Zur Diskussion um Grundsicherung und LohnabstandsgebotAuskömmliche Erwerbsarbeit?

Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Grundsicherung für Arbeitsuchende, deren Lebenspartner und Kinder stellte im Frühjahr der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle diese Grundsicherung und deren Bezieher unter massiven Verdacht. Nicht das Lohnabstandsgebot, sondern das Gebot ausreichend hoher Arbeitseinkommen wird in der Bundesrepublik zunehmend verletzt.

„Mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar“. So urteilte im Februar der erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes über das zweite Buch des Bundessozialgesetzes (SGBII) und die dort vorgesehene Grundsicherung für Arbeitsuchende, deren Lebenspartner und Kinder. Die Karlsruher Richter monierten nicht die Höhe der Grundsicherung, sondern die Art der Festsetzung: Bei der statistischen Erhebung des Existenzminimums wurden willkürliche Abstriche und Verschiebungen von Referenzjahren vorgenommen.

Für Kindern wurde der Bedarf über einen Abschlag von 40 Prozent auf die Regelleistung für Alleinstehende festgelegt – und damit dem spezifischen Bedarf von Kindern etwa für ihre schulische Ausbildung nicht Rechnung getragen. Ebenso wenig wurden die besonderen Bedarfe etwa von chronisch Kranken berücksichtigt, die über die Pauschalen der Grundsicherung nicht gedeckt werden können. Wegen dieser und ähnlicher Mängel kam der erste Senat zu dem Schluss, dass die im SGBII vorgesehene Grundsicherung dem Auftrag der Verfassung nicht genügt, „jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu (sichern), die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“. Durch das Grundgesetz und die darin aufgegebene Verpflichtung, die Menschenwürde eines jeden in der Bundesrepublik lebenden Menschen zu achten, ist der bundesdeutsche Staat – so heißt es in den Leitsätzen zum Urteil – zu einer solchen Grundsicherung unbedingt verpflichtet.

Geistiger Sozialismus?

Die politisch Verantwortlichen in Berlin waren auf dieses Urteil vorbereitet. Durch langjährige öffentliche Kritik kannten sie bereits die Mängel der von ihnen Anfang dieses Jahrzehnts weitgehend gemeinsam beschlossenen Grundsicherung im SGBII. Eigentlich hätten sie diese Mängel auch ohne das harsche Urteil aus Karlsruhe beseitigen können, hatten dies jedoch – von einigen sporadischen Änderungsversuchen abgesehen – erst einmal abgewartet. Weil daran aber nichts unerwartet war, konnten sie gleich nach der Urteilsverkündung über Handlungsbedarfe und deren finanziellen Auswirkungen, wenn auch nicht einheitlich Auskunft geben.

Einer hingegen, der Bundesaußenminister und Vizekanzler Guido Westerwelle, wartete erst einige Tage der öffentlichen Diskussion ab – und holte dann weit aus: Er warnte vor „spätrömischer Dekadenz“ und „anstrengungslosem Wohlstand“. Mit diesen und ähnlichen Eskapaden stellte er die Grundsicherung für Erwerbslose und deren Bezieher unter Verdacht. Groß war die Empörung, heftig die Kritik; und selbst der Kanzlerin war der populistische Vorstoß ihres Stellvertreters offenkundig peinlich.

Doch Westerwelle machte unbeirrt weiter – und erklärt sich: Er habe doch nur an das Lohnsabstandsgebot erinnert und das Vorrecht derer verteidigt, die im Schweiß ihres Angesichts hart arbeiten. „Wenn man in Deutschland schon dafür angegriffen wird, dass derjenige, der arbeitet, mehr haben muss als derjenige, der nicht arbeitet, dann ist das geistiger Sozialismus. (...) Wer arbeitet, darf nicht mehr und mehr zum Deppen der Nation gemacht werden.“

Mit seiner Forderung nach dem Lohnabstand von „Hartz IV“ habe er, so diagnostizierte er die öffentliche Aufregungen über seine Auslassungen, ein Tabu gebrochen. Allerdings kann so viel Tabu nicht gewesen sein. Wie in den vielen Talkshows zuvor, bestätigen sich auch nach Westerwelles Einlassungen die immer selben Kundigen in immer wieder den gleichen Runden über „Hartz IV“, dass die Grundsicherung für Erwerbslose den notwendigen Abstand zu den Erwerbseinkommen halten, dass also das Lohnabstandgebot eingehalten werden müsse.

