HK: Herr Stückl, seit den letzten Passionsspielen in Oberammergau sind zehn Jahre vergangen. Ihre Inszenierung im Jahr 2000 basierte auf einer wesentlichen Überarbeitung des traditionellen Textes. Musste die Vorlage für das Passionsspiel in diesem Jahr erneut bearbeitet werden?
Stückl: Ich mache das jetzt schon zum dritten Mal. Eigentlich dachte ich diesmal, zusammen mit dem Dramaturgen Otto Huber in vier Monaten über die Textfassung gehen zu können. Das hat dann alles viel länger gedauert, insgesamt ein ganzes Jahr. Das Problem des Passionsspiels ist doch, dass eigentlich nur die Leidensgeschichte erzählt wird. Dabei kann man Jesus nicht nur auf den Leidenden reduzieren und sich ganz an einzelnen Sätzen orientieren wie jenem vom Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird und seinen Mund nicht öffnet. Das ist doch nicht das Entscheidende. Jesus hat mehr zu sagen, als dass er ans Kreuz genagelt wurde.
HK: Was bedeutet das für die Art und Weise, wie die Passion 2010 erzählt werden wird? Was lässt sich angesichts der Vorgaben der vier Passionserzählungen im Neuen Testament überhaupt am Aufbau des Stücks verändern?
Stückl: Tatsächlich bin ich ja nicht einfach Schriftsteller, sondern ein Theaterregisseur, der seinen eigenen Spieltext bearbeitet – wobei sich immer die Frage stellt, wie weit man ganze Teile noch einmal ganz umstellen und umbauen kann. Es findet sich in der gesamten Literatur kein Passionstext, der von einem großen Autor geschrieben worden wäre. Bei uns in Oberammergau gibt es die Basis des Textes von Joseph Alois Daisenberger, einem Pfarrer aus dem 19. Jahrhundert. Das Verrückte ist nun, dass man Jesus-Worte nicht einfach erfinden kann, einmal ganz abgesehen davon, dass auch die katholische und die evangelische Kirche mitreden.
HK: Was konnten Sie angesichts dieser Konstellation konkret am Stück verändern?
Stückl: Ich habe die ganze erste Szene völlig neu geschrieben: Da wird nichts mehr so sein wie im letzten Passionsspiel. Vor dem Einzug in Jerusalem wird die Jesus-Figur mit Texten aus der Bergpredigt, aber auch mit den Wehe-Rufen gegenüber den Priestern und Schriftgelehrten aus dem Matthäus-Evangelium erst einmal vorgestellt. Auch andere wichtige Zitate wie „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, werden vorkommen. Jesus wird auf diese Weise erst einmal sehr viel Raum eingeräumt. Da gibt es eine ganze Reihe neuer Texte.
HK: Verändern sich durch eine Umarbeitung der Jesus-Figur nicht auch zwangsläufig die Rollen aller anderen Personen im Stück?
Stückl: Natürlich geht es in diesem Zusammenhang auch um die anderen Figuren. Pilatus ist in der Bibel mehr oder weniger derjenige, der seine Hände in Unschuld wäscht. Er war aber historisch gesehen eine ziemlich eigenartige Persönlichkeit: Gleich bei seiner Ankunft in Jerusalem hat er erst einmal die Standbilder des Kaisers aufstellen lassen. Nachdem er den Tempelschatz ausgeraubt hat, ließ er Hunderte von Juden hinmorden. Für Pilatus waren Kreuzigungen ein alltägliches Geschäft. Nicht umsonst bestand seine Anklage gegenüber Jesus darin, dass er sich zum politischen König mache – was ja gar nicht dessen Absicht war. Das Passionsspiel hat Pilatus bisher jedoch auf eine Figur reduziert, die nur einmal, bei der Verurteilung, vorkommt. Dass Pilatus ein ziemlich gewalttätiger Herrscher in Israel gewesen ist und die Menschen unter ihm gelitten haben, ist allerdings gerade der Hintergrund für Jesu Gebot der Feindesliebe. Pilatus wird deshalb früher ins Spiel kommen, schon beim Einzug Jesu in Jerusalem dabei sein und auch eine zusätzliche Szene erhalten. Vor diesem Hintergrund wandelt sich auch die Rolle des Kaiphas, der warnt, es sei besser, dass ein Mensch sterbe als dass das Volk zu Grunde gehe. Vor jenem Hintergrund kann man diesen Satz auf einmal besser nachvollziehen.
