Ein Gespräch mit dem britischen Theologen Graham Ward„Theologie der Postsäkularität“

Die zunehmende gesellschaftliche Individualisierung begünstigt den Traditionsabbruch. Was sind da die Aufgaben einer Theologie, die sich bewusst mit der gegenwärtigen Kultur auseinandersetzt, um nicht nostalgisch zu werden? Darüber sprachen wir mit dem britischen Theologen Graham Ward, Dekan der School of Arts, Histories and Cultures der Universität Manchester. Die Fragen stellte Stefan Orth.

HK: Herr Professor Ward, im Vorfeld der jüngsten Papstreise wurde hierzulande immer wieder darauf hingewiesen, dass es in Großbritannien eine weitgehend säkulare Gesellschaft gebe. Wie schwer ist es da, in der Öffentlichkeit über das Thema Religion zu sprechen?

Ward: Großbritannien ist nicht der Vorreiter einer vollständig säkularisierten Kultur, in jedem Fall nicht in dem Sinne, wie sie etwa John Locke propagierte. Historiker haben zwischenzeitlich den nachhaltigen Einfluss der Kirchen unterschiedlicher Couleur auf die Politik im 19. und auch im 20. Jahrhundert nachgewiesen. Allerdings hat sich heute die Art und Weise, religiös zu sein, doch auch verändert, indem sie individueller geworden ist. Weil die römisch-katholische Kirche stärker auf die Institution setzt, ist der Widerstand gegen sie besonders groß. Wie in vielen Teilen der Welt ist Religion jedoch aufs Ganze gesehen eher sichtbarer geworden. Es gibt heute intensivere Beziehungen zwischen Religion und Öffentlichkeit.

HK: Woran lässt sich dieser Wandel des Verhältnisses zur Religion ausgehend von der britischen Gesellschaft festmachen – und wann hat er begonnen?

Ward: Spätestens mit dem 11. September 2001 ist dem Staat und den Kommunen deutlich geworden, dass sie viele Menschen gar nicht mehr so ohne weiteres erreichen – und das, obwohl sie gleichzeitig aus Kostengründen noch weniger vor Ort sein können. Sie haben die Religionsgemeinschaften deshalb verstärkt in ihre Arbeit miteinbezogen, nicht zuletzt mit den muslimischen Gemeinden ist die Kooperation enger geworden. Man traut den Religionsgemeinschaften ethische Ressourcen für soziale Kohärenz zu. Anders als in Frankreich gibt es deshalb kaum Forderungen nach mehr Säkularität. Nur wenige, von einigen Provokateuren abgesehen, bezeichnen sich in Großbritannien als Atheisten.

 „Das intellektuelle Standing der Theologen ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen“

HK: Sie sind Professor an einer staatlichen Universität ohne theologische Fakultät. Was bedeutet es für einen Theologen, der sich intensiv mit Fragestellungen christlicher Dogmatik befasst hat und in einem dezidierten Sinne systematische Theologie betreibt, in einem solchen Umfeld zu arbeiten?

Ward: Die meisten Hochschulen in Großbritannien sind staatliche Einrichtungen und es gibt keine Divinity Schools wie an den großen Universitäten in den USA. Wir betreiben keine Priesterausbildung; das Thema Glaubensverkündigung spielt in dem Sinne keine Rolle. Religion im Allgemeinen und Theologie im Besonderen werden in erster Linie im Rahmen der Kulturwissenschaften behandelt. Aber auch das intellektuelle Standing der Theologen, das es immer gab, ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Als ich vor mehr als zehn Jahren nach Manchester kam und gerade ein Buch mit dem Titel „Radical Orthodoxy“ mitherausgegeben hatte, wies mich der Dekan darauf hin, dass der Titel nicht dem Stil der Fakultät entspreche. Man klammere das Bekenntnis aus der Theologie aus, das Fach werde aus einer dezidiert liberalen Perspektive gelehrt.

