Es ist kein absolutes Novum und doch ein ungewöhnlicher Schritt. Benedikt XVI. beantwortet in einem in Buchform vorliegenden Interview ausführlich Fragen des Journalisten Peter Seewald zur gegenwärtigen Situation der katholischen Kirche: zum bisherigen Verlauf seines Pontifikats, vor allem zu aktuellen kirchenpolitischen Fragen, aber auch zu Fragen des Glaubens in einer sich wandelnden Gesellschaft (Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit, Verlag Herder, Freiburg 2010). Die dafür notwendigen Gespräche fanden Ende Juli in Castel Gandolfo statt.
Schon sein Vorgänger hatte Interviewbände veröffentlicht, in denen schriftlich eingereichte Fragen beantwortet wurden. Benedikt XVI. setzt mit dem rund 200 Seiten starken Gespräch die Reihe der bisher als Präfekt der Glaubenskongregation mit Peter Seewald geführten fort (Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche im 21. Jahrhundert, München 1996; Gott und Welt. Die Geheimnisse des christlichen Glaubens, München 2000), nachdem er bereits 1984 Vittorio Messori Rede und Antwort stand (Zur Lage des Glaubens, München 1985).
In den Spuren des Vorgängers
Im neuen Interviewbuch, das Ende November unter Federführung der Libreria Editrice Vaticana zeitgleich in acht Sprachen erschienen ist, gibt es durchaus einzelne Fragen, die Seewald schon in vorherigen Bänden gestellt hatte und in diesem Jahr nicht wesentlich anders beantwortet werden – wobei diese Antworten aufgrund des neuen Amtes jetzt ein anderes Gewicht haben. Es ist dabei insgesamt zu spüren, dass dem Papst an vorsichtigen Formulierungen gelegen ist. Das hindert Benedikt XVI. nicht daran, auch einige Spitzen zu setzen, etwa Theologen, die sich kritisch zu einzelnen seiner Amtshandlungen geäußert haben, des „Unsinns“ zu bezichtigen.
Ausdrücklich präsentiert sich der Papst als jemand, der dieses Amt nicht angestrebt hat, sich aber gleichwohl nicht vor der Aufgabe drücken möchte. Er macht wie bei anderen Anlässen keinen Hehl daraus, dass er am liebsten einfach selbst Theologieprofessor geblieben wäre und räumt ein, dass dies durchaus zu Spannungen mit dem jetzigen Amt führt. Explizit heißt es mit Blick auf die Proteste nach der Regensburger Rede mit dem viel diskutierten islamkritischen Zitat, er habe die Rede „als streng akademische Rede“ konzipiert, ohne sich bewusst zu sein, dass man eine Papstrede nicht akademisch, sondern auch politisch lese. Eitelkeit oder ein unkritisches Verhältnis zu sich selbst kann man dem Papst hier und an anderen Stellen jedenfalls nicht vorwerfen.
Benedikt XVI. sieht sich auch im sechsten Jahr seines Pontifikats in den Spuren, ja sogar im Schatten seines Vorgängers Johannes Paul II.; es müsse neben den großen Päpsten auch kleine geben dürfen. Schlagzeilenträchtig ist in diesem Zusammenhang seine Aussage, dass ein Papst zurücktreten könne, wenn er sich physisch, psychisch und geistig nicht mehr in der Lage sehen würde, das Amt weiterhin auszuüben – unter Umständen habe er auch die Pflicht dazu. Im Grunde sei das Amt für einen 83-Jährigen eine Überforderung, räumt der Papst an einer Stelle sogar freimütig ein.
Ebenfalls rekapituliert werden die Empfindungen am Ende des vergangenen Konklaves; der Papst erzählt von seinem Arbeitsalltag und man erfährt ein wenig über die Päpstliche Familie und ihre Mediennutzung („Don Camillo und Peppone“), einschließlich aller Bemühungen, trotz des Sonderstatus in diesem Amt nicht den Realitätsbezug zu verlieren. Die vielen regelmäßigen Gespräche mit Bischöfen aus aller Welt, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, seien hier hilfreich.
