehmer prägt. Gier ist etwas anders. Wenn ich schon von Gier spreche, dem zwanghaften Drang, immer mehr haben zu wollen, muss ich auch fragen, um wessen Gier es geht. Ist es die Gier eines Ehepaares, das ein eigenes kleines Haus mit Garten haben wollte? Meine ich die Gier der Händler, die ihnen Verträge andrehten, von denen klar war, dass sie diese nicht einhalten können? Ist es die Gier der Abteilungsleiter in den Banken, die von den Händlern möglichst viele Vertragsabschlüsse sehen wollten? War der Investmentbanker zu gierig, der mit dem An- und Verkauf von Anlagen ein rentables Geschäftsmodell entdeckt hat? In jedem Fall ist die Gier nur eine Antwort auf korrumpierte Systeme.

HK: Wo liegen oder lagen dann die Fehler im System?

Hengsbach: Ganz erheblich in der extremen Schieflage der Einkommens- und Vermögensverteilung im nationalen Bereich. Immer mehr Geld fließt nicht unmittelbar in den volkswirtschaftlichen realen Kreislauf, sondern zirkuliert als Geldvermögen auf den internationalen Finanzmärkten. Geldvermögensmärkte ticken jedoch anders als Gütermärkte. Die Gütermärkte werden durch knappe Ressourcen begrenzt oder durch knappe Realeinkommen. Die Geldvermögensmärkte werden durch subjektive Erwartungen gesteuert und sind nach oben und unten einfach unbegrenzt veränderbar. Nach oben sind sie unbegrenzt, weil zu den subjektiven Erwartungen an stetig steigende Vermögenswerte eine unbegrenzte Kreditschöpfungsmacht des Bankensystems hinzukommt und jene Erwartungen noch befeuert.

HK: Und wie hat sich das konkret gezeigt?

Hengsbach: Rating-Agenturen haben quasi in Komplizenschaft mit den Finanzunternehmen ihre Bewertungen ausgesprochen und den Unternehmen auch Tipps gegeben, wie man die Kredite möglichst komplex verbrieft, zu Paketen schnürt und weiterreicht. Höchst problematisch sind ebenso die systematische Unterkapitalisierung und überwiegende Fremdfinanzierung von Unternehmenskäufen, auf die sich Finanzunternehmen verlegt haben. Das alles sind Systemfehler, an denen auch der Staat seinen Anteil hat, indem er die entsprechenden Gesetze erlassen hat, dass beispielsweise in Zweckgesellschaften Finanzgeschäfte an der öffentlichen Aufsicht und Kontrolle vorbei abgewickelt werden konnten. Solche Schieflagen im System sind entscheidend, wenn die Menschen am Ende gierig werden und außerordentliche Risiken eingehen, ohne dafür gerade stehen zu müssen.

„Die beste Sozialverkündigung besteht in der sozialen Glaubenspraxis“

HK: Haben die Kirchen demnach die Chance vertan, der Gesellschaft angesichts dieser beispiellosen Krise so ins Gewissen zu reden, dass sie auch gehört und verstanden werden?

Hengsbach: Was die soziale Dimension an dieser Krise angeht, haben die Kirchenleitungen eine sehr ungute Rolle gespielt, als sie sich anfangs positiv zur Agenda 2010 und zu den Hartz-Gesetzen geäußert haben. Immerhin haben sie bald gemerkt, dass die angeblichen Reformen für einen Teil der Bevölkerung zu einer Abwärtsspirale nach unten führen. Gegenüber der Finanzkrise waren auch die Kirchen erst einmal ratlos und zudem selbst betroffen. Denn die Vermögensanlagen der Kirchen und ihrer Einrichtungen blieben von der Krise nicht verschont. Die evangelische Kirche hat verhältnismäßig schnell im Sommer dieses Jahres eine knapp dreißigseitige Erklärung abgeben, die wirklich ins Schwarze traf – betitelt mit dem biblischen Bild: „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“.

HK: Ist dieser Text nicht auch stark fixiert auf die individuelle Dimension?

