Die Wahrheit über den sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen kommt ans Licht, jeden Tag ein Stück mehr, mühsam und so, dass es wehtut. Selbst der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, räumte ein, dass man das Ausmaß der Verfehlungen bislang unterschätzt habe. Weh tut das, was bekannt wird, weil Kindern seelisches und körperliches Leiden zugefügt worden ist, das sie ein Leben lang begleitet und Störungen hervorrufen kann. Weh tut es aber auch, weil die kostbarste Währung pädagogischen Beistands und seelsorgerlicher Begleitung, nämlich Vertrauen, kaputt gegangen ist und bei vielen der Verdacht entsteht, es sei derartiges auch anderswo und schon immer, also zu Zeiten, an die sich niemand mehr erinnern kann, vorgekommen.
Und so steht rasch die katholische Kirche im Gesamten am Pranger, ihre ältesten und ihre eifrigsten Orden, das pädagogische Engagement und die Jugendarbeit, um deretwillen sie beneidet und geschätzt wird – selbst von solchen, die der kirchlichen Lehre gegenüber eher Skepsis empfinden. Am Pranger stehen nicht zuletzt auch ihre Auffassungen zu Ehe, Familie und Sexualität, deren Behauptung schon Gegenwind genug aufwirbelt.
Von einer Vertrauenskatastrophe zu sprechen, ist nicht übertrieben, Irritation und Entsetzen das Mindeste. Schadenfreude und Häme ist nicht am Platz, das verbietet schon der Blick auf die Opfer. Aber die Menschen, auch die, die wegen ihrer Identifikation mit der Kirche besonders starken Schmerz und Scham empfinden, wollen Antworten auf drei Fragen, nämlich erstens: Wie konnte solches passieren – durch Priester, die ihre Fähigkeiten und Arbeitspotenziale ganz in den Dienst junger Menschen gestellt haben, in Einrichtungen, die von der tausend- und abertausendfach bewährten Formung durch eine große spirituelle Tradition geprägt sind, in einer Institution, die für sich beansprucht, für ein dem Evangelium entsprechendes Leben und moralische Integrität zu stehen?
Ebenso stellt sich aber auch die Frage, ob wirklich niemand etwas davon gewusst hat, beziehungsweise: Hätte man von solchen Vorkommnissen nicht wissen können oder vielleicht müssen? Erst wenn diese beiden Fragen eine befriedigende Antwort gefunden haben, ist die Voraussetzung für eine weitere, dritte Frage gegeben, nämlich die, was getan werden kann, um in der Zukunft Wiederholungen möglichst zu vermeiden.
Die Frage „Wie ist so etwas möglich?“ führt tief in die Entwicklungspsychologie und in die Psychopathologie. Dazu wurden in den letzten Jahren zahlreiche Untersuchungen durchgeführt. Die entsprechenden Erkenntnisse sind in Fachbüchern verfügbar (eines der informativsten ist das von Ulrich T. Egle, Sven O. Hoffmann und Peter Joraschky herausgegebene „Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung“, Stuttgart, 3. Auflage 2005; vgl. auch HK, März 2010, 119ff.).
In der Nähe gleichzeitig Distanz wahren
Aber auch wer nicht über solche Spezialkenntnisse verfügt, kennt aus der Beobachtung oder aus eigenem Erleben die Dynamik von Beziehungen: Wo am Anfang Fürsorge stand, wächst Zuneigung. Wo Zuneigung ist, entsteht Vertrauen. Und Vertrauen tut gut und ist eine Form der Anerkennung, die wir alle brauchen. Aus Vertrauen entsteht Nähe, und wo Nähe ist, kann schnell auch seelische Vertraulichkeit und körperliche Berührung ins Spiel kommen. Das ist auch bei Erwachsenen so und der Übergang ein gleitender. Damit das nicht unbemerkt und ohne die Zustimmung des Anderen passiert, gibt es Grenzlinien: konventionalisierte in Sprache, Kleidung, Umgangsformen, rechtlich festgelegte und kontrollierbare (Verbot sexistischer und diskriminierender Bemerkungen) sowie vereinbarte (was Kollegen oder Nachbarn zusammen tun und was nicht).