Das Lohnabstandsgebot wird von niemandem ernsthaft in Frage gestellt, was nicht überraschen muss: Auch wenn es so nicht im Grundgesetz steht, ist die Bundesrepublik – wie kaum eine andere der westeuropäischen Gesellschaften – eine Arbeitsgesellschaft, in der die Menschen einerseits in die Erwerbsarbeit hineingedrängt werden, in der andererseits die mit der Erwerbsarbeit verbundenen Probleme und Risiken gesellschaftlich bearbeitet und in der über die Erwerbsarbeit Ansprüche auf gesellschaftliche Zugehörigkeit und Beteiligung erfüllt werden.

Um aber die Einzelnen zur Erwerbsarbeit anhalten zu können, mussten in der Vergangenheit alternative Einkommensformen und Subsistenzmöglichkeiten abgebaut werden, so dass zumindest den Menschen ohne ausreichend hohe Vermögen einzig der Verkauf des eigenen Arbeitsvermögens als legitime Einkommens- und Unterhaltsquelle geblieben ist. Um keine Alternative zu dieser Einkommensquelle zu schaffen, darf der Sozialstaat seine zur Absicherung der Erwerbstätigen vorgesehenen Ersatzeinkommen nur befristet und für typische Situationen des Ausfalls von Arbeitseinkommen vorsehen und muss alle Formen der Grundsicherung in ausreichendem Abstand zu den niedrigsten Erwerbseinkommen (und übrigens auch zu den zuerst genannten Ersatzeinkommen) halten.

Das Lohnabstandsgebot ist für die Arbeitsgesellschaft geradezu konstitutiv

Dieses Lohnabstandsgebot ist für die Bundesrepublik als einer Arbeitsgesellschaft geradezu konstitutiv und wird gesellschaftlich breit akzeptiert. Der von Guido Westerwelle gesuchte Dissens kann daher nicht im Grundsätzlichen liegen. Vielleicht wurde der Vizekanzler deshalb nachträglich konkret: „Wer kellnert, verheiratet ist und zwei Kinder hat, bekommt im Schnitt 109 Euro weniger im Monat, als wenn er oder sie Hartz IV bezöge“, rechnete er die faktische Missachtung des Lohnabstandsgebots vor.

Die Rechnung hat zunächst einmal eine gewisse Logik: Bei den Leistungen nach dem vierten Hartz-Gesetz, also bei dem ArbeitslosengeldII (Alg II), geht es um eine existenzsichernde Grundsicherung, die dem Verfassungsauftrag genügen soll. Entsprechend reflektieren diese Leistungen den Bedarf in den jeweiligen Haushalten der Erwerbslosen und wachsen daher mit der Größe der Haushalte. Erwerbseinkommen hingegen ergeben sich aus den vertraglichen Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber über die Entlohnung der vertraglich überlassenen Arbeitskraft. Diese reflektieren die Größe des Haushaltes, in dem der Arbeitnehmer lebt, und mithin auch den mit zunehmender Größe wachsenden Bedarf nicht.

Die Zahl der „Hartz IV-Aufstocker“ nimmt deutlich zu

In vergangenen Zeiten hatte man in der katholischen Soziallehre genau diesen Sachverhalt beklagt und wollte – in Verkennung der Möglichkeiten des Erwerbsarbeitsverhältnisses – den Arbeitslohn als Familienlohn. Doch war man damit nicht erfolgreich. So sieht das Erwerbseinkommen der in der Bundesrepublik beschäftigten Arbeitnehmer mit nur wenigen und dabei auch noch abnehmenden Ausnahmen von deren Familienstand und Haushaltsgröße ab.

Diesen Misstand kompensiert der Steuer- und Sozialstaat, in dem er zum Beispiel die Lasten der Kinderversorgung und -erziehung bei der Einkommenssteuer als Minderungsgrund anerkennt oder den Haushalten mit Kindern Kindergeld zahlt. Sollte die vom Vizekanzler aufgemachte Rechnung stimmen, dann reichen aber diese Vergünstigungen nicht aus, um die Bedarfe der Kinder zu decken. Die im SGBII vorgesehenen zusätzlichen Leistungen der Grundsicherung für Kinder (seit 2009: 215 bis 287 Euro) liegen jedenfalls höher als das Kindergeld, das die Beschäftigten erhalten (seit 2010: 184 beziehungsweise 190 Euro). Dabei wird das Kindergeld bei den ALG II-Beziehern vollständig angerechnet; diese Regelung wurde im April vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform bestätigt. So aber besteht die politische Aufgabe, die Beschäftigten mit Kindern besser zu unterstützen und zwar insbesondere die Beschäftigten mit niedrigen Einkommen.

