Die neuen Fälle von sexuellem Missbrauch werfen Fragen aufKeine falsche Stärke vortäuschen

In den vergangenen Wochen hat das Bekanntwerden mehrerer Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Jesuiten die katholische Kirche in Deutschland erschüttert. Gibt es Zusammenhänge zwischen Homosexualität und Pädophilie, dem Zölibat und sexuellem Missbrauch durch Priester? Was muss über die seit 2002 vorliegenden Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz hinaus getan werden?

„Wir brauchen Ihren Rat,“ sagte Joseph Ratzinger, damals noch Präfekt der Glaubenskongregation, heute Benedikt XVI., in eine Runde von Experten und Beobachtern, zu denen auch ich gehörte, die sich anlässlich eines internationalen Kongresses zum Thema Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche im Jahr 2003 für einige Tage im Vatikan aufhielten. Die Horrorberichte aus den USA über immer neue Fälle von sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Priester hatten schließlich auch den Vatikan auf den Plan gerufen. Um weiteren Schaden zu vermeiden, musste sich die katholische Kirche ernsthafter als bisher mit der Tatsache sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in ihren eigenen Reihen auseinandersetzen. Die jüngsten Berichte über sexuellen Missbrauch im Orden der Jesuiten haben gezeigt, dass das Thema längst nicht, wie vielfach erhofft, vom Tisch, sondern nach wie vor sehr aktuell ist und viele Fragen aufwirft.

Eine dieser Fragen ist: Wie ist es zu erklären, dass, auch wenn über 90 Prozent der Fälle von sexuellem Missbrauch in der Familie und Verwandtschaft stattfinden, dieses Fehlverhalten unter Priestern sich nicht auf einige wenige beschränkt, sondern bis zu vier Prozent des Klerus betrifft? Diese Frage kann man zum Teil beantworten, wenn man die Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch Minderjähriger näher in den Blick nimmt.

Der erste Risikofaktor besteht darin, ein Mann zu sein. Auch wenn es immer wieder sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Frauen gibt, so sind es vorwiegend Männer, die Minderjährige sexuell missbrauchen. Das relativ hohe Ausmaß an sexuellem Missbrauch durch Priester lässt sich also auch von daher erklären, dass nur Männer zu Priestern geweiht werden.

Der zweite Risikofaktor sind sexuell unreife erwachsene homosexuelle oder bisexuelle Männer. Immer wieder wird daher die Frage gestellt, ob es einen Zusammenhang zwischen Pädophilie und Homosexualität gibt. Um diese Frage beantworten, kann es hilfreich sein, zunächst einmal zu unterscheiden zwischen Pädophilie und Ephebophilie. Von Pädophilie spricht man, wenn sich jemand von 13-jährigen und jüngeren Kindern, von Ephebophilie, wenn sich jemand von Jugendlichen im Alter von etwa 14 bis 17 Jahren sexuell angezogen fühlt beziehungsweise mit Kindern oder Jugendlichen dieses Alters sexuelle Kontakte unterhält.

Unter den Priestern, die Minderjährige missbrauchen, gibt es pädophil und ephebophil veranlagte. Aus einer Umfrage, die unter den US-amerikanischen Diözesen durchgeführt wurde – dem so genannten John Jay Report – geht hervor, dass 40 Prozent der Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester Kinder oder Jugendliche im Alter zwischen 11 und 14 Jahren waren und es sich bei über 80 Prozent der Opfer um männliche Kinder beziehungsweise Jugendliche handelte. Bisherige Untersuchungen sprachen davon, dass es sich bei den Tätern vor allem um ephebophile Priester handelt, glaubt man dem erwähnten John Jay Report muss man aber davon ausgehen, dass der Anteil der pädophilen Priester doch größer ist als bisher angenommen. Dass es sich bei den Opfern überwiegend um Jungen handelt, wird dagegen auch durch den John Jay Report bestätigt.

Bei der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Pädophilie und Homosexualität gibt, ist weiter zu bedenken, dass nach Untersuchungen aus den USA dort bis zu 30 Prozent der katholischen Priester und Ordensleute homosexuell sind. Auch wenn man nach meiner Einschätzung, was Deutschland, Österreich oder die Schweiz angeht, nicht von einem so hohen Prozentsatz ausgehen kann, dürfte der Anteil an homosexuellen Männern unter den katholischen Priestern in diesen Ländern deutlich über dem Durchschnittsprozentsatz von rund fünf Prozent, der für die Gesamtbevölkerung angenommen wird, liegen.