Die erfrischend direkten Fragen sind gelegentlich schärfer als die Antworten
Mit einer Mehrzahl von Fragen zum gegenwärtigen kirchlichen Leben knüpft der Band mehr an „Salz der Erde“ als an „Gott und die Welt“ an, in dem vor allem die Erläuterung von Glaubenswahrheiten im Vordergrund standen. Wie schon in „Salz der Erde“ fallen die erfrischend direkten, gelegentlich etwas langen Fragen in manchen Fällen schärfer als die Antworten aus, nachdem Seewald schon im Vorwort eine „gottferne, gottlose Gesellschaft“ beklagt. Der Papst ist demgegenüber in seinen Antworten immer wieder um Differenzierungen bemüht, besonders angesichts der bleibenden Bedeutung der historisch-kritischen Exegese. Um deren Rolle geht es ausführlich in den Fragen und Antworten zum Jesus-Buch des Papstes, dessen zweiter Band zu den Themen Passion und Auferstehung jetzt für März kommenden Jahres angekündigt ist, während der Autor bereits begonnen hat, an einem weiteren über die Kindheitsgeschichten zu arbeiten.
Das Verhältnis des Christentums zu den moralischen Werten der Moderne
Das Kapitel Gesellschaftskritik, bei der die ökologischen Krisenphänomene besonders hervorgehoben werden, wird dagegen unter dem Strich vergleichsweise knapp abgehandelt. Natürlich stellt der Papst abermals heraus, dass die Kirche oft genug als einzige Antworten auf die beklagte Sinnleere heutiger Gesellschaften anbieten könne. Auch die Sorge, dass im Namen einer „neuen Religion“ der unbedingten Toleranz der christliche Glaube bedroht sei, wird unter der Überschrift „Diktatur des Relativismus“ zum Ausdruck gebracht.
Mit Blick auf die Moderne argumentiert Benedikt XVI. jetzt allerdings moderater, als es ihm manche Kritiker zugestehen. So hebt er hervor, dass die Moderne „ja nicht nur aus Negativem aufgebaut“ sei, sie trage „große moralische Werte in sich“. Ausdrücklich ist davon die Rede, dass das Christentum nicht zu einer Art archaischen Schicht „gewissermaßen neben der Modernität“ werden dürfe. Einen schweren Stand in der Diskussion muss man allerdings der damit verknüpften Überzeugung prophezeien, dass es das Christentum gewesen sei, dass die moralischen Werte der Moderne in das Bewusstsein der Menschheit gerückt habe. Angesichts der Debatte um die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität, die das Zweite Vatikanische Konzil für die katholische Lehrentwicklung bedeutet, sticht dann jedoch wieder ins Auge, dass der Papst davon spricht, dass damals die Aufgabe darin bestanden habe, das Verhältnis der Kirche und des Glaubens zur Neuzeit „neu zu definieren“.
Im Einzelnen finden sich in dem Band eine ganze Reihe von Aussagen, in denen zu klassischen innerkirchlichen Streitfragen die bekannten Positionen wiederholt werden. Vielfach können die Antworten angesichts der Fülle der Themen auch nur recht knapp ausfallen. Das gilt etwa mit Blick auf das Priestertum der Frau: Das zu fordern, sei allein deshalb obsolet, weil Jesus angesichts der vielen Priesterinnen in allen anderen Religionen seiner Zeit andere Akzente hätte setzen müssen, wenn es hier Spielraum bei der Interpretation seines Willens gäbe. Ansonsten wäre die Kirche ein „Willkürregime“. Der Vorwurf der Diskriminierung sei deshalb schon hinfällig, weil das Priestertum nicht Herrschaft, sondern Dienst sei. Was Joseph Ratzinger als Kardinal seinerzeit in „Gott und die Welt“ über die Aufgabe des Papstamtes als Garant einer geschenkten und deshalb unverfügbaren Wahrheit sagte, steht jetzt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit hier wie auch bei anderen Themen in diesem Gesprächsband im Hintergrund.
