Energie, englisch power, ist Macht. Der Umgang mit ihr prägt die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Er ist deshalb nicht nur eine technisch-ökonomische, sondern ebenso eine politische und ordnungsethische Angelegenheit. Dies gilt in besonderem Maße für die Kernenergie. Denn sie ist mit langfristigen Investitionen, Pfadabhängigkeiten sowie schwer kalkulierbaren Sicherheitsfragen verbunden, die sich nicht angemessen allein über Marktprozesse regeln lassen, sondern einer ethischen Reflexion bedürfen und letztlich politisch im Interesse der gesellschaftlichen Mehrheit entschieden werden müssen.
Die Debatte um Kernenergie wurde in Deutschland 1976 mit dem Konflikt um das geplante und dann wegen massiver Bürgerproteste nie gebaute Atomkraftwerk (AKW) in Wyhl am Kaiserstuhl zum Auslöser der Umweltbewegung sowie Anstoß zu einer technisch-ethischen Auseinandersetzung in Deutschland. Nachdem sich der Streit eine Weile beruhigt hatte – nicht zuletzt weil die Kernenergie im Rahmen der europäischen Liberalisierung der Energiemärkte ökonomisch an Attraktivität verlor –, flammt die Diskussion derzeit angesichts des Klimawandels wieder neu auf. Viele sehen in der Kernenergie den CO2-freien Klimaretter. Nicht selten ist von einer „Renaissance der Kernenergie“ die Rede.
Kurswechsel durch die schwarz-gelbe Koalition
Faktisch erleben wir jedoch lediglich eine Renaissance der Debatte über Kernenergie: Derzeit (Stand März 2009) befinden sich weltweit 436 Kernkraftwerke in Betrieb, 45 im Bau. Seit 2002 nimmt der Anteil der Kernenergie an der Stromversorgung weltweit ab und wird schon aufgrund der langen Planungs- und Bauzeiten in den kommenden Jahrzehnten weiter zurückgehen (vgl. M. Deutsch u.a., Renaissance der Kernenergie? Analyse der Bedingungen für den weltweiten Ausbau der Kernenergie gemäß den Plänen der Nuklearindustrie und den verschiedenen Szenarien der Nuklearagentur der OECD [Studie von prognos i. A. des Bundesamtes für Strahlenschutz], Berlin 2009; auch atw [Internationale Zeitschrift für Kernenergie], 54. Jg. [2009], Heft 4, 248–252.)
Deutschland hat 2002 per Gesetz die „geordnete Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität“ beschlossen. Bei der vorgesehenen Laufzeit von dreißig Kalenderjahren würde dies dazu führen, dass 2010 neun von neunzehn und 2019 alle deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet wären. In Abkehr von diesem Programm spricht sich der Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Bundesregierung für eine Laufzeitverlängerung aus. Die Vereinbarungen sind jedoch kein „Ausstieg aus dem Ausstieg“, sondern lediglich eine an vielfältige Bedingungen geknüpfte Verzögerung: „Das Neubauverbot im Atomgesetz bleibt bestehen.“ Die Endlager AsseII und Morsleben sollen zügig unter Kostenbeteiligung der Betreiber geschlossen werden. Kernenergie wird als „Brückentechnologie“ bis zum Ausbau einer vollständigen Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen bezeichnet. Gewinne aus der Laufzeitverlängerung sollen zum „wesentlichen Teil von der öffentlichen Hand vereinnahmt“ und für die Finanzierung einer „zukunftsfähige(n) und nachhaltige(n) Energieversorgung und -nutzung“ verwendet werden.
Drei ethische Argumente werden für den Kurswechsel angeführt: Klimaschutz, erträgliche Energiepreise und geringere Abhängigkeit vom Ausland. Darüber hinaus beruft sich der Koalitionsvertrag auf die hohen Sicherheitsstandards der bestehenden AKWs sowie auf die Potenziale von Kernfusion als einer „neuen umweltfreundlichen und sicheren Energiequelle“, die durch Forschung zu erschließen sei.