HK: Was war Ihre Antwort? Wie ist es überhaupt zu diesem Titel gekommen, der ja international als Schlüsselbegriff für eine neue theologische Bewegung verstanden wurde?

Ward: Ein Verleger bat mich, die Herausgabe einer neuen theologischen Buchreihe zu übernehmen. Ich habe ihm eine vorgeschlagen, in der Theologen wie Stanley Hauerwas, Rowan Williams und jüngere Wissenschaftler schreiben sollten, die mit ihren eigenen Glaubensüberzeugungen nicht hinter dem Berg halten und dezidiert aus dieser Perspektive Theologie treiben. In diesem Sinne stand ich am Beginn von Radical Orthodoxy, aber das Ganze war nie eine Bewegung und sollte es auch nie sein. Der Titel der Reihe „Radical Orthodoxy“ wollte vielmehr provozierend unterstreichen: Es geht um eine persönlich engagierte Theologie, nicht unbedingt um dogmatische Korrektheit. Im Mittelpunkt steht eine neue Sensibilität für diese Zusammenhänge. Die Vorbehalte dagegen sind im vergangenen Jahrzehnt deutlich geringer geworden. Man hat im Rahmen unserer Universitäten immer schon Theologie und Philosophie als eine intellektuelle Übung betrieben. Aber am Ende fragen einen die Studierenden doch, woran man selbst glaubt. Ein konfessorisches Element tritt auf diese Weise auch an der Hochschule zwingend hinzu. Gerade als Lehrer darf man seine eigene Persönlichkeit nicht außen vorhalten, indem man einfach auf Distanz geht.

 „Zum Herzen der Post-Säkularität gehört die Zurückweisung von zu viel Nüchternheit“

HK: Stößt das im interdisziplinären Austausch mit den Kollegen anderer Fächer dann nicht doch hier und da auch auf Vorbehalte?

Ward: Eher das Gegenteil ist der Fall. Auch an jenem größeren Fachbereich, für den ich inzwischen verantwortlich bin, steigt das Interesse am Thema Religion. Es gibt keine Aversionen mehr. Viele andere Disziplinen interessieren sich inzwischen für unsere Themen, nachdem die These eines zwangsläufigen Säkularisierungsprozesses verabschiedet wurde. Nicht zuletzt die Europäischen Wertestudien belegen ja die Offenheit junger Leute für religiöse Fragen. Das Problem ist eher, dass Kollegen wie Studierende über alle Religionen auf einmal etwas lernen wollen. Auf die Frage nach der religiösen Perspektive auf ein bestimmtes Thema kann ich jedoch immer nur die spezifisch christliche anbieten und für die anderen auf jüdische, islamische oder hinduistische Denker verweisen.

HK: Was bedeutet diese Entwicklung für den Kern post-säkularer religiöser Erfahrung, der im Mittelpunkt Ihrer Forschungen steht?

Ward: Es geht heute nicht zwingend um eine Rückkehr zum Glauben. Religion, vor allem die religiöse Mythologie und deren Symbole, wird mehr als Quelle der Kultur wahrgenommen. Man findet diese in Filmen, im Fernsehen, in Büchern wieder. Der phänomenale Erfolg von Harry Potter beispielsweise war deshalb nicht überraschend. Zum Herzen der Post-Säkularität gehört die Wiederverzauberung der Welt und die Zurückweisung von zu viel Nüchternheit. Die Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft und einer positivistischen Grundeinstellung ist gebrochen; es gibt eine neue Offenheit für das Transzendente. Man ist nicht atheistisch, eventuell agnostisch, vor allem aber offen für neue Erfahrungen. Das gibt es durchaus eine Vorliebe für das Entertainment und einen Hang zum Eskapismus. Deshalb werden die Kirchen-, Moschee- und Synagogengemeinden auch nicht einflussreicher, selbst wenn sie wieder stärker im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Letztlich geht es den meisten Menschen um Formen des Glaubens, die keine Zugehörigkeit oder gar Mitgliedschaft mit einschließen. Das ist in gewisser Weise eine neue Etappe der Individualisierung.