HK: Ist das auch ein Versuch, auf die Antijudaismus-Vorwürfe gegenüber dem Passionsspiel zu reagieren, die selbst nach den deutlichen Verbesserungen vor zehn Jahren nicht ganz verstummt sind? Wie gehen Sie mit diesen Anfragen um?
Stückl: Man muss hier die geschichtlichen Entwicklungen sehen. 1934 wurde das Passionsspiel von Adolf Hitler für „reichswichtig“ erklärt. Im selben Jahr hat Kardinal Michael von Faulhaber dem Passionsspiel die Missio canonica erteilt. 1966 hat Kardinal Julius Döpfner mit Verweis auf die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra aetate dazu aufgefordert, das Spiel zu überarbeiten, um den Diskussionen nach der Shoa gerecht zu werden. Die Oberammergauer haben sich zuerst einmal gewehrt, haben die Anfragen nicht recht verstanden und blieben stur, bis Döpfner ihnen dann die Missio canonica entzogen hat. 1970 kam ein amerikanischer Boykott dazu und die Gäste blieben aus. Da hat sich in den siebziger Jahren einiges getan – wenn auch die Konservativen erst einmal die Oberhand behalten haben. Als ich 1990 dann das erste Mal die Passionsspiele inszeniert habe, war es angesichts dieser Geschichte ein Vorteil, dass ich so jung und so weit weg vom Dritten Reich war und deshalb etwas offener mit dem Thema umgehen konnte.
„Keine Christen-gegen-Juden-Geschichte, sondern eine inner-jüdische Geschichte“
HK: Welcher Zugang zu der in Teilen höchst problematischen Wirkungsgeschichte der neutestamentlichen Texte war und ist da für Sie besonders hilfreich?
Stückl: Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, lag bei uns ein Prospekt der Anti-Defamation-League und des Jewish Committee auf dem Tisch. Als ich meinen Großvater gefragt habe, was eigentlich Antijudaismus sei, habe ich sofort gemerkt, dass er dieses Thema nicht mag. Umso mehr hat es mich interessiert. Früh schon bin ich auch nach Israel gefahren. Ich habe dann 1990 den Vorschlag gemacht, der von Kardinal Friedrich Wetter sehr stark unterstützt worden ist, dass wir nicht mehr wie in der Vergangenheit mit den Darstellern Besinnungs- und Einkehrtage in Oberammergau machen, sondern nach Israel fahren. Das haben wir dieses Mal zum dritten Mal gemacht.
HK: Was ist das Ziel bei dieser vergleichsweise aufwändigen Reise und welche Erfahrungen beim Besuch der biblischen Stätten sind Ihnen wichtig geworden?
Stückl: Die Erfahrungen vor Ort sind ganz wichtig, um diese Geschichte spielen zu können: um zu begreifen, dass wir keine Christen-gegen-Juden-Geschichte, sondern eine inner-jüdische Geschichte spielen. Das Missverständnis ist kein Wunder, wenn es im Johannes-Evangelium immer heißt „die Juden“, als ob Jesus kein Jude gewesen wäre. Er war es aber vom ersten Moment seines Lebens an. Er ist beschnitten worden und hat mit zwölf Jahren im Tempel bestimmt keine Erstkommunion gefeiert. Wir fangen dieses Mal auch das Abendmahl ganz anders an: Wie beim Pessach-Fest wird der Jüngste das Pessach-Licht entzünden und die Feier mit hebräischen Worten eröffnen. Am Kreuz betet Jesus den 22. Psalm und ist so bis zum Lebensende gläubiger Jude. Das den Zuschauern zu vermitteln, auch den Darstellern, ist immer noch eine wichtige Aufgabe. Es muss ganz klar werden, dass Jesus vom Denken und Fühlen her Jude war.
HK: Nach den Boykottforderungen jüdischer Organisationen in den siebziger Jahren ist man in Oberammergau stets im Vorfeld mit diesen im Gespräch. Wie intensiv war dieses Mal die Beratung durch jüdische Partner? Wie waren die ersten Reaktionen auf die neue Vorlage?