Doch selbst wenn Alg II-Bezieher für ihre Kinder etwas mehr als das Kindergeld erhalten, das Beschäftigte für ihre Kinder beziehen, stimmt die Rechnung des Vizekanzlers nicht. Erwerbstätige, die sich in der unterstellten Situation befinden, haben nämlich über das Kindergeld hinaus Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen, vor allem auf Wohngeld und Kinderzuschlag. So aber können sie ihr Haushaltseinkommen – so die korrigierte Rechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – um über 500 Euro im Monat steigern und kommen deutlich über der Grundsicherung für Erwerbslose in der selben Haushaltskonstellation.

So schlimm, wie der Vizekanzler die sozialstaatliche Unterversorgung von gering verdienenden Haushalten mit Kindern sieht, ist sie in der Realität nicht, woraus der nun aber nicht den Schluss ziehen sollte, es gäbe bei den Familien mit geringen Lohneinkommen keinen akuten Handlungsbedarf. Jedoch sollte er, träfe er in seinem Bonner Wahlkreis auf einen realexistierenden Kellner mit zwei Kindern, diesen besser auf seine bestehenden Ansprüche, als auf die Verletzung des Lohnabstandsgebots aufmerksam machen.

Doch nicht nur in Westerwelles Beispiel, sondern auch in allen anderen denkbaren Konstellationen stehen Erwerbstätige selbst mit geringen Einkommen besser als ALG II-Bezieher dar, sofern sie vollzeiterwerbstätig sind. Dies konnte der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer Vielzahl von Beispielsrechnungen nachweisen. Ob nun die Arbeitseinkommen oder Haushaltszusammensetzung und -konstellation variiert wurde: In keinem Fall konnten die die Bezieher von Alg II mit ihren Haushaltseinkommen die vollzeiterwerbstätigen Beschäftigtem überholen, wenn denn deren sozialstaatliche Ansprüche vollständig berücksichtigt werden.

Sieht der Vizekanzler arbeitslose „Hartz IV“-Bezieher auf der einen und arbeitende Beschäftigte auf der anderen Seite, so gibt es in der Realität viele Erwerbstätige, die nur mittels aufstockender Sozialleistungen nach SGBII auf das Niveau der Grundsicherung kommen. Im Volksmund und in Expertenkreisen nennt man diese wachsende Gruppe von Beschäftigten „Hartz IV-Aufstocker“. Während sich die Zahl der arbeitslosen Alg II-Empfänger von 2,827 Millionen im September 2005 auf 2,206 Millionen im September 2009, also um rund 22 Prozent verringert hat, hat sich im selben Zeitraum die Zahl der erwerbstätigen Hartz IV-Aufstocker von 951000 auf 1,366 Millionen, also um 43,6 Prozent erhöht.

Inzwischen kommen rechnerisch auf zehn Arbeitslose im Hartz IV-System sechs erwerbstätige Hartz IV-Empfänger. Auch bei der Aufstockung wird übrigens das Lohnabstandsgebot eingehalten. Bei der aufstockenden Grundsicherung werden nämlich die unzureichenden Erwerbseinkommen so angerechnet, dass durch die Erwerbstätigkeit das tatsächlich verfügbare Gesamteinkommen der Betroffenen höher liegt als die Regelleistung des Alg II.

Zu geringe Löhne und zu wenig Vollzeitbeschäftigung

Nach Auskunft des Instituts für Arbeitsmarktforschung leben die Aufstocker zumeist in Single-Haushalten (vgl. Martin Dietz u. a.: Warum Aufstocker trotz Arbeit bedürftig bleiben, in: IAB Kurzbericht 2/2009). Dass Erwerbstätige auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind, lässt sich somit nicht durch die Anzahl der zusätzlichen Haushaltsmitglieder erklären. Der kleinere Teil der Aufstocker arbeitet in Vollzeit und dies zu derart geringen Stundenlöhnen, dass sie nur mit ergänzenden Sozialleistungen auf das Grundsicherungsniveau kommen. Die durchschnittlichen Stundenlöhne der Aufstocker liegen in Westdeutschland bei sieben, in Ostdeutschland bei sechs Euro. Viele von ihnen, knapp 30 Prozent im Westen und 39 Prozent im Osten, verdienen jedoch weniger als fünf Euro pro Stunde.