Kann man daraus jetzt schlussfolgern, dass homosexuelle Priester in besonderer Weise anfällig sind für pädophiles oder ephebophiles Verhalten? Generell kann man das so nicht behaupten. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass der Anteil sexuell unreifer homosexueller Priester überdurchschnittlich hoch ist und diese Gruppe von sexuell unreifen homosexuellen Priestern für pädophiles oder ephebophiles Verhalten besonders anfällig ist. Diese homosexuellen Priester haben die notwendige Auseinandersetzung mit ihrer Sexualität und Homosexualität, die auch zu einer Annahme ihrer homosexuellen Veranlagung führen sollte, unterlassen. Die Folge davon ist, dass ihre sexuelle Entwicklung auf der Strecke geblieben ist und die Gestaltungsfähigkeit ihrer Sexualität beeinträchtigt bleibt. Diese Vermeidungshaltung dürfte durch eine nach wie vor vorhandene Tabuisierung von Homosexualität im kirchlichen Kontext noch verstärkt werden. Daneben gibt es unter den homosexuellen Priestern viele, die sehr wohl in der Lage sind, auf eine reife Weise und verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität umzugehen.

Daneben gibt es Priester, die männliche Minderjährige – Kinder oder Jugendliche – missbrauchen, sich also homosexuell verhalten, ohne dass das heißen muss, dass sie tatsächlich homosexuell sind. Sie haben sich nicht wirklich mit ihrer Sexualität und ihrer sexuellen Identität auseinandergesetzt und sind daher auch nicht in der Lage, eine klare Aussage darüber zu machen, ob sie homosexuell oder heterosexuell sind. Unter ihnen dürften sich auch Priester befinden, die bisexuell sind.

Pädophilie und Zölibat

Ein dritter Risikofaktor, der bei homosexuellen und heterosexuellen Priestern, die Minderjährige sexuell missbrauchen, nachweisbar ist, sind Defizite im Bereich der Fähigkeit zur Intimität und zu innigen Beziehungen. Reife Intimität zeigt sich in der Fähigkeit, sich auf einer tiefen Ebene über Gedanken, Wünsche, Sehnsüchte, Ängste, Hoffnungen austauschen und sich in die jeweilige andere Person einfühlen zu können. Reife Intimität kommt weiter zum Ausdruck, wenn zwei Menschen von einer Ich-Stärke heraus in eine gefühlvolle persönliche, von Vertrauen getragene Beziehung zueinander treten können.

Die Fähigkeit zur Intimität beinhaltet ferner die Fähigkeit, sich auf eine innige Weise mit anderen Menschen einlassen, ihnen Nähe schenken zu können und zugleich auch in der Lage zu sein, sich selbst von anderen Menschen Nähe schenken lassen zu können. Schließlich zeigt sich reife Intimität in der Fähigkeit, die Grenzen und die Intimsphäre eines anderen respektieren und das eigene sexuelle Verlangen kontrollieren zu können, wenn durch mein Verhalten möglicherweise anderen ein Schaden zugefügt wird.

Wieder in den kirchlichen Dienst zurückkehren?

In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder die Frage gestellt, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Priester und dem Zölibat. Eine direkte Verbindung zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch in dem Sinne, dass der Zölibat die Ursache für sexuellen Missbrauch Minderjähriger ist, lässt sich nicht nachweisen. Wer pädophil veranlagt ist und seine Veranlagung ausleben möchte, den schützt weder der Zölibat noch die Ehe davor, das zu tun. Tatsache ist ja, dass über 90 Prozent des sexuellen Missbrauchs innerhalb der Familie und der Verwandtschaft stattfinden.

Der Zölibat oder eine verzerrte Vorstellung von Zölibat kann aber die Fähigkeit, sich mit der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen und sich dem Prozess zu stellen, der zur Beziehungsfähigkeit führt, erschweren oder gar verhindern. Das trifft vor allem auf Priester zu, die in ihrer sexuellen Entwicklung stehengeblieben sind und die den Zölibat in dem Sinne missverstehen, dass sie meinen, sich nicht mit der eigenen Sexualität auseinandersetzen zu müssen. Das eigentliche Problem ist hier eine emotionale – und da auch sexuelle – Unreife, die sich dann auch in der Unfähigkeit zu echten Beziehungen und zu echter Intimität zeigt.