Stückl: Der Text wurde im vergangenen Herbst in die USA geschickt und dort übersetzt. Die Anti-Defamation-League und das Jewish Committee haben den Text im Oktober fast vollständig lesen können und sind dann zu uns gekommen, um ihn mit uns zu diskutieren. Sie halten sich bisher noch bedeckt. Für sie ist immer noch nicht genug getan, das ist klar. Letztlich ist das Thema Antijudaismus bei Passionsspielen immer ein Thema. Das wird auch in Zukunft in Oberammergau so sein, weil der Grundkonflikt bestehen bleiben wird.
HK: Worin genau besteht denn die grundsätzliche Differenz der christlichen und der jüdischen Betrachtung eines Passionsspiels?
Stückl: Sie entsteht in dem Moment, wenn vom Gottessohn die Rede ist. Auch wenn ich nicht von einem jungen Mann verlangen kann, als Darsteller zugleich den wahren Menschen und den wahren Gott zu spielen, ist Jesus für Christen der Sohn Gottes und für die Juden im Höchstfall ein Prophet. Das ist schon ein Konfliktpotenzial, weil der Vorwurf des Gottesmordes unterschwellig bereits enthalten ist. Mir war deshalb sehr daran gelegen, auch an den anderen Figuren weiter zu arbeiten. Im Hohen Rat habe ich die Fraktion der Fürsprecher Jesu gestärkt. Joseph von Arimathäa, Nikodemus und Gamaliel, den man aus der Apostelgeschichte kennt, werden stärker in Szene gesetzt. Im Matthäus-Evangelium steht nur ein Satz über den Hohen Rat. Aber man darf nicht unterschätzen, was es für einen Mann wie Joseph von Arimathäa hieß zu sagen, Jesus werde in seinem Familiengrab bestattet. Er und Nikodemus gelten heute gerne als bereits konvertierte Christen, was sie aber sicher nicht waren. Besonders wichtig ist schließlich die Neuakzentuierung des Judas.
HK: Obwohl Judas im Grunde nur eine Art Nebenrolle spielt, steht er bei Bearbeitungen des Jesus-Stoffes immer wieder im Mittelpunkt des Interesses. Was kennzeichnet den Oberammergauer Judas 2010?
Stückl: Die Exegeten gehen heute davon aus, dass Judas einer aus dem Kreis der Sikarier oder der Zeloten war – wie ja auch Simon der Zelot. Jesus hat sich also auch mit solchen Typen umgeben, die wahrscheinlich einen bewaffneten Kampf gegen Rom wollten und in Jesus eine Phönix-Gestalt gesehen haben. Immerhin ist der Messias aus jüdischer Sicht jemand, der sich auf den Thron Davids setzen, das Land befrieden und Herrscher über Israel sein soll. Im diesjährigen Passionsspiel glaubt Judas an diesen Jesus und versucht in Bethanien, Jesus davon abzubringen, nicht zu kämpfen und sich lieber geißeln zu lassen. Damit wird der Akzent ganz anders gesetzt. Die 30 Silberlinge, die trotzdem vorkommen, spielen keine wesentliche Rolle mehr. Aber sobald man natürlich Judas auf eine andere Ebene hebt und seine Schuld damit relativiert, ist Kaiphas sofort wieder die schwierigere Person ...
„Kaum einer macht sich bewusst, was das für eine grausame Todesart war“
HK: Ergeben sich hieraus die Vorbehalte der jüdischen Gesprächspartner?
Stückl: Die jüdischen Organisationen wollen die Schuld ganz auf den Pilatus abwälzen. Jesus hat sicherlich gewusst, was von ihm politisch gewollt wurde. Aber ihm geht es nicht um das Politische, sondern um das Gottesreich. Es handelt sich eben um einen innerjüdischen religiösen Konflikt, in dem Jesus sich in erster Linie mit den Priestern und Schriftgelehrten auseinandersetzt. Das kann man nicht einfach umdrehen. Allerdings ist es natürlich ein ganz wichtiger Punkt, dass das Passionsspiel in keinster Weise dazu beitragen soll, irgendwelche antijüdischen Tendenzen zu befördern.
HK: Inwieweit wurde bei der diesjährigen Überarbeitung Kritik an der Bedeutung der Frauen innerhalb des Oberammergauer Passionsspiels berücksichtigt?