Der größere Teil der Aufstocker ist aber nicht (allein) wegen geringer Stundenlöhne, sondern wegen eines zu geringen Arbeitsumfangs auf ergänzende Leistungen angewiesen. Zumeist sind die Aufstocker nämlich nicht vollzeiterwerbstätig, wobei sich die Betroffenen mehrheitlich um die Ausweitung ihrer Beschäftigung bemühen. Die Minderheit, die sich mit ihrer Nichtvollzeiterwerbstätigkeit „begnügt“, hat dafür unterschiedliche, aber allesamt gute Grunde: Die Bertoffenen haben gesundheitliche Probleme und würden eine Vollzeitarbeit nicht durchstehen; sie finden vor Ort keine ausreichende Kinderbetreuung vor; oder sie sind in der Pflege von Familienangehörigen involviert. Dass zunehmend mehr Erwerbstätige auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind, hat also mit ihren zu geringen Löhnen, mit fehlender Vollzeitbeschäftigung oder mit fehlenden Möglichkeiten zu tun, eine Vollzeitstelle annehmen zu können.

Grundsicherung in Zeiten des Niedriglohns

Die Hartz IV-Aufstocker sind keineswegs die einzigen Erwerbstätigen, die sich und die Ihren mit ihren Arbeitseinkommen nicht „über den Monat“ bringen können und deshalb auf sozialstaatliche Unterstützung angewiesen sind: etwa Wohngeld und der Kinderzuschlag, mit deren Hilfe Erwerbstätige ihr geringes Arbeitseinkommen ihrem tatsächlichen Haushaltsbedarf anpassen müssen. Dabei nimmt die Zahl der niedrig entlohnten Beschäftigten seit Mitte der neunziger Jahre deutlich zu; zugleich driften selbst deren niedrige Löhne zunehmend auseinander, konnten sich also besonders niedrige Löhne durchsetzen.

Nach Auskunft des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen arbeitet inzwischen mehr als jeder fünfte Beschäftigte für Stundenlöhne unterhalb der Niedriglohnschwelle. Im Durchschnitt verdienten die rund 6,5 Millionen Niedriglohnbeschäftigten im Jahr 2006 in Westdeutschland 6,89 Euro und in Ostdeutschland 4,86 Euro brutto pro Stunde – und damit etwas weniger als in den beiden Vorjahren.

Die Zunahme von Niedriglöhnen betrifft alle Beschäftigungsformen, verschoben haben sich allerdings deren Anteile: Während der Anteil der Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor zwischen 1995 und 2006 gesunken ist, ist der Anteil der mit geringen Arbeitszeitvolumen gestiegen. Im internationalen Vergleich fällt auf, dass in der Bundesrepublik ein hoher Anteil der Niedriglohnbeschäftigten nicht aus dem Kreis der gering Qualifizierten stammt. Rund drei Viertel aller Niedriglohnbeschäftigten haben eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen akademischen Abschluss.

Dass wir es in der Bundesrepublik mit einer Zunahme niedrig entlohnter Beschäftigung und dabei noch einmal mit sinkenden Niedriglöhnen zu tun haben, ist auch das Ergebnis entsprechenden politischen Willens. Diese Entwicklung ist durch die sozialpolitischen Reformen seit der Agenda 2010 bewusst forciert worden. Weil man den Niedriglohnsektor als Einstieg in Beschäftigung ausgemacht hat, baute man die Möglichkeiten ab, sich mit Hilfe der Arbeitslosenunterstützung niedrig entlohnter Arbeit zu verweigern, und fördert und fordert statt dessen Erwerbslose in diese Form der Beschäftigung hinein (vgl. Juliane Achatz und Mark Trappmann, Wege aus der Grundsicherung, IAB-Kurzbericht 28/2009).