HK: Wie lässt sich mit diesen religionssoziologischen Fakten als religiöse Gemeinschaft umgehen? Was können die Kirchen als Institutionen mit ihren vielschichtigen Erfahrungen beitragen?

Ward: Alasdair MacIntyre und die Kommunitaristen haben hier Wichtiges gesagt, was auch unter dem Schlagwort „Radical Orthodoxy“ aufgegriffen wurde. Wir müssen uns wieder der Traditionen und Denksysteme, aus denen wir kommen, stärker bewusst werden, um jenem Hyperindividualismus zu begegnen. Natürlich geht es nicht darum, nostalgisch in die Vergangenheit zu schauen, sondern vielmehr, mit diesem Hintergrund die Zukunft in den Blick zu nehmen.

 „Um unserer selbst willen Traditionen wieder aneignen“

HK: Was folgt daraus für das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft heute?

Ward: Das bedeutet etwa auch einen Widerstand gegen die Entpolitisierung, aufgrund derer man heute mehr ein Konsument als ein Bürger ist. Es ist gerade die Aufgabe der religiösen Institutionen mit ihrer langen Geschichte, den Kräften zu widerstehen, die das Gemeinschaftliche liquidieren wollen. Das bedeutet nicht, prinzipiell die Sozialarbeit leisten zu müssen, für die der Staat nicht mehr bereit ist aufzukommen, obwohl es seine ureigenste Aufgabe ist. Aber zusammen mit den anderen Religionen müssen wir wieder stärker über das Gemeinwohl nachdenken.

HK: Was sind Beispiele für vergessene Traditionen, die angesichts der gegenwärtigen Schwierigkeiten der westlichen Gesellschaften besonders hilfreich sein könnten?

Ward: Ich kann mir keine bessere Ressource für eine ökologische Ethik und eine kirchliche Antwort auf die Umweltkrise vorstellen als die Schöpfungstheologie der östlichen Kirchen. Für die orthodoxe Glaubenslehre ist von zentraler Bedeutung, dass die menschliche Natur vom Pankreator abhängt: Wir sind menschliche Wesen, um im Gottesdienst in den Gesang der Schöpfung einzustimmen. Oder etwa das Thema interreligiöser Dialog: Es ist unsere Aufgabe, die Kirchen an ihre eigenen Traditionen mit Blick auf die Beziehungen zum Islam und zum Judentum zu erinnern. Es gab Jahrhunderte im Mittelalter, in denen wir – trotz gelegentlicher Pogrome und Autodafés – koexistiert haben. In einigen Teilen Europas war dies sogar eine Blütezeit der Kultur. Hier müssen um unserer selbst willen Traditionen wieder angeeignet werden.

 „Wo man sich in ein Ghetto zurückzieht, wird man den Hyperindividualismus nur verschärfen“

HK: Traditionen aber existieren nicht nur als kulturelle Chiffre, sondern setzen eine gelebte Praxis und damit letztlich auch eine Art Zugehörigkeitsgefühl voraus. Wie können die Kirchen als Sachwalter der christlichen Traditionen angesichts der massiven Individualisierungsschübe überhaupt gegensteuern?

Ward: Weitgehend verloren gegangen ist heute, was Friedrich Schleiermacher als Ursprung der Religion angesehen hat: das Gefühl einer schlechthinnigen Abhängigkeit. Der Hyperindividualismus, dessen Steigerung kaum mehr denkbar ist, ist angesichts dieser Bestimmung ein dekadentes Phänomen. Er verkennt, dass die Menschen in großem Umfang aufeinander angewiesen sind. Man verschließt die Augen davor, dass letztlich andere für die eigenen Bedürfnisse aufkommen müssen: wenn etwa die Waren für Billigläden zu einem Bruchteil der hiesigen Kosten auf dem Rücken anderer Menschen in Indonesien oder China hergestellt werden. Diese komplexen Abhängigkeitsverhältnisse werden ausgeblendet. Weil ich aber letztlich nur innerhalb und angesichts der Gemeinschaft erkennen kann, was das Kostbare an der je eigenen Individualität ist, muss dieses Verhältnis neu ausbalanciert werden.