Entschieden macht der Papst auch darauf aufmerksam, dass Homosexualität nicht mit dem Priesterberuf vereinbar sei. Bei Leuten, die ohnehin nicht heiraten mögen, hätte „ja auch der Zölibat als Verzicht keinen Sinn“. Hier müsse größte Aufmerksamkeit walten, damit nicht am Schluss „die Ehelosigkeit der Priester sozusagen mit der Tendenz zur Homosexualität identifiziert würde“.
Mit Blick auf die protestantischen Kirchen erwartet Benedikt XVI. auf absehbare Zeit keine entscheidenden ökumenischen Entwicklungen; ein drittes Konzil ist einstweilen ebenfalls nicht in Sicht. Und auch der deutsche Laienkatholizismus, einschließlich aller „Berufskatholiken“, wird die Nadelstiche erwartet haben. Besonders vernichtend und schärfer noch als in „Salz der Erde“ fallen einige knappe Zeilen zum Religionsunterricht aus, in denen der Papst es als unbegreiflich bezeichnet, dass nach neun bis dreizehn Jahren Religionsunterricht „so wenig hängen bleibt“.
Ausgleichender argumentiert der Papst vor allem angesichts verschiedener Aspekte der katholischen Sexualmoral. So unterstreicht er – wie schon in der Enzyklika „Deus caritas est“ (2005), aber auch in den Vorgängerbänden – erst einmal grundsätzlich, dass die Sexualität gute Gabe Gottes ist und räumt hinsichtlich der Enzyklika Pauls VI. „Humanae vitae“ durchaus Spannungen ein: „Die Perspektiven von ,Humanae vitae‘ bleiben richtig. Nun aber wiederum Wege der Lebbarkeit zu finden, ist etwas anderes“, heißt es ausdrücklich.
Auseinandersetzung mit der Kritik an Äußerungen zum Thema Aids
Vergleichsweise ausführlich beschäftigt sich der Papst in diesem Zusammenhang mit der Kritik an seinen Äußerungen zum Thema Aids zu Beginn seiner Afrikareise im März 2009 und stellt noch einmal heraus, dass es ihm darum gehe, die Problematik nicht auf die „K-Frage“ zu reduzieren. Auf die konkrete Nachfrage, ob dies bedeutete, dass die katholische Kirche gar nicht grundsätzlich gegen die Verwendung von Kondomen sei, antwortet der Papst schließlich: „Sie sieht sie natürlich nicht als wirkliche und moralische Lösung an. Im einen oder anderen Fall kann es in der Absicht, Ansteckungsgefahr zu verringern, jedoch ein erster Schritt sein auf dem Weg zu einer anders gelebten, menschlicheren Sexualität“.
Eine vage Offenheit kann man ferner aus den Zeilen über die so genannten wiederverheiraten Geschiedenen herauslesen, wenn der Papst vom Ringen darum spricht, das Sakrament mit den „herkömmlichen Weisen des Zusammenlebens“ in Ausgleich bringen zu sollen. Es müsse darum gehen, „das Schwierige als Maßstab zu erhalten, an dem die Menschen sich immer wieder messen können“.
Die vergangenen beiden Jahre des Pontifikats werden ausführlich kommentiert
Auf große Aufmerksamkeit werden hierzulande auch die Äußerungen zum deutschen Kirchensteuersystem stoßen. Zwischen den Organen des Heiligen Stuhls und der Deutschen Bischofskonferenz gebe es einen „nützlichen Disput“, dem der Papst nicht vorgreifen wolle. In der Sache betont Benedikt XVI. vor allem, dass die Kirche auch konkret verfasst sein müsse, äußere Rechtsformen brauche und von ihren Mitgliedern Unterstützung verlangen könne.
Spätestens in den vergangenen beiden Jahren, so der Interviewer gegenüber dem Papst, sei die auch in Deutschland zwischenzeitlich positivere Sicht des Amtes im Allgemeinen wie seiner Person im Besonderen wieder gekippt. Die Kommentierung dieser Phase des Pontifikats durch Benedikt XVI. selbst, die im vorliegenden Band viel Raum einnimmt, wird deshalb bei der Rezeption umso mehr Beachtung finden.