Kernenergie leistet keinen entscheidenden Beitrag zum Klimaschutz. Derzeit stammen weltweit 16 Prozent der Stromerzeugung aus Kernkraftwerken. Um nur ein Zehntel der fossilen Energie zu ersetzen, bräuchte man mindestens 1000 zusätzliche Atomkraftwerke. Kernenergie kann also schon aus quantitativen Gründen keinen entscheidenden Beitrag zur globalen CO2-Reduktion leisten. Darüber hinaus wird häufig übersehen, dass Kernenergie keineswegs CO2-frei ist: In der so genannten Vorkette, bei Urangewinnung, Transport sowie Bau und Rückbau der Kraftwerke fallen nicht unerhebliche Emissionen an.
Es besteht ferner eine negative Korrelation zwischen Kernenergie und Klimawandel: In den Hitzewellen der vergangenen Sommer mussten einige AKWs, aber auch andere große Wärmekraftwerke abgeschaltet werden, weil die Flüsse nicht mehr genug Wasser führten, um die Reaktoren zu kühlen. Mit der drohenden Gletscherschmelze in den Alpen ist vermehrt mit sommerlichem Niedrigwasser zu rechnen. Weltweit führt die Wasserknappheit in Sommermonaten zu einem neuen, unvorhergesehenen Sicherheitsproblem für die Kernkraft.
Kontrovers wird die Reichweite der Uranreserven diskutiert: Die Prognos-Studie von 2009 errechnet eine statistische Reichweite von 50 Jahren. Kritiker solcher Szenarien verweisen jedoch darauf, dass die geschätzte Reichweite schon seit Jahren konstant geblieben sei, solche Schätzungen also nicht zuverlässig seien. Insbesondere werde kaum berücksichtigt, dass steigende Nachfrage beziehungsweise Preise neue Explorationsbemühungen auslösten. Die Kosten für Uran werden wahrscheinlich in den kommenden Jahren ansteigen, da die bisherige Zufuhr von Uran aufgrund der Abrüstung von Atomwaffen 2013 ausläuft und die Uranminen zunehmend geringere Urankonzentrationen aufweisen.
Gute Aussichten für Uranreserven ergeben sich, wenn man von einem Einstieg in die Plutonium-Wirtschaft ausgeht, also auf Schnelle Brüter setzt, die den Atommüll recyceln. So könnten die Uranvorräte besser ausgenutzt und ihre Reichweite gestreckt werden. Schnelle Brüter haben darüber hinaus den erheblichen Vorteil, dass sie mit energiereichen Neutronen den Atommüll entschärfen und der verbleibende Rest „nur“ rund 300 bis 400 Jahre strahlt. Durch Brüter könnte auch Thorium, das beispielsweise in Indien reichlich vorkommt, als neuer Brennstoff genutzt werden. Die Brütertechnik ist jedoch noch nicht so ausgereift, dass sie glaubwürdig als Mittel zum Erreichen der Klimaschutzziele eingeplant werden könnte.
Auch die Fusionsenergie, auf die der Koalitionsvertrag große Hoffnungen setzt, steht auf unsicheren Beinen und birgt die Gefahr, dass sie Mittel von der Forschung und Einführung regenerativer Energietechniken abzieht und damit notwendige nachhaltige Strukturänderungen ausbremst.
Energetische Versorgungssicherheit ist ein hohes gesellschaftliches Gut. Kernenergie leistet hierzu einen Beitrag. Dementsprechend warnt die Deutsche Energie-Agentur (DENA), dass ohne Kernenergie eine Stromlücke von etwa 16 Gigawatt für 2020 zu erwarten sei. Diese Prognose ist aber umstritten. Entscheidend ist erstens, wie sich der Stromverbrauch weiter entwickelt, ob er steigt, wie die DENA annimmt, oder ob er zurückgeht, wie es aus Klimaschutzgründen unerlässlich ist. Zweitens hängt vieles davon ab, wie schnell der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung und der erneuerbaren Energien voranschreitet.
Geht man von der ungünstigen Annahme eines weiter steigenden Strombedarfs aus, dann wird schnell deutlich, dass sich unsere Gesellschaft aufgrund der hohen Abhängigkeit von Energie in eine Versorgungskrise hineinmanövrieren wird. Kernenergie erscheint dann als das kleinere Übel. Man kann diese Dilemmasituation strukturlogisch in vieler Hinsicht mit der gegenwärtigen Finanzkrise vergleichen: Auch hier werden in der politischen Debatte alle Bedenken hinsichtlich Staatsverschuldung und Marktintervention zurückgestellt, weil der Zusammenbruch des Finanzsystems viele Folgeprobleme nach sich zöge, denen wir nicht gewachsen scheinen (vgl. dieses Heft, 16ff.)