Berufe und Dienstleistungen, die besondere körperliche oder seelische Nähe voraussetzen – vom Physiotherapeuten angefangen über den Arzt und Rechtsanwalt bis zum Psychotherapeuten und Berater –, können ihre Tätigkeit nur solange mit Erfolg ausüben, wie sie in der Nähe gleichzeitig Distanz wahren. Dies zu können und zu tun, ist Bestandteil ihrer Professionalität. Werden diese Grenzen nicht eingehalten, kommt es zu ungewollten Verletzungen oder kalkulierten Tabubrüchen, die heute nicht mehr einfach hingenommen oder als Kavaliersdelikte verharmlost werden. Und selbst innerhalb einer Beziehung, in der intensive Nähe und Sexualität praktiziert wird, befinden sich die Partner nicht einfach in anhaltender Verschmelzung, sondern brauchen einen durch Vereinbarung oder Gewohnheit zustande gekommenen Code von Nähe, Eigenbereich und Abgrenzung, dessen Nichtrespektierung sie je nachdem als Anmaßung, Zumutung oder Verletzung empfinden können.
Bei Kindern, die sich mit Erwachsenen in einem Verhältnis der Vertrautheit, Angenommenheit und Geborgenheit wissen, verhält es sich insofern anders, als sie Grenzübertretungen hin zu sexueller Annäherung zwar spüren, aber nicht als solche identifizieren können. Sie nehmen lediglich ein Verhalten wahr, das sie „komisch“ finden, das heißt nicht einordnen können. Es ist nicht Bestandteil der Welt, die sie (trotz Internet) kennen und gefühlsmäßig nachvollziehen können. Nichts anderes meinen wir doch mit der gebräuchlichen, aber missdeutbaren Redeweise von der „Unschuld“ der Kinder. Erst später, oft eben zu spät, wird ihnen bewusst, dass sie da in etwas hineingeraten sind, dessen Regeln ihnen fremd ist, obschon sie den Akteur doch so gut kennen.
Diese Asymmetrie zwischen Vertrauen und Regieführen in unvertrautem Terrain auszunutzen, ist das Vergehen beim sexuellen Missbrauch, und das, was daraus an seelischen Kurz- und Langzeitfolgen hervorgeht, das Verbrechen. Die Tatorte sind hinlänglich bekannt: Sportvereine, Unterricht am Musikinstrument, Freizeitbetreuung, Jugendtreffs.
Normalerweise, so möchte man annehmen, wird ein Kind das, was ihm an Verstörendem widerfahren ist, jemandem mitteilen. Das genau geschieht aber in solchen Fällen nicht oder selten. Warum? Aus Scham und Erschrecken und weil eine der engsten Vertrauenspersonen doch der Täter selbst ist. Und überhaupt: Wer sollte einem solche Scheußlichkeiten und gravierenden Anschuldigungen „abnehmen“?
Exakt in dieser Scham liegt übrigens auch die Erklärung für die Dynamik, die das Skandalthema „Sexueller Missbrach in katholischen Einrichtungen“ in den Medien bekommen hat. Wie in anderen Fällen, wo Vorkommnisse, die das Bild hätten stören müssen, lange Zeit zurückgehalten wurden (man denke an Doping im Leistungssport, an Formen der Bestechung in der Wirtschaft, an Gewalt gegen alte Menschen in der Pflege oder jüngst an Behandlungsfehler in der Medizin), hat erst das Bekanntwerden eines oder weniger Fälle die Folge, dass auch andere Opfer jetzt – nach Jahren und oft Jahrzehnten– ihre Scham und Lähmung oder vielleicht zutreffender: ihre Einsamkeit überwinden und sich offenbaren. Dass dabei auch die Gefahr besteht, dass Trittbrettfahrer diese Dynamik nutzen oder auch instrumentalisieren, gehört leider mit zum Phänomen.
Welche Rolle spielen die Zölibatsverpflichtung und die Sexuallehre der Kirche?
Fest steht jedenfalls: Es handelt sich bei sexuellem Missbrauch um schwere Verfehlungen Einzelner, die Funktionsträger und Repräsentanten von Kirche sind – mögen sie im Übrigen auch gute Arbeit geleistet haben. Hätte man davon nicht wissen können oder sogar müssen? Diese Frage wird derzeit vor allem in der verschärften Variante diskutiert, ob die Missbrauchsfälle nicht ein „systemisches“ Problem seien, also ein Resultat der Wechselwirkung zwischen der psychosexuellen Verfasstheit des Menschen einerseits und der Zölibatsverpflichtung der Priester und Ordensleute sowie der Sexuallehre der Kirche andererseits.