Hengsbach: Ja, auch hier wird der Mangel an subjektiver Verantwortung überbetont. Einem solchen Ansatz gelten meine Fragezeichen. Aber zugleich wird in dieser Erklärung eine sehr präzise Strukturanalyse vorgenommen. Und daraus folgt doch, dass Strukturfehler nur durch Strukturreformen beseitigt werden können. Allerdings wird in dem Dokument versucht, hinter den Systemfehlern die kollektiven Akteure zu identifizieren, die die verschiedenen Schieflagen zu verantworten haben, durch ihre finanzwirtschaftliche Propaganda und durch den Druck auf die politischen Entscheidungsträger, die dann die schleichende Umwandlung des „Rheinischen Kapitalismus“ in den angelsächsischen Finanzkapitalismus eingeleitet haben. Schließlich nennt die Erklärung eine ganze Reihe von Orientierungspunkten. Und das ist das eigentliche Feld, wo Kirche und kirchliche Gruppierungen ihre Kompetenz in besonderer Weise ausspielen können und sollen. Dort geht es um das Warum und Wozu des Wachstums, um die Frage, wie ein Neustart gelingen kann. Und es werden auch politische Wege aufgezeigt, wie man aus dieser Krise herauskommen kann.

HK: Dieser von Ihnen gelobten Denkschrift ging innerhalb der evangelischen Kirche eine heftige Auseinandersetzung voraus. Im Sommer letzten Jahres hatte der Rat der EKD eine Denkschrift dem unternehmerischen Handeln aus evangelischer Perspektive gewidmet. Kritiker warfen dieser Erklärung vor, das bestehende neoliberale System zu stützen; sie sei ein einziger Kotau vor dem Kapitalismus. Entsprechend sah man jetzt in der neuen Denkschrift auch etwas kapitalismuskritische Wiedergutmachung am Werk.

Hengsbach: Jede Kirche ist auch ein Spiegel der Gesellschaft, in der sie lebt. Zu meinen, die Kirchen könnten einmütig politische Stellungnahmen abgeben, die von allen Mitgliedern geteilt werden, ist angesichts der Pluralität in den Kirchen naiv. Auch die Mitglieder der katholischen Kirche haben längst ihre Fühler in verschiedene gesellschaftliche Bereiche hinein ausgelegt. Frauen in der Kirche sind stark verbunden mit der Frauenbewegung außerhalb der Kirche, die kirchlichen Arbeitnehmer mit den Gewerkschaften und den links orientierten Parteien. Dies ist Faktum und eine Wohltat. Sie führt zu Spannungen, wo partikuläre Interessen innerhalb der Kirche sich mit partikulären gesellschaftlichen Interessen verbinden. Aufgabe der Kirchenleitungen wäre es, diese unterschiedlichen Gruppierungen und Interessen auszugleichen. Tun sie das nicht und ziehen sich aus den gesellschaftlichen Konflikten heraus, reden sie aus dem Fenster eines Elfenbeinturms heraus über Gerechtigkeit, ohne selbst im eigenen Laden dem Weg der Gerechtigkeit zu folgen.

HK: Soll sich die Kirche in solchen gesellschaftlichen Fragen auf eine schlichte Vorbildfunktion beschränken?

Hengsbach: Nein, aber die Kirchenleitungen können beispielsweise den Arbeitgebern nichts über gerechte Löhne sagen, ihnen nicht empfehlen, Betriebsräte einzurichten und mit den Gewerkschaften Tarifverhandlungen zu führen, wenn sie diese im eigenen Betrieb verabscheuen. Die beste Sozialverkündigung besteht in der sozialen Glaubenspraxis: etwa die Grundrechte der Arbeitnehmer in der Dienstgemeinschaft oder die Gleichheit der Frauen in der verfassten Kirche anzuerkennen. Erst dann findet die Kirche offene Türen, um mit anderen ins Gespräch zu kommen.

HK: Immer wenn die Kirche, vermeintlich oder tatsächlich, um ihre Stellungnahme zu gesellschaftlichen und politischen Prozessen gefragt ist, beginnt auch die Diskussion um die Relevanz der katholischen Soziallehre einerseits und der christlichen Sozialethik andererseits – oft verbunden mit einem verklärenden Blick auf die fünfziger und sechziger Jahre.

Hengsbach: Die Relevanz der Sozialverkündigung hängt ganz entscheidend davon ab, ob sie an die Erfahrungen der Menschen im gesellschaftlichen Alltag anschließt. Wenn es nicht gelingt, diesen Anschluss zu finden, indem die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums gedeutet und das Wirken des Heiligen Geistes in der Gegenwart anerkannt werden, bleibt die Kirche in einer abgehobenen Prinzipienethik und in wirkungslosen moralischen Appellen eingeschlossen.

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