Unter den Bedingungen eines wachsenden und zudem nach unten hin absackenden Bereichs niedrig entlohnter Beschäftigung entsteht dem Sozialstaat ein grundlegendes Problem: Im Vollzug eines Verfassungsauftrags sichert er einerseits „von unten her“ ein basales Einkommen für alle, die es brauchen. Dieses Einkommen ist normativ bestimmt, so es jedem – so die Karlsruher Verfassungsrichter – diejenigen materiellen Voraussetzungen sichern soll, „die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“. Dieser Auftrag ist zwar nicht in Euros und Cent bestimmt, kann jedoch nicht nach Belieben nach unten hin ausgelegt werden. Stattdessen muss die Höhe der Grundsicherung – so die Verfassungsrichter in ihrem Urteil – vom Mindestbedarf einer menschenwürdigen Lebensführung her ausgewiesen werden.

Andererseits fördert und fordert derselbe Sozialstaat in Vollzug seiner neuen „Aktivierungsstrategie“ die von Erwerbslosigkeit Betroffenen oder Bedrohten in niedrig entlohnte Beschäftigung und lässt zudem zu, das deren niedrige Löhne weiter sinken. Damit trägt er für eine Beschäftigung Mitverantwortung, die nicht nur auf den Bedarf menschenwürdigen Lebens keine Rücksicht nimmt, sondern mehr noch diesen Bedarf faktisch unterschreitet.

So bringt er sich selbst in den Zugzwang, die von ihm mit in niedrigentlohnte Beschäftigung gebrachten Erwerbstätigen mit ergänzenden Sozialleistungen auf das Einkommensniveau bringen zu müssen, die „für ihre physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“.

Obwohl er „nur“ ein zu geringes Arbeitseinkommen ausgleichen will, subventioniert der Sozialstaat auf diesem Wege niedrig entlohnte Beschäftigung – mit der Gefahr, dass dies von den Unternehmen zu ihren Zwecken missbraucht wird. Selbst wenn diese ihre Stundenlöhne weiter absenken, können sie sich darauf verlassen, dass der Sozialstaat die deshalb niedrigen Arbeitseinkommen ausgleichen wird, und sie daher Arbeitnehmer finden werden, die trotz der niedrigen Löhne bei ihnen zu arbeiten bereit sind. Dies gilt zumal, wenn sie auf die sozialstaatliche Arbeitsförderung setzen können, dass die deren „Kunden“ in ihre Arbeitskraftnachfrage hinein fördert und fordert.

Der Sozialstaat bringt sich selbst unter Zugzwang

Diese Form eines „Kombi-Lohns“ trägt dazu bei, dass erstens die niedrigen Löhne weiter abgesenkt werden können und dadurch der Aufstockungsbedarf weiter steigt und dass zweitens zunehmend mehr Arbeit in den Bereich niedrigst entlohnter Beschäftigung gebracht wird und damit das Ausmaß der aufzustockenden Arbeitseinkommen zunimmt. So schafft sich der Sozialstaat einen wachsenden Bedarf nach seinen Leistungen und sorgt dafür, dass er zunehmend in Anspruch genommen wird.

Dass der Sozialstaat Erwerbstätigen über den notwendigen Kinderlastenausgleich hinaus über den Monat hinweg helfen muss, ist auch in einer explizit normativen Hinsicht problematisch. Wenn die Grundsicherung einen hinreichend großen Abstand zu den Erwerbseinkommen halten muss, um die arbeitsgesellschaftliche Nötigung zur Erwerbsarbeit nicht zu gefährden, dann müssen im Gegenzug die Erwerbseinkommen mindestens so hoch sein, das sie oberhalb der Grundsicherung liegen. Dass die Nötigung in die Erwerbsarbeit gesellschaftlich so breit akzeptiert wird, hat mit der allgemeinen Erwartung zu tun, über die Erwerbsarbeit, zumeist abhängige Beschäftigung, ein ausreichend hohes Einkommen erzielen zu können, über das man selbständig ohne weitere Rechenschaftspflichten verfügen kann und das zugleich ausreicht, ein Leben mit den Seinen so führen zu können, dass man in Augenhöhe mit allen anderen in der Gesellschaft leben kann, in der man nun einmal mit ihnen lebt.

Zu einer Arbeitsgesellschaft wie der Bundesrepublik gehört also nicht nur die Nötigung zur Erwerbsarbeit, sondern zugleich und diese Nötigung legitimierend das Versprechen, von der Erwerbsarbeit seinen Lebensunterhalt selbständig bestreiten zu können. Erst über ein entsprechend auskömmliches Einkommen ist Erwerbsarbeit „vollständig“ und ist dann die Erwerbsarbeit, von der die politisch Verantwortlichen erwarten können, dass es zur vollen Zugehörigkeit zur Gesellschaft und zur gleichberechtigten Beteiligung beiträgt.