Neue Strukturblockaden?
Ähnlich ist die Lage bei der Energie, wenn wir von einer Fortschreibung der bisherigen Entwicklungslogik ausgehen. Die ethisch-politische Aufgabe besteht jedoch auch darin, vorausschauend derartige Dilemmata zu vermeiden. Dazu bedarf es einer Abkehr von bisherigen Wachstumsvorstellungen. Diese sind irrational: Denn in einer begrenzten Welt kann die Wirtschaft nicht endlos weiter wachsen. Trotzdem fällt ein grundlegender Wandel schwer, weil das Wachstumsmodell Sinn stiftende Funktion für die Gesellschaft hat. Energie und Geld sind die beiden Schlüsselfaktoren für einen Entwicklungspfad, der schon heute eher den Umsatz als die Lebensqualität für alle steigert. Eine Transformation unseres Wohlstandsmodells ist die Voraussetzung für nachhaltige Lösungen der Energiefrage.
Das gleichermaßen methodische wie argumentative Problem der Berechnung der Wirtschaftlichkeit alternativer Energieszenarien ist, dass sich deren Rentabilität und Realisierbarkeit erst erschließt, wenn man mit einer anderen Sichtweise an die Sache herangeht, also nicht wie üblich von der Angebotsseite, sondern von der Abnehmerseite her denkt und statt Umsatz und Gewinn die bei den Nutzern erzeugte Wohlstandsfunktion zum Maßstab der Beurteilung erhebt. Es ist ein verbreiteter Fehler, in isolierten Substitutionsschritten zu denken. Das Effizienzsteigerungspotenzial erneuerbarer Energien erschließt sich jedoch häufig erst im Kontext von Synergieeffekten dezentraler Anlagen wie beispielsweise Kraft-Wärme-Kopplung (KWK), sinkendem Infrastrukturbedarf sowie sozioökonomisch positiven Auswirkungen (beispielsweise Impulsfunktion für neue, hochwertige Arbeitsplätze und Exportchancen). Bei systemischer Betrachtung haben erneuerbare Energien große Vorzüge.
Während Kosten für erneuerbare Energien mit der Zeit günstiger werden, werden die Kosten für Atomkraft leicht, für fossil erzeugten Strom stark steigen. Bis Mitte des Jahrhunderts scheint Atomstrom die günstigste Variante, vor allem wenn er mit bereits bestehenden Anlagen erzeugt wird. Die Laufzeitverlängerung für AKWs würde den Betreibern zusätzliche Gewinne in Höhe von täglich ein bis zwei Millionen Euro pro Kraftwerk einbringen. Daher wird darüber diskutiert, welcher Anteil am Zusatzgewinn der Allgemeinheit zugute kommen soll. Das im Koalitionsvertrag formulierte Konzept, die durch die Laufzeitverlängerung geschaffenen finanziellen und zeitlichen Spielräume für den Ausbau erneuerbarer Energie zu nutzen, könnte sich durchaus als ein Sprungbrett für Innovationen erweisen. Es besteht jedoch ebenso die Gefahr, dass die Verlängerung für Strukturblockaden gegen Newcomer im Energiemarkt ausgenutzt wird.
Entscheidend für die Politik ist allerdings die Symbolik: Aufgrund der hohen sachlichen Annäherung in der vorherigen Großen Koalition ist für den Wahlkampf und für die Konstituierung der neuen Koalition ein verstärktes Bedürfnis nach Abgrenzung entstanden. Der Streit um Kernenergie wurde zum Glaubensstreit mit Bekenntnischarakter erhoben. Die Laufzeitverlängerung gibt der Bundesregierung die Chance, die im Energiemarkt etablierten Machtverhältnisse teilweise zu wahren, ohne damit notwendigerweise den Umbau zu blockieren.
Gefahr von militärischem Missbrauch
Die Frage der Kosten der Kernenergie – deren Berechnung zwischen wenigen Cent und zwei Euro pro Kilowattstunde schwankt – ist vor allem eine Frage, wie weit man die vorgelagerten Investitionen für Forschung, die vielschichtigen Kosten für Sicherheit sowie die nachgelagerten Kosten für Entsorgung einberechnet. Diese wurde in der Vergangenheit weitgehend vom Staat getragen, da man die Energieversorgung als öffentliche Aufgabe angesehen hat.