HK: Was ist angesichts dieser gesellschaftlichen Situation genauer die Aufgabe der Theologen, die von mehreren Bezugssystemen mit ganz unterschiedlichen Anforderungen in die Pflicht genommen wird?

Ward: Die entscheidende Frage ist, von woher der Theologe spricht. Eine Extremposition ist der französische Philosoph Jean-Luc Marion, der sich auf eine eng geführte römisch-katholische Tradition beruft und die Theologie par excellence vom bischöflichen Amt her definiert. Die Rolle des Theologen ist jedoch vielmehr, um an dieses Bild anzuknüpfen, eine doppelte: Er steht an der Schwelle des geöffneten Westportals großer Kathedralen. Auf der einen Seite blickt er über den Taufstein und die Kanzel bis hin zum Altar. Aber er schaut auch zur anderen Seite auf die Stadt. Der Theologe muss zuerst die gegenwärtige kulturelle Situation analysieren. In diesem Sinne ist die Theologie auch eine Kulturwissenschaft. Biblisch gesprochen muss sie die Zeichen der Zeit zu lesen und zu verstehen versuchen – und hat dabei die Kirche mit ihrer Tradition im Rücken.

HK: Was ist der gesellschaftliche Auftrag der Theologie, wenn sie sich an den Schnittstellen zwischen Kirche und Gesellschaft bewegt?

Ward: Der Theologe muss da durchaus zwischen beiden Seiten vermitteln. Augustinus hat darauf hingewiesen, dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt sein wird. Gleichzeitig müssen wir uns innerhalb der Zivilgesellschaft für die Menschen und ihre umfassende Entwicklung einsetzen. Das hat viel mit den Werten der christlichen Tradition zu tun: Barmherzigkeit, Vergebung, Gerechtigkeit, Frieden. Die neue politische Theologie von Johann Baptist Metz hatte in den sechziger und siebziger Jahren dagegen protestiert, dass die Kirchen zu stark geistlich orientiert waren und sich nur selten zu politischen Fragen geäußert haben. Das hat sich inzwischen weitgehend geändert: Das Wohlergehen des Menschen ist heute umfassend im Blick, mit Recht. Denn wo man sich in ein Ghetto zurückziehen wollte, um lediglich die Reinerhaltung der eigenen Seele im Blick zu haben, würde man den grassierenden Hyperindividualismus nur verschärfen.

HK: Was sind die neue Herausforderungen, die erst in den vergangenen Jahren aufgetreten sind und mit denen sich die Theologie bisher noch nicht ausreichend beschäftigt hat?

Ward: Gerade als Theologen müssen wir uns intensiver mit dem Wandel der Arbeitswelt beschäftigen. Immer mehr Akademiker müssen sich mit befristeten, unsicheren Jobs durchschlagen. Wir sind im Moment immer noch an der Schwelle zu diesem Umschwung. In Großbritannien sollen in diesem Herbst bis zu 25 Prozent der an den Hochschulen Beschäftigten gekündigt werden. Im öffentlichen Dienst wird es einen starken Arbeitsplatzabbau geben. Aber das entscheidende Thema ist gar nicht die Arbeitslosigkeit, vor allem die Art der Beschäftigung ändert sich und wird auch die Gesellschaft verändern. Was heißt das für die theologische Anthropologie, die oft genug von einem hohen Stellenwert der Arbeit für den Menschen ausgeht? Was bedeutet es, wenn es hier keinerlei Sicherheit mehr gibt?

 „Je mehr wir unseren Körper verstehen, desto besser verstehen wir auch unseren eigenen Glauben“

HK: Und welche Zeichen der Zeit wären mit Blick auf die inneren Seelennöte der Menschen heute von größerer Relevanz als dies bisher wahrgenommen wird?