Natürlich ist der Zölibat an den Übergriffen sowenig unmittelbar die Ursache, wie der sexuelle Missbrauch bei Priestern und Ordensleuten die Regel. Insofern ist es richtig, einen derartigen Zusammenhang zurückzuweisen, wie es der Vorsitzende der Bischofskonferenz in seiner Stellungnahme zum Auftakt ihrer Frühjahrsvollversammlung am 22. Februar getan hat. Auch der Hinweis auf pädophile Veranlagungen ist wichtig, die Erinnerung an manche bizarre politische Forderungen der Vergangenheit nicht unberechtigt und die psychoanalytische Erklärung, dass die katholische Kirche die letzte Vaterinstitution einer vaterlosen Gesellschaft sei (Manfred Lütz), bedenkenswert, wenn auch einseitig, da die Rolle des Mutterbildes im Selbstverständnis dieser Kirche unthematisiert bleibt.
Aber alle diese Argumente zielen unübersehbar auf Entlastung und setzen, wenn sie die einzigen bleiben, die von kirchlicher Seite vorgebracht werden, ihre Sprecher dem Verdacht aus, die Frage, ob es einen solchen systemischen Zusammenhang gibt, von vornherein abwehren zu wollen. Man sollte sich deshalb hüten, sich die Oberflächlichkeit von denen aufnötigen zu lassen, deren Antwort und Urteil ohnehin von Anfang an feststanden.
Eine seltsame Hilflosigkeit der Moraltheologie
Eine Kirche, die weiß, dass sie stets der Reinigung bedürftig ist und deshalb zu Umkehr und Erneuerung bereit sein muss (vgl. Lumen Gentium Nr. 8), muss sich angesichts der bekannt gewordenen Verfehlungen nicht nur um Aufklärung und Leitlinien kümmern, sondern auch selbstkritische Überprüfungen in mehreren Bereichen vornehmen. Zuerst bei der Rekrutierung des Personals: Die gängige Diskussion über sexuellen Missbrauch thematisiert vor allem entsprechende Neigungen und Veranlagungen. Das ist fraglos wichtig, weil es etwas aussagt über eventuelle Therapierbarkeit beziehungsweise Nichttherapierbarkeit.
Aber es ist eine verengende Sicht, weil sie nicht erfasst, welche Entwicklung Menschen durchgemacht haben, wenn sie – definitiv – über ihre Lebensform entscheiden (müssen!); welche Möglichkeiten jemand haben muss, um seine psychosexuelle Identität auszubilden und zu reifen; welches persönliche Umfeld er braucht, in dem er die Balance von Nähe und Distanz einüben kann; welche Unterstützung und Förderung er auch dann erfährt, wenn die Lebensjahre fortschreiten und der Schwung und die Ideale des Anfangs durch Routine, Überforderung und Einsamkeit strapaziert werden; ob dafür Sorge getragen ist, dass er in allen Lebenssituationen stets jemanden hat, mit dem er auch seine sexuellen Nöte besprechen kann, ohne Entsetzen und Abwendung zu riskieren. Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen sollte Ergebnis einer Entscheidung sein, nicht Resultat des Unvermögens zu reifen Beziehungen mit dem anderen Geschlecht oder der Schutzraum für das Ausleben sozial problematischer Veranlagungen.
Selbstkritische Prüfung ist ebenso nötig beim Umgang der Kirche mit dem Nichtnormgemäßen und auch dem Scheitern: Das Ziel jeder vom Evangelium inspirierten Moral ist es, den Menschen dabei zu helfen, dass ihr Leben und ihr Handeln besser gelingen können. Die Moralverkündigung, die viele Gläubige, eben auch jene Priester und Ordensleute, die großenteils älteren Jahrgängen zugehören und deren Verfehlungen meistens viele Jahre zurückliegen, erlebt und verinnerlicht haben, ist vor allem durch einen (oft auch noch kirchenrechtlich gefassten) Forderungscharakter und eine hohe Idealität geprägt, die sich im Hinblick auf die tatsächlich erlebten Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Nöte nur selten als wirklich hilfreich erweisen.
Dabei hat sich während der letzten Jahre in der Moraltheologie viel bewegt, insofern als die Befähigung von Personen zum moralischen Entscheiden und Handeln gegenüber einer aktzentrierten Gebots- und Verbotsmoral in den Vordergrund getreten ist. Das Stichwort von der „Könnensethik“ (als Ergänzung zur Sollensethik) macht die Runde.
Eine selbstkritische Auseinandersetzung ist ebenso in der theologischen Sexualethik nötig: Die tatsächliche Verbreitung des sexuellen Missbrauchs (nicht nur bei Priestern und Ordensleuten, sondern auch in Familien und im familiären Umfeld, was die derzeitige Diskussion geflissentlich oder soll man sagen: doppelmoralisch ausfiltert) kontrastiert mit einer seltsamen Hilflosigkeit der Moraltheologie: Die traditionelle hat außer gelegentlichen Abqualifizierungen keine Kategorien zur Verfügung, um dieses Problem überhaupt einzuordnen, zu bewerten und präventiv anzugehen, und die jüngere bleibt sprachlos, weil das ganze Feld der Beziehungs- und Sexualpraxis disziplinär überreguliert und die Erörterung der mit der Sexualität zusammenhängenden drängenden Probleme und in Frage kommenden Lösungen nicht wirklich gewünscht und teilweise sogar riskant ist.