Hinsichtlich der Investition für Forschung und Markteinführung von erneuerbaren Energien und Energiespartechniken ist im letzten Jahrzehnt in Deutschland einiges nachgeholt worden (beispielsweise das weltweit nachgeahmte Gesetz für Erneuerbare Energien). Jedoch von einer mit der Geschichte der Kernenergie gleichrangigen Unterstützung ist Deutschland noch weit entfernt. Bereits heute ist im Hinblick auf die Gerechtigkeit zwischen den unterschiedlichen Energiesystemen eine Erhöhung der Deckungssumme für die Haftpflichtversicherung von Kernkraftwerken auf eine dem möglichen Schaden angemessene Summe ethisch und ökonomisch geboten. Das sollte international durchgesetzt werden, weil von einer Reaktorexplosion auch Nachbarländer betroffen wären. Dieser Vorschlag ist eine freiheitliche Lösung, die den Herstellern und Kunden die Wahlfreiheit lässt, aber die Kosten internalisiert und also diesbezüglich die Wahrheit sagt.
Kernkraftwerke erhöhen nicht unmittelbar die Kriegsgefahr. Aber Terroristen oder Kriegsparteien können AKWs, die meist in Ballungsräumen stehen, zu Angriffszielen machen und damit die Wirkung ihrer Waffen exponenziell steigern. Dieser Aspekt wird in der Öffentlichkeit zur Vermeidung von Angstszenarien kaum zum Thema gemacht. Terroristen und Vertreter totalitärer Regierungen können Uran stehlen und in „schmutzigen“ Bomben mit verheerenden Auswirkungen zum Einsatz bringen. Insbesondere bei Plutonium lässt sich der Brennstoffzyklus nur schwer vollständig kontrollieren.
Politisch sollte man jedoch auch die begrenzte Wirksamkeit eines deutschen Verzichts auf Schnelle Brüter oder Kernenergie insgesamt nüchtern zur Kenntnis nehmen: je unsichererer die Sicherheitslage, desto größer das Interesse vieler Regierungen, über die zivile Kernkraftnutzung zugleich Zugang zum Bau von Atomwaffen zu haben und damit ihr militärisch-politisches Gewicht zu steigern. Verantwortungsethisch kann hier nur die kollektive Bindung an Verzichtsentscheidungen Freiheit sichern. Realpolitisch sind weltweit starke und das heißt sehr kostspielige Kontrollen nötig.
Ein weiteres, ethisch höchst komplexes Sicherheitsproblem ist die Frage der Endlagerung. Die 2008 bekannt gewordenen Probleme mit Wassereinlagerung und Einsturzgefahr im niedersächsischen Zwischenlager AsseII haben das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheitszusagen von Wissenschaftlern, Politikern und Kraftwerkbetreibern tief erschüttert. Die Gefahr, dass Material aus den 1967 bis 1978 in Asse eingelagerten 124000 Fässern mit schwach und mittel radioaktivem Atommüll unkontrolliert ins Grundwasser gelangt, ist nicht gebannt. Die nötigen Sicherheitsmaßnahmen sind kostspielig. Ihr Erfolg ist unsicher. Aus diesen Fehlern müssen die Verantwortlichen unbedingt lernen.
Im Koalitionsvertrag wird als Perspektive für die Lösung der Endlagerproblematik darauf verwiesen, dass der Salzstock Gorleben „ergebnisoffen“ zu erkunden sei. Dieselbe Formulierung findet sich auch in einer Publikation des Deutschen Atomforums, das davon ausgeht, das das Endlagerungsproblem mit Gorleben „technisch gelöst“ sei und der Salzstock wohl 2015 in Betrieb genommen werden könne. Bisher ist dies jedoch lediglich ein unsicheres Versprechen.