Stückl: Wir haben die Texte noch einmal genau durchgesehen, aber bei Maria und bei Magdalena gibt es nicht viel Spielraum. Das Problem ist doch eher, dass im Markusevangelium von einem großen Konflikt Jesu mit seiner Verwandtschaft und vor allem mit seiner Mutter berichtet wird. Da würde man das Marienbild vieler zerstören, wenn man dies weiter ausbreiten wollte. Hier gibt es große Empfindlichkeiten, die zum Teil ganz schön krude sind. Als ich 1990 die erste verheiratete Frau zur Maria gemacht habe, gab es aus ganz Deutschland empörte Briefe. Nie hat jemand etwas dagegen gehabt, dass die Jesus-Darsteller verheiratet sind oder eine Freundin haben. Bei Maria legt man dann so komische Maßstäbe an, als ob die Darstellerin Jungfrau sein müsse.
HK: Der Film „The Passion“ des US-amerikanischen Regisseurs Mel Gibson aus dem Jahr 2004 war sicherlich die wirkmächtigste Bearbeitung der Jesus-Geschichte seit den letzten Passionsspielen. Inwieweit haben der Film und die Diskussionen über ihn, etwa über seine Brutalität, Einfluss auf die Neuinszenierung ausgeübt?
Stückl: Ich mag den Film nicht, habe mich aber eingehend mit ihm beschäftigt. Das Problem ist für mich dabei nicht die Gewaltdarstellung gewesen. Der Kreuzigungstod war brutal – und man darf ihn im Film deshalb auch so inszenieren, wenn man das will. Auf einer Bühne kann man keine 19-minütige Geißelung zeigen. Aber ich habe schon bei den Passionsspielen im Jahr 2000 die Geißelung und die Kreuzigung größer und härter dargestellt. Bei vielen hängt der Jesus im Herrgottswinkel, aber kaum einer macht sich bewusst, was das eigentlich für eine grausame Todesart war. Wie grausam man den Tod darstellen muss, darüber kann und muss man dann streiten. Das hat mich am Film am wenigsten irritiert.
HK: Wo liegt dann das Problem des Films, dem nach Aussagen seines Regisseurs vor allem daran lag, die bezeugten Geschehnisse möglichst wirklichkeitsnah abzubilden?
Stückl: Bei Mel Gibson haben mich vor allem die Rückblendungen genervt, wenn etwa Jesus als Tischler gezeigt wird – ohne dass dadurch deutlicher würde, warum er gekreuzigt worden ist. Wie viel hat Mel Gibson eigentlich von der Gestalt Jesu wirklich begriffen? Die Theologie des Filmes hat mich nicht überzeugt. Eine Frau hat mir gegenüber in einer Diskussion an der Münchener Katholischen Akademie gesagt, ihr gehe es nach dem Film, in dem Jesus so viel leiden muss, besser, weil ihr Leiden demgegenüber nicht so hart sei. Ist das die Botschaft Jesu? Hat sich Jesus deshalb kreuzigen lassen? Viel wichtiger sind für mich da Sätze wie: Wenn ihr den Glauben habt, könnt ihr Berge versetzen. Das ist etwas, was uns frei macht, was uns auch von der Angst vor Leid und Tod befreit. Das ist doch eine ganz andere Botschaft. Es geht nicht darum, dass wir unser Leid annehmen – möglicherweise noch in dem Glauben, dass Gott uns umso mehr liebt, je mehr wir leiden. Dagegen wehre ich mich.
HK: Welche Rolle spielt die Tradition des Kinos mit seinen vielen Jesus- und Bibelfilmen überhaupt für die Arbeit auf der Oberammergauer Bühne? Die Herausforderungen für einen Regisseur sind schließlich vergleichbar. Und immerhin haben diese Filme die Bilder, die sich Menschen heute von Jesus von Nazareth machen, maßgeblich mitgeprägt.
Stückl: Ich habe alle Jesusfilme mit Begeisterung gesehen. Ob das die Sandalenschinken aus den fünfziger und sechziger Jahren waren, „Ben Hur“ oder „Das Gespenst“ von Herbert Achternbusch. Vor allem die Filme von Pier Paolo Pasolini haben mich beeinflusst. Wir haben in diesem Jahr in Oberammergau wieder eine Retrospektive veranstaltet. Die Auseinandersetzung mit diesen Filmen ist ganz wichtig.