Das heißt die Entscheidung, zölibatär zu leben, kann bei manchen Priestern dazu führen, dass die notwendigen psychosexuellen Reifungsprozesse nicht ernst genommen werden. Damit einhergehend unterbleibt die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität, der eigenen sexuellen Orientierung, vor allem aber auch der mühevolle Weg, der zur Intimitätsbefähigung führt. Wenn es sich bei diesen Priestern um Ephebophile handelt, kann ihnen manchmal mit Hilfe von Psychotherapie und geistlicher Begleitung geholfen werden, sexuell nachzureifen. Bis dahin, dass sie mit der Zeit in der Lage sind, sich auf innige emotionale Beziehungen mit Männern und Frauen einzulassen.

Auch für jemanden, der zölibatär leben will, ist es wichtig, sich all den Entwicklungsschritten zu stellen, die notwendig sind, um auf eine reife und verantwortungsvolle Weise mit seiner Sexualität umgehen zu können und schließlich auf eine mit dem Zölibat in Einklang zu bringende Weise in Beziehungen zu gleichaltrigen Männern und Frauen Intimität zu erfahren. Solche Beziehungen, in denen Priester sich wirklich auch als getragen erleben, stellen einen ganz entscheidenden Schutz vor potenziellem sexuellen Missbrauch dar.

Ein weitere Frage, der sich die katholische Kirche im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Priester stellen muss, ist, ob ein Priester, der Minderjährige sexuell missbraucht hat, nach therapeutischer Behandlung wieder in den kirchlichen Dienst zurückkehren kann. Hier scheiden sich die Geister.

Die einen plädieren dafür, im Sinne des US-amerikanischen Modells der Nulltoleranz, dass jemand, der sich einmal sexuell missbräuchlich verhalten hat, verhält oder verhalten wird, nie mehr als Seelsorger oder als Priester tätig sein kann. Andere wieder machen sich dafür stark, zu unterscheiden: Zwischen dem pädophil oder ephebophil veranlagten Priester, der sich in vielen Fällen und auf massive Weise – wie oraler Sex oder versuchte oder tatsächlich durchgeführte Penetration – missbräuchlich verhalten hat und dessen Prognose, was die Fähigkeit betrifft, seine Veranlagung kontrollieren zu können, gleich null ist und dem Priester, der einmal, in einer außergewöhnlichen Situation, zum Beispiel weil er betrunken war oder sich in einer besonders schwierigen seelischen Verfassung befand, sich auf eine „nicht gravierende“ Weise – unsittliche Berührungen Bekleideter – missbräuchlich verhalten hat. Dabei muss man bedenken, dass der Schaden für das Opfer in beiden Fällen verheerend ist oder sein kann.

Ein Priester, der Minderjährige missbraucht, offenbart, dass er seine sexuellen Regungen nicht auf eine verantwortungsvolle Weise steuern kann. Liegt bei ihm eine pädophile oder ephebophile Fixierung vor, sollte er auch nach einer Therapie zum eigenen Schutz und zum Schutz möglicher Opfer weder in der Jugendarbeit noch in der allgemeinen Seelsorge, die ja auf vielfältige Weise den Zugang zu Kindern und Jugendlichen ermöglicht, eingesetzt werden. Er leidet an einer Krankheit, die in der Regel nicht heilbar ist. Die Therapie kann dazu führen, dass er mit der Zeit seine sexuellen Impulse kontrollieren kann.

Er kann aber auf Grund dessen, was er getan hat, auch auf Grund dessen, was an möglicher Gefahr von ihm ausgeht, nicht länger als Seelsorger tätig sein. In seinem Fall müssen je nach Situation Möglichkeiten geschaffen werden, dass für ihn, wenn er mit Hilfe therapeutischer und geistlicher Begleiter so weit gekommen ist, dass er sein Fehlverhalten erkennt, Reue über sein Verhalten empfindet und seine Impulse kontrollieren kann, eine Form gefunden wird, in der er seine priesterliche Identität leben und zum Ausdruck bringen kann.