Auch im Salzstock Gorleben wurden mögliche Verbindungen zum Grundwasser entdeckt. Angesichts der Zeiträume von Jahrtausenden ist die Behauptung, dass die Sicherheitsprobleme gelöst seien, zumindest voreilig. „Unsere wissenschaftlich-technische Zivilisation ist eine labile und gefährdete Ausnahmeerscheinung auf diesem Planeten. Es ist frivol, in sie für unsere späten Nachkommen Gefahrenquellen einzubauen, die (…) von unseren Nachfahren möglicherweise nicht beherrschbar sein werden (…). Die Endlagerfrage ist bisher ungelöst. Das Endlager muss nicht nur für Jahrtausende resistent sein gegen alle möglichen natürlichen Einwirkungen. Es muss auch für Menschen definitiv unzugänglich sein. Wir kennen in der Geschichte keine Zivilisation von vergleichbarer Dauer. (Robert Spaemann, Nach uns die Kernschmelze, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Oktober 2008).
Kernenergie erfordert ein langfristiges Denken, das in den Entscheidungsabläufen gegenwärtiger Politik und Wirtschaft sowie in den Vorstellungsmodellen unserer Kultur kaum Resonanz findet. Mit unserem gegenwärtigen Energiesystem gründen wir die Entwicklung der Gesellschaft auf den fortschreitenden Verbrauch von Zukunft. Der 1994 im Artikel 20a des deutschen Grundgesetzes ergänzte Grundsatz „Verantwortung gegenüber künftigen Generationen“ vermag bislang kaum politische Wirksamkeit zu entfalten.
Risikomündigkeit angesichts komplexer Wechselwirkungen
Der „Überschuss der kausalen Wirkungsgewalt über das Vorwissen“ erzeugt ein strukturell neues Verantwortungsproblem (Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1984, 20). Verantwortung muss sich in der technologisch geprägten Zivilisation angesichts komplexer Szenarien bewähren. Kennzeichnend für die entscheidungstheoretische Komplexität im Kontext der Kernenergie ist der hohe Grad an Nichtwissen über extrem geringe Wahrscheinlichkeiten und extrem hohe Schadensausmaße. Gängige Modelle von Zurechnung und Prognosen werden durch die kontextabhängigen Wechselwirkungen zwischen Technik und ihrer gesellschaftlichen Einbettung radikal verunsichert. Eine Ethik der Verantwortung gewinnt unter den Bedingungen moderner Technologie die Züge einer Risikoethik.
Risiko ist die entscheidungstheoretische Seite der Komplexität, die gerade bei Kernenergie in hohem Maße gegeben ist. Dabei ist es hilfreich, zwischen unterschiedlichen Risikotypen, die jeweils andere Entscheidungs- und Handlungsstrategien erfordern, zu differenzieren. So sind beispielsweise die Risiken von Kernenergie völlig anders gelagert als bei Grüner Gentechnik: Geht es im einen Fall um ein verheerendes Schadensausmaß bei sehr geringer Wahrscheinlichkeit, verbindet sich im anderen Fall eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit mit sehr geringem Wissen über die systemischen Auswirkungen. Die Verwechslung von Risikotypen führt zu falschen Analysen und unpassenden Handlungsstrategien.
Bezogen auf die Kernenergie sind drei Risikostrategien erforderlich: Risikoorientierte Strategien zielen erstens vor allem darauf, das Schadensausmaß und die Wahrscheinlichkeit des möglichen Ereignisses zu mindern. Hinsichtlich der Kernkraft geht es um die Verbesserung der Sicherheitstechnik. Die Fortschritte sind beachtlich, etwa bei Leichtwasserreaktoren. Doch da eine realistische Ethik stets auch mit menschlichem Versagen rechnen muss, bleibt das Versprechen „inhärenter Sicherheit“ trotz aller technischen Verbesserungen eine Utopie.
Vorsorge zielt zweitens darauf, die Robustheit und Widerstandskraft gegen unangenehme Überraschungen zu erhöhen und sich auf ein Katastrophenmanagement vorzubereiten. Das war 1986 in Tschernobyl höchst unzureichend und ist es bis heute (mangelnde Information der Bevölkerung, Gefahr des Bodendurchbruchs mit kaum absehbaren Folgen für eine mögliche Verseuchung des Grundwassers). Eine andere klassische Form der Vorsorge sind Versicherungen. Sie verhindern zwar den Schadenseintritt nicht, doch sie ermöglichen im Schadensfall einen Neuanfang. In Deutschland ist die Versicherungspflicht der Kernkraftwerke für die Betreiber auf 2,5 Milliarden Euro begrenzt. Aus ethischer Sicht ist dies unangemessen.