„Die zunehmende Kirchenferne hinterlässt Spuren“
HK: Wie groß ist umgekehrt die Gefahr für den Theatermacher, die Dinge auf der Bühne dramatischer darstellen zu wollen, als die Evangelien sie beschreiben?
Stückl: Das Problem der Passionsspiele besteht tatsächlich darin, dass der Text immer eine Art Evangelien-Harmonie oder besser: Bibel-Potpourri ist. Man sucht sich aus den Evangelien immer den Satz heraus, den man gerade braucht. Jeder Theologe, der an dem Text gearbeitet hat, stand vor der Schwierigkeit, wie man den vier Evangelien gerecht wird. Im Grunde sind das Entscheidungen wie bei der Kanon-Bildung, als es darum ging, welche Evangelien hineingenommen werden und welche man als apokryph aussondert. Schon damals gab es Versuche, einen einzigen Text zu bekommen – das hat sich aber nicht durchgesetzt. Auf der Bühne gibt es keine Alternative. Ob das Ferdinand Rosner im 18. Jahrhundert oder Daisenberger im 19. Jahrhundert war: Wir sind immer in der Gefahr, zu viel von unserem ganz persönlichen Jesus-Bild hineinzubringen. Wie sollte es anders gehen, selbst wenn dann zehn Jahre später wieder ein anderes Jesus-Bild gezeigt werden sollte, das das vorherige revidiert? Man muss als Spielleiter schon selbst Stellung beziehen und sagen, wie man die Jesus-Geschichte erzählen möchte.
HK: Wie viele Freiheiten hat man dabei angesichts der vielen unterschiedlichen Interessen im Umfeld eines solchen Großunternehmens, wie es die Oberammergauer Passionsspiele sind?
Stückl: Durch das faktische Mitspracherecht der jüdischen Organisationen, durch die Diskussionen mit Ludwig Mödl, dem von beiden Kirchen beauftragten theologischen Berater, entsteht der Text tatsächlich nicht alleine auf meinem Schreibtisch. Trotzdem bleibt es ein spezifisch geprägtes Jesus-Bild mit allen Gefahren. Mir bleibt als Trost, dass immerhin Benedikt XVI. in seinem Jesus-Buch schreibt, dass der Weg zu Jesus eine ewige Suche sei. Ganz beschreiben können wir ihn sowieso nie.
HK: Und wie erleben Sie jetzt beim dritten Mal die Spannung zwischen der fast schon übermächtig scheinenden Tradition des Passionsspiels und der Herausforderung, den Jesus-Stoff einem zeitgenössischen Publikum nahe zu bringen?
Stückl: Die zunehmende Kirchenferne hinterlässt Spuren. Anders als vielleicht vor dreißig Jahren gibt es unter den Darstellern heute einige, die sich als christlich, aber nicht mehr als katholisch oder evangelisch bezeichnen würden. Das funktioniert natürlich nicht, weil es letztlich doch auf die Kirche ankommt, die die Botschaft verkündet und über Jahrhunderte weitergegeben hat. Woher soll das Christliche denn sonst kommen? Immer mehr junge Leute bauen mit ihrer Distanz zur Kirche letztlich auch eine Distanz zur christlichen Botschaft und zu Jesus auf. Deshalb gibt es im normalen Leben eine immer geringere Auseinandersetzung mit dieser Geschichte.
HK: Welche Folgen hat das für die Inszenierung eines Passionsspiels heute? Was ist zu berücksichtigen, um auf der Bühne überhaupt verstanden werden zu können?
Stückl: Zum Passionsspiel gehören die vierzehn so genannten lebenden Bilder aus dem Alten Testament. Ich habe inzwischen fast alle ausgetauscht, weil kaum jemand mehr die Erzählungen kennt. Ersetzt wurden sie durch Moses-Bilder, dessen Geschichte noch am geläufigsten ist: der Tanz um das Goldene Kalb oder der Zug durch das Rote Meer als neues Bild in diesem Jahr. Diese Bilder verstehen die meisten immerhin noch rudimentär. Mit ihnen geht es darum zu zeigen, dass das Wirken Gottes in der Welt nicht erst mit Jesus einsetzt und auch die Hoffnung auf Gott viel älter ist. Das wird allerdings immer schwieriger. Immerhin merke ich bei den jungen Darstellern, dass sie, wenn man Diskussionen anregt, diese auch wollen. Zu meiner Anfangszeit war beim Passionsspiel vieles selbstverständlicher. Die Auseinandersetzung über die Inhalte ist stärker geworden, in einem gewissem Sinne ist bei den Darstellern da auch das Bedürfnis nach Religiosität gewachsen.