Unendlich viel Energie und Denkpotenzial wird in der Kirche verschwendet auf (man könnte auch weniger wertend sagen: ist gebunden durch) Fragen, die überhaupt nur noch verstehen kann, wer die kasuistische Tradition kennt und an lückenloser Konsistenz mit ihr interessiert ist, die aber die überwiegende Mehrzahl der Gläubigen längst für sich „abgehakt“ hat. So muss im kirchlichen Binnenraum immer noch heftigst über die Erlaubtheit empfängnisverhütender Mittel und von Kondomen als Schutz vor HIV-Infizierung gestritten werden, während die gesellschaftliche und rechtliche Entwicklung längst das Thema Formen körperlicher und seelischer Gewalt gegenüber dem Kind entdeckt hat (vgl. HK, Juli 2008, 335ff.). Bei den wirklich wichtigen Fragen in diesem Bereich (Kommunikationsunfähigkeit, Gewalt, interkulturelle Brüche, Pornografie, Sucht, Verachtung, komplette Verdinglichung usw.) fühlen sich viele von der Kirche allein gelassen.
Diese Kluft zwischen den Überzeugungen vieler, ja sehr vieler Katholiken und manchen Positionen der kirchlichen Sexuallehre darf den Verantwortlichen nicht gleichgültig sein. Niemand wird eine Totalrevision erwarten. Aber schon eine Beschränkung auf das Wesentliche und Zurückhaltung bei den umstrittenen konkreten Fragen sowie die Ermutigung an die Theologen, die vorhandenen Probleme ohne Scheu und Angst anzugehen, wären hilfreich und könnten das von vielen schlechten biografischen Erfahrungen so belastete Image der Kirche in Sachen Sexualität vom Odium der Lernunfähigkeit befreien.
Es wäre bedauerlich, wenn das Wertvolle ihrer Tradition stumpf würde wegen Stagnation infolge des Fixiertseins auf vergleichsweise Nebensächliches. Und was die Verkrampftheit und Überstrenge jener Moral betrifft, die viele der jetzt offenbar gewordenen „Missbraucher“ in ihrer kirchlichen Sozialisation und in ihrer beruflichen Ausbildung kennen gelernt haben, so ist der Beitrag über die „Pathologie des katholischen Christentums“, den der ohne Zweifel gut katholische Psychiater Albert Görres zu dem von Karl Rahner besorgten Handbuch der Pastoraltheologie geschrieben hat, auch nach mehr als vier Jahrzehnten aufschlussreich und lesenswert.
Was eigentlich ist ein guter Katholik?
Angesichts der Missbrauchsfälle gilt es aber auch die Ideale der Spiritualität zu überprüfen: Die biografisch unerlässliche Herausbildung der eigenen Geschlechtsidentität und die Einstellung zur Sexualität reichen bis in die Spiritualität und können von hier Anregung, Bestärkung, aber auch Blockierung erfahren. Ohne in diesem Feld individuellen Bedürfnissen und lokalem Brauchtum etwas wegnehmen zu wollen, gibt es gerade in der katholischen Lebenswelt Erscheinungsformen von Frömmigkeit, die unter dem Aspekt der Unterstützung psychosexueller Reifung kritischer Überprüfung bedürfen: die Verehrung Mariens als geschlechtsloser Kindfrau etwa (man vergleiche nur einmal Lourdes- und Fatima-Figuren mit mittelalterlichen oder barocken Madonnen), gewisse Idealisierungen von Reinheit und Keuschheit (warum soll eine Familienmutter im Vergleich zu einem Mädchen einen „Makel“ haben?), die Vorbildlichkeit mancher Heiligen, die dieses Ideal verkörpern oder bei denen in der Tradition einseitig auf die Distanzierung von allem Geschlechtlichen abgehoben wurde (etwa beim heiligen Aloysius), die Nachrangigkeit von Ehe und Elterlichkeit gegenüber Zölibat und Jungfräulichkeit (in abgeschwächter Form noch in dem nachsynodalen Apostolischen Schreiben Johannes PaulsII. von 1981 „Familiaris consortio“, Nr. 16) und anderes mehr.