Priestern, bei denen mit Hilfe von Gutachten durch ausgewiesene Fachleute festgestellt werden kann, dass sie nicht pädophil oder ephebophil veranlagt sind, und es sich bei ihrem Fehlverhalten um ein einmaliges regressives Verhalten handelt, das unter anderem auf Defizite im Bereich der Intimität zurückzuführen ist, kann im Einzelfall nach erfolgreicher Psychotherapie eine klar umgrenzte Tätigkeit im Bereich der Seelsorge möglich sein. Das gilt vor allem für den Priester, der sich bei seinem Fehlverhalten ephebophil verhalten hat. Gibt es aber auch nur einen Spur von Zweifel daran, dass der Priester nicht rückfällig wird, sollte selbst ein begrenzter Einsatz in der Seelsorge ausgeschlossen werden. Jeder Einsatz setzt voraus, dass das Umfeld informiert wird und der Priester weiterhin durch Supervision, geistliche Begleitung und Psychotherapie begleitet, beobachtet und auch kontrolliert wird.

Diese Vorgehensweise ist schwieriger und komplizierter zu handhaben als die so genannte Nulltoleranz-Lösung. Sie wird aber sowohl der Situation als auch den Priestern eher gerecht. Manchmal entsteht der Eindruck, dass es Bischöfe und Verantwortliche gibt, die es sich zu leicht machen, wenn sie sich darauf beschränken, den Priester, der Minderjährige sexuell missbraucht, einfach zu suspendieren und nicht länger bereit sind, die Verantwortung für die betreffende Person zu übernehmen. Diese Verantwortung wird dann im Grunde genommen der Gesellschaft überlassen. Hier muss man Wege finden, um einerseits Kinder und Jugendliche zu schützen und andererseits dem betroffenen Priester gerecht zu werden.

Eine solche Vorgehensweise setzt aber voraus, dass die von der Deutschen Bischofskonferenz im Jahre 2002 verabschiedeten Leitlinien „Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche“, die klar regeln, was im Falle sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Priester für die Opfer getan und wie mit den Tätern umgegangen werden soll, ernst beziehungsweise ernster genommen werden. Wo sie angewandt wurden, haben sie sich insgesamt bewährt. Das gilt vor allem dann, wenn der eigens dafür bestimmte Ansprechpartner einer Diözese und sein Arbeitsstab mit einbezogen werden.

Bei einer notwendigen Überarbeitung dieser Leitlinien muss meiner Ansicht nach klarer zur Sprache kommen, dass die vom Bischof beauftragte Person, die den Vorwurf sexuellen Missbrauchs prüft, jemand sein sollte, der das Vertrauen des Bischofs genießt, aber nicht zur Leitung einer Diözese gehört. Die Einrichtung eines Arbeitsstabes und dessen Einbeziehung bei der Vorgehensweise sollte nicht nur eine Kann-Bestimmung, sondern eine Muss-Bestimmung sein.

Dadurch wird verhindert, dass „die Fälle“ dann doch wieder nur im internen Kreis verhandelt werden und das in dieser Situation so wichtige Fachwissen, die Beleuchtung aus verschiedenen Blickwinkeln, aber auch die mitunter notwendige Korrektur und kritische Rückmeldung durch psychologische, pädagogische und juristische Fachleute, darunter hoffentlich auch Frauen, zu kurz kommen. Ein solcher Arbeitsstab sollte neben den Ad-hoc-Treffen regelmäßig zusammenkommen. Es soll Bistümer geben, in denen es zwar diese Arbeitsstäbe gibt, sie aber so gut wie noch nie einberufen wurden.

Bei einer Überarbeitung der Leitlinien sollten weiter die Zuständigkeit der Bischofkonferenz verstärkt, die Vernetzung der diözesanen Beauftragten, deren Schulung und Austausch auf Bundesebene geklärt und einige kirchenrechtliche und staatskirchenrechtliche Unstimmigkeiten bereinigt werden. Darüber hinaus wäre es höchste Zeit, dass es bei der Deutschen Bischofskonferenz einen kompetenten Ansprechpartner gibt, der für den ganzen Bereich sexuellen Missbrauch in der Kirche zuständig ist, die Arbeit der diözesanen Beauftragten und ihrer Arbeitsstäbe koordiniert, den Austausch mit entsprechenden Einrichtungen anderer Bischofskonferenzen – zum Beispiel in den USA oder Kanada – und dem Vatikan pflegt, die wissenschaftliche Entwicklung in diesem Bereich verfolgt und vor allem auch als Sprachrohr nach außen – sprich für die Öffentlichkeit und hier insbesondere die Medien – zur Verfügung steht.