HK: Profitiert Oberammergau nicht auch von der Aversion des bürgerlichen Publikums gegenüber dem Regie-Theater, dem man vorwirft, dass heutige Schauspielinszenierungen sich nur wenig an der Vorlage orientieren, dafür aber die Marotten des Regisseurs in der Vordergrund stellen?
Stückl: Das ist ganz komischer Unmut, den es da gibt. Mir ist oft nicht klar, was die Kritiker des Regie-Theaters eigentlich wollen, wenn sie sagen, man müsse einen Text einen Text sein lassen. Die Angst teile ich nicht. Jeder hat das Recht, sich mit seinem Blickwinkel einem Text zu nähern und jeder Zuschauer hat natürlich auch das Recht, diese Interpretation abzulehnen. Dadurch entstehen Reibungsflächen und letztlich auch Diskussionen. Natürlich kann man nicht gegen das Publikum Theater machen. Publikumsbeschimpfung ist nicht meine Sache. Man muss schon dem Publikum zugewandt sein und versuchen, es zu sich hinzuziehen, damit es mitgehen kann. Grundsatz für meine Theaterarbeit insgesamt ist, ganz im Sinne von Molière, die Leute auch erst einmal zum Lachen bringen, so dass sie sich öffnen. Dann kann man immer noch die Keile hineintreiben.
„Künstler haben Berührungsängste mit der Kirche und die Kirche hat Berührungsängste mit der Kunst“
HK: Passionsspiele aber sind doch mit Aufführungen an einem normalen Theater kaum zu vergleichen.
Stückl: Beim Passionsspiel ist tatsächlich alles ein wenig anders. Zuerst einmal sind alle Schauspieler Laien. Vor allem aber spielen alle Generationen mit. Man muss die Geschichte als Regisseur so erzählen, dass auch die Menschen, die sie spielen, mitgehen können. Natürlich haben die Schauspieler in meinem „Hamlet“ am Münchener Volkstheater keine historischen, sondern heutige Kostüme an. Aber das kann man in Oberammergau nicht machen. Die Oberammergauer wollen das Passionsspiel in einem historisierenden Rahmen. Die Grundabsprache besteht darin, in einer historischen Erzählweise zu verbleiben. Auch das Publikum erwartet das. Allerdings hat man in Oberammergau hier Riesenfehler gemacht. In den fünfziger Jahren hat man sich auf den amerikanischen Markt gestürzt, weil dort das Geld saß. Seitdem hat man das deutsche Publikum weitgehend ignoriert.
HK: Wird das auch für die Passionsspiele im Jahr 2010 gelten?
Stückl: Ja, aber durch die Weltwirtschaftskrise hat sich diese Entwicklung zu einem Bumerang entwickelt. Schon 1990 habe ich gesagt, dass ich für ein deutsches Publikum Theater machen will. Ich habe nichts gegen die Amerikaner. Jeder soll kommen, der kommen will. Aber mir liegt schon daran, in Deutschland und in Österreich mehr Werbung zu machen. Ich möchte, dass das, was ich mache, auch verstanden wird. Es reicht mir nicht, wenn die Amerikaner sagen: Schön war’s. Ich will mit dem Passionsspiel Diskussionen anregen. Letztes Mal habe ich eine Journalistin, die eine andere Regie-Arbeit von mir sehr geschätzt hat, zum Passionsspiel eingeladen. Erst wollte sie aus Prinzip nicht kommen. Dann hat sie eingewilligt und war geradezu verstört, wie sehr sie das Passionsspiel mitgenommen hat, obwohl sie sich so weit weg von der Jesus-Geschichte wähnte. Das freut mich mehr als eine amerikanische Reisegruppe, die nichts verstanden hat, das Ganze aber „nice“ und „beautiful“ findet.