In der Diskussion um die neuen Karfreitagsbitten für den außerordentlichen Ritus macht der Papst wie schon in „Gott und Welt“ die eschatologische Dimension der Frage stark, formuliert aber die mögliche Bedeutung Christi für die Juden zurückhaltender. Auf die Aufhebung der Exkommunikation der Piusbrüder angesprochen, hält er kurz und knapp fest, dass mit der Anerkennung des Papstes als Oberhaupt der katholischen Kirche durch diese vier Bischöfe der Widerruf des Rechtsaktes von vor mehr als 20 Jahren zwingend war, weil dessen Voraussetzungen obsolet geworden seien. Es habe allerdings die Pressearbeit des Vatikans „versagt“, weil man dies besser hätte erklären müssen. Ähnlich vernichtend sind die Äußerungen über die Kurie und ihre Verantwortung für die Tatsache, dass zu diesen Bischöfen auch Richard Williamson gehört, dessen Vita man mit Hilfe des Internets besser hätte recherchieren müssen.
Besonders breit geht es schließlich in dem Band um den Skandal sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch Priester und Ordensleute, angesichts dessen Benedikt XVI. noch einmal seine Scham äußert und auf eine entschiedene Aufklärung drängt – nachdem er, im Verlauf des Interviews eher unglücklich, zuerst die „Beschmutzung“ des Priesteramtes durch die Vorfälle bedauert hat. Durch die Arbeit für die Glaubenskongregation war der Papst mit der Thematik durchaus vertraut, zeigt sich aber dennoch besonders mit Blick auf Deutschland von den Ausmaßen überrascht. Vielleicht ist das auch der Fall, weil er anders als die Expertenmeinung davon ausgeht, dass die Missbrauchstäter in erster Linie Pädophile seien.
Ein Grund für die Vorfälle sei darin zu sehen, dass nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil anstelle einer „strafenden“ die „liebende Kirche“ herausgestellt worden sei, man sich deshalb aber auch nicht mehr getraut habe, das kirchliche Strafrecht anzuwenden. Entschieden jedoch hält der Papst der Kritik an einem „Propagandakrieg“ (Seewald) gegen die Kirche entgegen: „Soweit es Wahrheit ist, müssen wir für jede Aufklärung dankbar sein (…) Nur weil in der Kirche das Böse war, konnte es von anderen gegen sie ausgespielt werden“. Dezidiert ist auch davon die Rede, dass die „schrecklichen Enthüllungen doch auch ein Akt der Vorsehung (seien), der uns demütigt, der uns zwingt, wieder neu anzufangen“.
Der Papst schätzt seine eigenen Möglichkeiten
eher gering ein
Mancher mag sich fragen, ob es überhaupt statthaft ist, dass ein Papst Interviews gibt, zumal wenn er seine eigene Arbeit, aber auch die der Kurie kommentiert. In dieser Hinsicht ist der Band durchaus eine Premiere in der Kirchengeschichte. Zum Tenor des Bandes gehört es, dass der Papst – kontrafaktisch zu seinem kirchenrechtlichen Status – seine eigenen Möglichkeiten freilich eher gering einschätzt. In gewissem Sinne sei der Papst „ein ganz ohnmächtiger Mensch“; er habe „nicht die Macht, etwas zu erzwingen“. Ausdrücklich weist er auch auf die streng begrenzten Fälle unfehlbarer Äußerungen hin.
Es ist dennoch zu vermuten, dass angesichts einer großen Fülle von Einschätzungen zu aktuellen Fragen der eine oder andere in den kommenden Monaten und Jahren versuchen wird, eigene kirchenpolitische Interessen besser durchsetzen zu können, indem man sie unter Verweis auf die Äußerungen Benedikts XVI. in „Licht der Welt“ mit der Aura päpstlicher Unfehlbarkeit ausstattet.
Angesichts der erneut bestärkten Kritiker an „selbstgebastelten“ Liturgien, denen die Verwendung von Antoine St. Exupéry in Gottesdiensten zum Sinnbild der Verirrung geworden ist, bleibt es da freilich nicht ohne Ironie, dass der Papst zur Erläuterung seiner Überzeugung, dass das Einfache das Wahre und das Wahre das Einfache ist, den „Kleinen Prinzen“ zitiert.