Schließlich müssen wir auch das Bild eines „guten Katholiken“ hinterfragen: Wenn wir wirklich wollen, dass unsere Kinder auch „Nein“ sagen können, wenn ihnen Blicke, Handlungen und Vertraulichkeiten zugemutet werden, die ihnen fremd und unangenehm sind, dann muss auch gefragt werden, was die Zielperspektive für die religiöse Erziehung, die seelsorgliche Begleitung, die katechetische Bewusstseinsbildung, den Unterricht über Religion im Rahmen der Schule, die liturgische Verkündigung und die sittliche Erbauung ist: der hörende und die kirchlichen Vorgaben fraglos oder mit dem eingeforderten religiösen Gehorsam des Geistes sich zu eigen machende Gläubige oder eine selbstständige, starke Persönlichkeit, die Verantwortung übernimmt, die in ihrem Suchen und Denken ermuntert wird, deren Meinung gefragt und ernst genommen wird, die weiß, dass Rat geben und sich Rat geben lassen zur Verbesserung der Einsicht beiträgt?
Das ist eine Anfrage an die Kultur kirchlicher Verkündigung, kirchlicher Beratung und Gremienarbeit sowie der Praxis der Seelsorge bis in die Mitwirkung von Verbänden und Einzelpersonen in der Politik hinein. Und es betrifft auch den Umgang mit Sexualität, Lebensformen, Erziehung, Familienkonstellationen und Beziehungsqualitäten. Denn eine starke Identität, Selbstbewusstsein, die Wahrnehmung von Gefühlen und eben auch das Wissen um den eigenen Körper und die Sprachfähigkeit bei sexuellen Themen sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass Kinder und Jugendliche sich gegen Grenzverletzungen bis hin zum Missbrauch wehren können. Wenn Kirche als Raum von Respekt, Achtung, Wertschätzung, Ermutigung, Stärkung sowie des Willens, auch Andersartigkeit auszuhalten, erfahren wird, dann entfällt auch die Grundlage für Strategien der Heimlichtuerei, der Sprachlosigkeit, des Ausweichens und des Sichverstellens.
Im Verlauf der Aufdeckung der Missbrauchsfälle hat sich gezeigt, dass die kirchlichen Maßnahmen, die bisher bei Missbrauchsvorwürfen vorgesehen waren, Wegschauen, Leugnen, Vertuschen und sogar Beschweigen der Verfehlungen begünstigen können. Was im Inneren eines Internats oder Konvents vorgeht, scheint wie durch einen Ringwall davor geschützt, nach außen zu dringen oder von außen bearbeitet zu werden. Die damit verbundenen Strukturen sind es vor allem, die derzeit die Glaubwürdigkeit so strapazieren. Gegen diesen Verdacht der Begünstigung und Verdunkelung hilft nur größtmögliche Transparenz. Und die sollte im Interesse der Glaubwürdigkeit gewichtiger sein als die Vorbehalte gegenüber der staatlichen Strafverfolgung, für die es durchaus gute Gründe geben mag.
Hat das alles nichts mit „dem System“ zu tun? Wer darauf so reflexhaft rasch mit „Nein“ antwortet wie ein bekannter Journalist, der der katholischen Stimme in der Politik mehr Gewicht verschaffen möchte, muss sich schon nach kurzem durch die erschütternde Dynamik der Fallzahlen eines Besseren belehren lassen.
Andererseits reichen auch verbesserte Richtlinien und die konsequentere Androhung und Durchführung von Strafmaßnahmen nicht aus, um zukünftig Fälle sexuellen Missbrauchs zu vermeiden und das Vertrauen in die Kirche und deren Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wiederherzustellen. Hierzu müssen auch bestehende Mauern des Schweigens, der Angst und der Belohnung von Angepasstheit durchbrochen und die Kultivierung neuer Sensibilitäten auf dem höchst komplizierten Feld menschlicher Beziehungen in Gang gebracht werden.
Vielleicht hilft aber auch der Blick auf jene Instrumente, die anderswo in der Gesellschaft entwickelt wurden, als Skandale offenkundig wurden: die Erarbeitung von Leitbildern durch die Mitarbeiter selbst, die Erstellung ethischer Codices, Compliance-Regeln, Checklisten für Einstellungen in sensiblen Bereichen, zentrale Monitoring-Systeme, bei denen potenzielle Täter eine entsprechende Veranlagung, gefährliche Situationen und auch Vorkommnisse freiwillig melden und Hilfsangebote abrufen können, Vertrauensleute, bei denen Missbrauchte oder Missbrauchs-Gefährdete Beschwerden und Sorgen darlegen können. Hier gibt es noch vieles zu tun; ermutigend, dass viele Verantwortliche das jetzt erkannt haben.