HK: Wenn man einmal den Spezialfall Oberammergau beiseite lässt: Welche Rolle spielt das Thema Religion momentan im Theater insgesamt? Hat sich die Aufmerksamkeit für dieses Thema auf deutschen Bühnen in den vergangenen Jahren verstärkt?
Stückl: Ich nehme das nicht so wahr. Die Münchener Kammerspiele haben zuletzt einmal als Titel über ihre Spielzeit „Zehn Gebote“ gewählt. Das kommt einem dann wie eine gute Idee vor, aber ich sehe nicht, dass man sich wirklich auf die Fragestellungen einlässt. Allerdings bin ich natürlich auch in der Situation, dass man mich anruft, wenn bei den Salzburger Festspielen der „Jedermann“ ansteht, weil ich der Fachmann fürs Katholische bin und man mir zutraut, so einen Stoff neu aufbereiten zu können.
HK: Wie zahlreich sind denn die Möglichkeiten für die Thematisierung von Religion und Glaube im sonstigen Theaterbetrieb?
Stückl: Religion ist nicht von vorneherein ein Thema für die Bühne. Aber in jedem Stück eines europäischen Schriftstellers steckt immer auch der Glaube oder eine gewisse Religiosität, zumindest versteckt. Es gibt viele Stücke, da findet sich in jedem dritten Satz Bibeltext. Oft genug jedoch distanzieren sich die Regisseure davon. Bei der großen Faust-Inszenierung von Dieter Dorn hatte ich zum Beispiel immer das Gefühl, dass er bei diesem Thema eigentlich nicht in die Tiefe gehen will, weil das etwas von vorgestern sei. Da gibt es schon bestimmte Berührungsängste.
HK: Auf der einen Seite mischen Sie in der internationalen Theaterszene mit, auf der anderen Seite sind Sie als gebürtiger Oberammergauer der Spezialist für katholische Themen. Wie gut steht es um den Dialog zwischen Kirche und Theater?
Stückl: Ich habe Hindus als Freunde, fahre jedes Jahr nach Indien und merke dort immer wieder, wie katholisch ich bin. Ich bin ganz tief vom bayerischen Katholizismus geprägt, aber ich möchte allen anderen Religionen mit großer Offenheit begegnen. Aber leider findet die Auseinandersetzung so gut wie nicht statt. Die Künstler haben Berührungsängste mit der Kirche und die Kirche hat Berührungsängste mit der Kunst. Man hat sich kontinuierlich voneinander entfernt. Wenn ich an die barocken katholischen Bischöfe denke, die ständig Umgang mit Künstlern gepflegt haben, mit Malerei und Kirchenmusik, so dass vieles dem kirchlichen Raum entsprungen ist … Das findet heute nicht mehr statt. Sofort denkt jeder, der andere würde einen angreifen. Wir lassen Diskussionen nicht zu. Man kommt jedoch nur weiter, wenn man ein Interesse füreinander weckt.
HK: Gibt es denn keine Ausnahmen? Wenn dies in den verschiedenen Kunstgattungen auch unterschiedlich intensiv sein mag, findet diese Begegnung zwischen der Kirche und den Künsten doch zumindest punktuell immer wieder statt.
Stückl: Natürlich gibt es die. Kardinal Wetter hat auf Initiative des Künstlerseelsorgers lange Jahre solche Gespräche veranstaltet. Es war ehrenvoll, dass er es gemacht hat, aber es kam nie etwas dabei heraus. Man hat schon beim gemeinsamen Essen gemerkt, wie weit voneinander entfernt wir sind. Das gilt auf beiden Seiten. Aber das ist total schade.
HK: Da hilft auch ein großes Künstlertreffen im Vatikan nicht viel?
Stückl: Gar nichts. Ähnlich problematisch ist der Aschermittwoch der Künstler. Was sollen solche Pseudo-Veranstaltungen, wenn wir uns sonst nichts zu sagen haben? Wir brauchen eine andere Kultur, wie wir uns befragen und miteinander reden. Da geht es auch darum, welche Fragen wir zulassen. Viele Bischöfe und Priester fühlen sich immer gleich angegriffen. Warum eigentlich? Sie haben doch eine tolle Geschichte zu erzählen.