Ist die Einschätzung, Bewertung und/oder Betroffenheit von einem Risiko extrem unterschiedlich, was bei Kernkraft zutrifft, sind diskursive Strategien von vorrangiger Bedeutung. Politik muss angesichts bleibender Differenzen ein möglichst transparentes und faires Konfliktmanagement ermöglichen und für eine gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten sorgen. Die extrem unterschiedliche Einschätzung der gesundheitlichen Risiken radioaktiver Strahlung hat methodische Gründe und ist unhintergehbar: Die zulässigen Grenzwerte variierten in der Gesetzgebung um den Faktor 100 und korrelieren in ihrer Entwicklung hauptsächlich mit der Verfeinerung der Messtechnik. Bis heute werden politisch-öffentlich zu definierende Grenzwerte häufig hinter scheinbar objektiv von der Natur vorgegebenen Schwellenwerten versteckt. Strahlenrisiken sind jedoch prinzipiell nicht eindeutig bestimmbar, weil sie von individuell unterschiedlichen Empfindlichkeiten abhängen und weil die Möglichkeit des wiederholbaren Experimentes, das Standardkriterium in den Naturwissenschaften, hier aus ethischen Gründen auszuschließen ist.
Risiken sind immer auch eine abhängige Variable von gesellschaftlichen Wahrnehmungen und Prioritäten. Da Krebserkrankungen nie monokausal verursacht sind und oft erst Jahre oder Jahrzehnte später auftreten, ist der Nachweis eines Ursachenzusammenhangs nicht eindeutig möglich. Deshalb wurden und werden Erkrankungsrisiken oft verdrängt oder – in der Gegenreaktion – angstbesetzt überschätzt. Ein verantwortlicher Umgang mit Strahlenrisiken ist vor diesem Hintergrund nicht ohne einen öffentlichen Diskurs über Risikoakzeptanz möglich.
Christliche Ethik ist nicht mit einer prinzipiellen Risikoscheu gleichzusetzen
In den christlichen Kirchen hat die kritische Betrachtung der Kernenergie eine starke Tradition: So fasste die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November 1987 unter dem Eindruck von Tschernobyl den Beschluss: „Die nicht mit Sicherheit beherrschbaren Gefahren der gegenwärtigen Kernenergiegewinnung haben zu der verbreiteten Einsicht geführt, dass diese Art der Energiegewinnung mit dem biblischen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, nicht vereinbar ist.“ Ethische Stellungnahmen von katholischer Seite beschränken sich mehrheitlich auf die Benennung von Bedingungen für eine verantwortbare Nutzung der Kernenergie und bemühen sich schöpfungstheologisch, den Gestaltungsauftrag nicht hinter dem der „Bewahrung der Schöpfung“ zurücktreten zu lassen.
Was hier als Differenz der Konfessionen erscheint, ist eher eine methodische als eine theologische Frage, zumal die hier maßgebliche Bereitschaft zum Kompromiss in anderen Zusammenhängen – etwa der Bioethik – häufig eher als typisches Merkmal protestantischer Ethik dargestellt wird. Christliche Ethik ist nicht mit einer prinzipiellen Risikoscheu gleichzusetzen. Zumindest für die biblische Tradition sind eher die Option für Entwicklung und das Wagnis des Aufbruchs zu Neuem typisch. Angesichts von Dilemmasituationen, die in der Politik häufig sind, ist die Bereitschaft zum Kompromiss oft der Ernstfall der Ethik. Auch die Folgen des Nichthandelns müssen in die Abwägung einbezogen werden. Dabei kommt den Gefahren, die mit einem kohlebasierten Ausbau der Energieversorgung verbunden sind, hohe Dringlichkeit zu. Das Anliegen, unter den heute veränderten Bedingungen noch einmal neu abzuwägen, ist berechtigt.
Im Mittelpunkt der Bedenken gegenüber der Kernenergie stehen drei ethische Argumente: die Möglichkeit durch technisches oder menschliches Versagen verursachter Katastrophen mit unermesslicher Breiten- und Langzeitwirkung; das ungeklärte Problem der Endlagerung der abgebrannten radioaktiven Brennstäbe; die Gefahr des Missbrauchs von waffenfähigem Uran.