Nach meiner Kenntnis werden die Leitlinien von den meisten Diözesen ernst genommen; die angesprochenen Veränderungen könnten das unterstreichen. Wo sie nicht ernst genommen werden, wird der Vatikan aller Voraussicht nach die in den USA praktizierte Nulltoleranz-Regelung verordnen. Das gilt auch für die Orden, die diese Leitlinien für die Mitgliedsgemeinschaften der Vereinigung Deutscher Orden (VOD) im Jahre 2002 adaptiert und verabschiedet haben.

Was ist mit der Kinderpornografie?

Neue Fragen zum Thema sexueller Missbrauch durch Priester ergeben sich im Zeitalter des Cybersex. Im Zusammenhang mit dem Thema Kinderpornografie betrifft das vor allem die Tatsache, dass davon zunehmend auch Priester betroffen sind. Ist jemand, der sich Kinderpornografie vom Internet herunterlädt, pädophil und ein potenzieller Täter? Weitere Forschungen stehen hier noch aus. Einige Untersuchungen gehen davon aus, dass wegen Kinderpornografie verurteilte Täter ein geringes Risiko für zukünftige sexuelle Kontakte darstellen. Das gilt insbesondere, wenn sie in ihrer Vorgeschichte nicht mit solchen Straftaten in Erscheinung getreten sind. Sind sie aber mit sexuellen pädophilen Verfehlungen bereits in Erscheinung getreten, kann die Praxis der Kinderpornografie ein Indikator dafür sein, dass sie in besonderer Weise dafür anfällig sind, Kinder sexuell zu missbrauchen.

Eine andere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass der Gebrauch von Kinderpornografie mitunter sogar ein deutlicherer Hinweis auf eine pädophile Veranlagung sein kann als manches pädophile sexuelle Verhalten. Die Begründung dafür: Bei einem pädophilen Verhalten kann man mitunter davon ausgehen, dass es unentdeckt bleibt. Kinderpornografie herunterzuladen, ist mit der Gefahr verbunden, dass dieser Vorgang registriert wird. Nur jemand, der wirklich pädophil veranlagt ist, geht dieses Risiko ein. Defizite im Bereich der Intimitätsbefähigung, Ausgebranntsein, aber auch psychosexuelle Störungen können unter anderem die Gründe für dieses Verhalten sein. In der Regel muss man in diesen Fällen ähnlich vorgehen wie bei den Priestern, die Minderjährige missbrauchen.

Auf dem Hintergrund des Gesagten ergeben sich für die Kirche folgende Konsequenzen, die zum Teil schon gezogen worden sind, zum Teil aber auch noch auf ihre Umsetzung warten.

Die erste Verantwortung der Kirche gilt den Opfern sexuellen Missbrauchs. Hier hat ein Umdenken stattgefunden. Die Stimme des Opfers wird mehr gehört und ernster genommen. Das Bewusstsein hat zugenommen, dass die Stimme des Opfers manchmal auch geschützt werden muss vor der nächsten Umgebung, die aus Angst vor möglichen Unannehmlichkeiten, aus Unverständnis und Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Beschuldigung, das Opfer einschüchtern oder zum Schweigen bringen will. Die inzwischen vielerorts eingeführten Einrichtungen und Hotlines kirchlicher oder der Kirche nahe stehender Stellen, an die sich die Opfer angstfrei wenden können, hat es vielen leichter gemacht, das Schweigen zu durchbrechen und somit dazu beizutragen, dass Täter gestellt werden. Die Sorge der Kirche um die Opfer zeigt sich auch darin, dass die Kirche bereit ist, die Kosten für eine notwendige Therapie des Opfers zu übernehmen.

Wenn Eltern ihre Kinder einem Priester anvertrauen, müssen sie sich darauf verlassen können, dass es sich dabei um eine Person handelt, die des Vertrauens wert ist, das man ihr schenkt. Die für die Ausbildung und Anstellung von Priestern Verantwortlichen müssen daher dafür Sorge tragen und Gewähr bieten, dass diese Sicherheit gegeben ist – zumindest in dem Umfang, in dem das von ihrer jeweiligen Aufgabenstellung und Verantwortung her möglich ist. Sie können natürlich nicht in das Herz eines Menschen schauen, und es gibt genügend Beispiele von Priestern, die es bestens verstanden haben, ihre entsprechende Neigung zu verbergen.