Ward: In der Postsäkularität müssen wir uns neu damit befassen, was eigentlich religiöse Erfahrung bedeutet. Die Religionsphilosophie vor allem analytischer Spielart hat die religiöse Erfahrung zur Seite geschoben, weil sie ihr als zu subjektiv erschien. In unserer in großem Umfang virtuellen Kultur müssen wir jedoch viel stärker wieder darüber nachdenken, was Glauben und Glaube bedeuten. Das war eine der großen Fragen von Michel de Certeau. Was macht einen Glauben glaubwürdig? Wir müssen besser verstehen und erklären können, warum Leute glauben, was sie glauben. Was ist die Beziehung zwischen einem solchen Glauben und dem Glaubensakt in einem streng christlichen Sinne? Es gibt einen großen Unterschied zwischen Glaube im Sinne von „believing“ und dem Glauben in Sinne von „faith“, was im Deutschen gar nicht so leicht wiederzugeben ist. Entscheidend ist dabei, die Themen Vertrauen und Hingabe in den Blick zu bekommen, nicht zuletzt angesichts der Fragilität von Institutionen heute. Dieser Zusammenhang von religiöser Erfahrung und Glaube muss neu durchdacht werden.

HK: Hier geht es ans Eingemachte der theologischen Traditionen. Kann auch da noch das interdisziplinäre Gespräch mit anderen Wissenschaften an der Universität hilfreich sein?

Ward: Durchaus. Wir haben uns inzwischen vom Poststrukturalismus, der in den neunziger Jahren trendy war, getrennt. Wieder von Neuem stehen unser Emotionen und deren Körperlichkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Beschäftigung mit der Frage, wie sich Gefühle zu unserem Körper verhalten, hat natürlich mit den Entwicklungen der Hirnforschung und der Neurowissenschaften zu tun, die – etwa unter dem Stichwort emotionale Intelligenz – den Zusammenhang von Gehirnaktivität und Gefühlsleben untersuchen. Gefühle sind nicht einfach passive Reaktionen, sondern eine Art und Weise des Körpers, sich auszudrücken und auch aktiv in Kommunikation zu treten. Was bedeutet das für die Frage nach religiösen Erfahrungen? Was folgt daraus für die christliche Vorstellung der Inkarnation, die für uns so zentral ist? Mit diesen Fragen müssen wir uns intensiv auseinandersetzen. Denn je mehr wir verstehen, was es bedeutet, einen genau so ausgestatteten Körper zu haben, desto besser verstehen wir nicht nur unser Menschsein, sondern auch unseren eigenen Glauben.

HK: Sie haben sich eingehend mit postmodernen Denkern und deren theologischer Rezeption auseinandergesetzt. Um die Postmoderne ist es zuletzt ruhig geworden. Was ist von der theologischen Beschäftigung mit ihr geblieben?

Ward: Es gab aus meiner Sicht mehrere Stränge postmoderner Theologie. Der eine interessierte sich mit Mark C. Taylor für eine Fortführung der Gott-ist-tot-Theologie. Der andere verstand sich – etwa bei Jean-Luc Marion und John Milbank – mehr als eine konservative Reaktion auf die Moderne und eine in derem Sinne liberale Theologie. Und dann gab es solche, die von der poststrukturalistischen Theorie her kamen: wie Jean-Yves Lacoste und die anderen französischen Phänomenologen, denen man eine theologische Wende vorgeworfen hat. Die Postmoderne aber ist tatsächlich passé, wir bewegen uns inzwischen in anderen Gewässern. Die Tatsache, dass wir in diesen Fällen am liebsten wieder nur mit der Vorsilbe „Post-“ hantieren wollen, beweist jedoch, dass wir immer noch nicht recht wissen, wohin wir uns bewegen. Wir brauchen noch mehr Abstand, um das besser beurteilen zu können.

 „Wir gehen auf eine Kultur der Entbehrung zu“

HK: Woran ist denn aus Sicht der Theologie das äußerst vielschichtige Phänomen Postmoderne am Ende zu Grunde gegangen?