Zugunsten der Kernenergie werden folgende Argumente vorgebracht: Kernenergie sei für die langfristige Versorgungssicherheit und aus Gründen des Klimaschutzes notwendig. Im Hinblick auf die Möglichkeit, das hohe deutsche Sicherheitsniveau zu exportieren, habe Deutschland eine Verpflichtung, in der Kerntechnik zu bleiben. Der Ausstieg aus der Kernenergie sowie die sicherheitstechnisch nicht zwingende Verkürzung der Laufzeiten auf 30 Jahre seien mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden.
Entscheidend ist die Gewichtung der unterschiedlichen Gesichtspunkte. Das Zentralkomitee der Katholiken (ZdK) kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: „Die Gewinnung von Kernenergie ist zwar im Gesamtzyklus emissionsärmer als die Energieerzeugung durch Kohlekraftwerke. Angesichts der Risiken, der ungelösten Problematik der Endlagerung und der Gefahr der Verbreitung von Atomwaffen stellt die Kernenergie jedoch längerfristig keine verantwortungsvolle Möglichkeit dar, die Probleme des Klimawandels zu lösen. Eine Verlängerung der Laufzeiten ist deswegen nicht zu befürworten.“ („Schöpfungsverantwortung wahrnehmen – jetzt handeln“ vom 22. November 2008) Ähnlich die EKD in der Synodenkundgebung „Klimawandel – Wasserwandel – Lebenswandel“ vom 5. November 2008: „Kernenergie ist kein verantwortlicher Beitrag zum Klimaschutz und behindert den notwendigen Umbau der Energieversorgung. Vor allem sind ihre Risiken – insbesondere die nicht geklärte Endlagerung und das hohe Schadenspotenzial – nach wie vor ungelöst.“
Für einen schnellen Ausstieg aus der Kernenergienutzung in Deutschland gibt es starke Argumente, jedoch zugleich unvermeidliche Dilemmata: Man kann im liberalisierten Strommarkt Europas durch eine nationale Beendigung der Kernenergieproduktion nicht ausschließen, dass die Energie von Nachbarländern, wo die Sicherheitsstandards teilweise niedriger sind, gekauft wird. Deutschland würde gleichzeitig auch aus dem hohen Stand und der Weiterentwicklung von Sicherheitstechnik aussteigen. Dennoch kann das keine Entschuldigung zu sein, etwas zu tun, was wir nicht für richtig halten. Risikomündigkeit erfordert in gleicher Weise eine Emanzipation von der bloßen Anpassung an vermeintliche Handlungszwänge wie von der Haltung einer prinzipiellen Risikoscheu, die sich einer umfassenden Abwägung der möglichen Alternativen (einschließlich der Folgen des Nichthandelns) verweigert. Die Bewertung der Kernenergie hängt letztlich davon ab, ob man Wohlstand neu denkt und die ökonomisch-gesellschaftliche Entwicklung rechzeitig daran anpasst.
Die großen Hoffnungen auf Kernenergie sind weitgehend ernüchtert. In der ökonomischen Entwicklung der Menschheit kommt ihr allenfalls der Status einer Brückentechnologie zu. Der Faktor Mensch und die komplexen Bedingungen der politisch-kulturellen Einbettung der Technik machen den theoretisch möglichen Sicherheitsstandards einen Strich durch die Rechnung. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist geboten. Sein Vollzug ist jedoch erst dann ethisch in vollem Maß qualifiziert, wenn er so gestaltet wird, dass er durch den Ausbau von regenerativen Versorgungssystemen und die konsequente Nutzung von Einspar- und Effizienzpotenzialen kompensiert werden kann.
Aufgrund der vorrangigen Dringlichkeit des Klimaproblems darf der Atomausstieg nicht zu einer vermehrten Nutzung von Kohle führen. Er muss zum Einstieg in eine nachhaltige Energieversorgung werden. Wegen der Pfadabhängigkeit von Entwicklungen ist die Gefahr groß, dass die Verlängerung der Laufzeiten für bestehende Kernkraftwerke den notwendigen Umbau des Energiemarktes erschwert. Wenn man die dadurch gewonnen finanziellen Spielräume jedoch tatsächlich für einen Investitionsschub zugunsten eines Umbaus des Energiesystems nutzt und alte Frontstellungen überwindet, dann hat Deutschland hervorragende Chancen, weltweit zu einem Vorreiter einer klimaverträglichen Anpassung des energetischen Stoffwechsels der Gesellschaft zu werden.