Nicht das Lohnabstandsgebot, sondern dieses Gebot ausreichend hoher Arbeitseinkommen wird in der Bundesrepublik zunehmend verletzt. Die, in den Worten Westerwelles, „Deppen der Nation“ sind mithin die Menschen, die dem arbeitsgesellschaftlichen Gebot, erwerbstätig zu sein, nachkommen, denen gegenüber aber das arbeitsgesellschaftliche Versprechen, von der eigenen Erwerbsarbeit mindestens auskömmlich leben zu können, nicht eingelöst wird.

Nicht erst die jetzige Bundesregierung hat dieses Gebot aus den Augen verloren – und in Antwort auf die strukturelle Massenarbeitslosigkeit niedrig bezahlte Erwerbsarbeit forciert. Man hat dies in den besten Absichten betrieben, Erwerbslose erst einmal „in irgendeine Arbeit“ zu bringen und ihnen von da aus die volle Zugehörigkeit zur Gesellschaft und zudem den Aufstieg zu besser bezahlter Arbeit zu ermöglichen. Gelungen ist allerdings nur die Ausweitung des Niedriglohnsektors.

Nicht gelungen ist hingegen, dass die niedrigentlohnte Beschäftigung als Einstieg in den sozialen Aufstieg wirkt. Tatsächlich verharren die Betroffenen zumeist in der niedrigentlohnten, häufig zudem befristeten und anderweitig prekären Beschäftigung, wenn sie nicht sogar zwischen Erwerbslosigkeit und niedrig entlohnter Beschäftigung hin und her pendeln. Und nicht gelungen ist die volle Zugehörigkeit zur Gesellschaft, insofern sich der Niedriglohnsektor als eine abweichende Realität der Gesellschaft verfestigt – und für die Betroffenen statt voller Zugehörigkeit eine Position „außerhalb“ der Gesellschaft einbringt, die aber für alle anderen normal ist.

Die dafür politisch Verantwortlichen, ob in Regierung oder im Parlament, könnten daraus eine Lehre ziehen. Unter Bedingungen einer Arbeitsgesellschaft kann der Sozialstaat nicht zugleich den Verfassungsauftrag einer menschenwürdigen Grundsicherung erfüllen und die Erwerbstätigen zunehmend in einen nach unten hin unbegrenzten Niedriglohnsektor drängen. Da ihm aber die Grundsicherung als nicht verhandelbarer Verfassungsauftrag aufgegeben ist, wären sie gefordert, ihre Niedriglohnstrategie aufzugeben. So wie sie durch die Karlsruher Richter zur Revision der Regelungen zur Grundsicherung im SGBII angewiesen wurden, so stehen sie in der Pflicht, dem Gebot existenzsichernder Arbeitseinkommen wieder Geltung zu verschaffen.

Zum Beispiel könnten sie dies durch Mindestlöhne versuchen, so dadurch dem weiteren Absinken der Niedriglöhne ein Riegel vorgeschoben würde. Wenn solche Mindestlöhne und die Grundsicherung besser aufeinander eingestellt würden, könnten sich diese beiden Systeme gegenseitig „stützen“ – und so auch gegen den Missbrauch eines der beiden Systeme geschützt werden. Der systemisch notwendige Lohnabstand würde dann von zwei Seiten, von der Grundsicherung und von den Arbeitseinkommen her, gehalten. Dann müsste der Sozialstaat keine Niedriglöhne mehr aufstocken, die unterhalb des staatlich gesetzten Mindestlohnniveaus liegen.

Allerdings müssten die politisch Verantwortlichen auch dazu beitragen, dass vermehrt Möglichkeiten für eine vollzeitige Beschäftigung und mehr Möglichkeiten bestehen, eine angebotene vollzeitige Beschäftigung auch annehmen zu können. Dafür sind erstrangig ausreichende, zeitlich umfassende und hochwertige Angebote für die Betreuung und Erziehung der Kinder von Erwerbstätigen notwendig. Dies alles wären Herausforderungen, der sich auch eine Regierung zu stellen hätte, sofern die sich aus Karlsruhe ernsthaft an den Verfassungsauftrag zu einer menschenwürdigen Grundsicherung erinnern ließe. Durch die Auslassungen des Vizekanzlers gewinnt man jedoch kein Vertrauen, dass sie dazu willens und konzeptuell in der Lage wäre.

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