Ward: Die Postmoderne starb irgendwann zwischen dem 11. September 2001 und der jüngsten Banken- und Finanzkrise. Wir haben die Gefahren konservativen theologischen Denkens gespürt. Viele theologische Bücher müssten heute anders geschrieben werden. Die Polemik gegenüber dem säkularen Denken ist heute so nicht mehr möglich. Es muss wieder mehr um den sozialen Zusammenhalt gehen, der auch in einer multireligiösen Gesellschaft durchaus möglich ist. Wir brauchen vielmehr ein prozessorientiertes Verständnis von Säkularität, dessen Bedeutung jeweils neu zu verhandeln und auszutarieren ist. Jeder Angriff auf die Moderne, der christlichen oder islamischen Fundamentalismus begünstigt, ist heute unmöglicher denn je.

HK: Inwiefern spielt da die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise eine Rolle für den theologischen Diskurs nach der Postmoderne?

Ward: Die jüngste Wirtschaftskrise war insofern der Sargnagel der Postmoderne, als die Krise des Kapitalismus auch eine Krise der gegenwärtigen Konsumkultur bedeutet. Wir gehen eher auf eine Kultur der Entbehrung zu. Die nächste Generation wird ein ganz anderes Verhältnis zum Geld entwickeln und sich noch weitaus stärker postmaterialistisch definieren. Es gibt wichtigere Werte als die Unterhaltung, die für die Postmoderne ein zentrales Feld war. Die Verehrung der Oberflächlichkeit wird enden. Für die neuen Prioritäten, die in einer Kultur der Entbehrung weitaus strenger gesetzt werden müssen, wird man auf Werte zurückgreifen, an die sich die Postmoderne nicht gebunden fühlte. Wohin geht vor diesem Hintergrund die Theologie? Das ist eine echte Frage.

HK: Was könnte denn die Post-Postmoderne für Auswirkungen auf das ebenfalls immer wieder neu auszutarierende Verhältnis von Vernunft und Glaube haben?

Ward: Ich habe eine entsprechende Aufspaltung zwischen Vernunft und Glaube nie akzeptiert, das ist meine katholische Prägung. Meine Hoffnung ist, dass wir die Annahme einer Spaltung zwischen Glaube und Vernunft jetzt endlich überwinden können und verstärkt darüber nachdenken, wie Christen ihren Glauben mit rational zugänglichen Gründen rechtfertigen können. Insofern ist vor allem die Privatisierung der Religion in der Moderne zu überwinden. Der Glaube ist nicht das Andere der Vernunft. Der Glaube ist die Erfüllung der Vernunft wie die göttliche Gnade die Erfüllung der Natur ist. Die entscheidende Frage lautet natürlich, was überhaupt Vernunft ist. Wir bekommen heute ein Gespür dafür, wie viele verschiedene Formen der Rationalität es gibt. In diesem Sinne ist auch die Moderne nicht einfach ein monolithischer Block; weil sie sich in unterschiedlichen Kulturen entwickelt hat, gibt es auch hybride Formen.

HK: Wie muss da die philosophische, vor allem aber auch theologische Auseinandersetzung mit der Gottesfrage im 21. Jahrhundert aussehen?

Ward: Wenn Schleiermacher und seine Definition der Religiosität als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit eine der wichtigsten Ausgangspunkte ist, lautet eine entscheidende Frage, wie seine Phänomenologie religiöser Erfahrung vor dem Hintergrund der neueren neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zu bewerten ist: etwa unser Wissen über vorbewusstes Denken. Was bedeutet das für die Phänomenologie des Glaubens, des Gebets oder der Stille? Es geht nicht um neue Gottesbeweise. Wir müssen uns vielmehr bewusster werden, was so unterschiedliche Denker wie Thomas von Aquin, Hegel und Schleiermacher bereits wussten: dass wir nur schwerlich von Gott als Gott handeln können, sondern über Gott nur als einen Teil menschlicher Erfahrung reden.

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