Um angemessen einschätzen zu können, ob der Priester über die menschliche Reife verfügt, die notwendig ist, um als Seelsorger tätig sein und verantwortlich mit seiner Sexualität umgehen zu können, genügt ein oberflächlicher Kontakt nicht. Es setzt voraus, dass die Verantwortlichen den Priester wirklich kennen. Ein sorgfältiger Ausleseprozess bei den Kandidaten für das Priesteramt, der die Einbeziehung von psychologischen Fachleuten und gegebenenfalls auch Tests erfordert, ist ein Muss. Weiter ist es wichtig, den ganzen Bereich der Sexualität nicht zu tabuisieren, sondern bei der Ausbildung ganz selbstverständlich mit zu berücksichtigen.

Zukünftige Priester müssen fähig sein für tiefe, bedeutungsvolle Beziehungen und zu einer legitimen Form der Erfahrung von Intimität, die nicht im Gegensatz zum zölibatären Lebensstil steht, sondern diesen im Grunde genommen stützt. Hier ist in den Priesterseminaren in den vergangenen zehn Jahren viel von dem, was ich bezogen auf die Auswahl und die Ausbildung der Priesteramtskandidaten genannt habe, berücksichtigt worden.

Die Kirche und ihre Verantwortlichen haben auch eine Verantwortung gegenüber dem Priester, der Minderjährige sexuell missbraucht hat. Sie dürfen ihn nicht fallen lassen und müssen dafür Sorge tragen, dass ihm geholfen wird, unter anderem durch Psychotherapie und geistliche Begleitung. Die Verantwortlichen sollen den Kontakt mit dem Priester, der beurlaubt oder suspendiert worden ist, aufrechterhalten und ihm die moralische Unterstützung gewähren, die er benötigt. Bei aller Klarheit und konsequentem Handeln gegenüber dem misshandelnden Priester gilt es zu bedenken, dass die Konfrontation mit seinem Verhalten und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, etwa die Suspendierung von seinem Amt für den betreffenden Priester den sozialen Tod bedeuten kann. In einer solchen Situation ist der Betreffende oft suizidgefährdet und bedarf deshalb einer spirituellen und psychotherapeutischen Begleitung.

In einer Umfrage in den USA assoziierten 37 Prozent der Befragten die katholische Kirche mit sexuellem Missbrauch. Gott sei Dank trifft das für uns in Deutschland nicht (oder noch nicht) zu. Dennoch hat auch die katholische Kirche in Deutschland durch die Missbrauchsfälle in ihren eigenen Reihen zum Teil erheblich an Vertrauen eingebüßt. Das hat viele negative Auswirkungen, vor allem auch auf das Image der Priester und den Priesternachwuchs.

In einer solchen Situation geht es nicht an, Stärke vorzuschützen, sich nach außen abzuschotten oder nur zu verteidigen. Für die Bistümer und die Orden ist es vielmehr wichtig, zu dem Versagen ihrer Priester zu stehen. Wollen sie ihren Beitrag dazu leisten, dass der Nährboden für sexuellen Missbrauch in ihren eigenen Reihen immer mehr eingeschränkt oder gar beseitigt wird, gelingt ihnen das nur, wenn sie den Weg der Transparenz wagen. Wer versucht, solche Vorgänge unter den Teppich zu kehren oder zu verniedlichen, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, mit dazu beizutragen, dass der Nährboden für sexuellen Missbrauch in der Kirche weiter bestehen kann.

Jeder Priester, der Minderjährige sexuell missbraucht, muss sich seiner Tat stellen, die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, auf sich nehmen, Buße leisten, auch um dann irgendwann hoffentlich Erlösung zu erfahren. Das gilt aber auch gleichermaßen für die Kirche, die dazu stehen muss, wo sie sich schuldig gemacht hat, die die Konsequenzen, die sich daraus für sie ergeben, auf sich nimmt, die Buße leistet, um dann irgendwann hoffentlich selber Erlösung zu erfahren. Ein solcher Läuterungsprozess hat begonnen. Das lässt hoffen.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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