Wie selbstverständlich tummeln sie sich in den Schriften der Bibel: die Tiere. Doch wer sich in zeitgenössischer theologischer Literatur auf die Jagd begibt, kann bald aufgeben. Denn auf der großen Landkarte der Theologie gehören sie zur „terra incognita“. Innerhalb der Rede von Gott und den Menschen scheinen sie belanglos zu sein. „Jeder Irrtum über die Geschöpfe mündet in ein falsches Wissen über den Schöpfer und führt den Geist des Menschen von Gott fort“ – schreibt der Kirchenlehrer Thomas von Aquin (Summa contra gentilesII,c3). Im Ringen um eine fundierte Theologie und stimmige Spiritualität also kommt es darauf an, sich möglichst intensiv der Wahrheit auch über die Tiere zu nähern.
Die Hermeneutik des heiligen Thomas ist dabei sehr hilfreich. Werden Tiere zu „seelenlosen Automaten“, wird aus Gott ein intelligenter, aber kalter Designer und die Frömmigkeit eine weltvergessen-verkopfte; Weltferne ist dann identisch mit Gottnähe. Sehen wir unsere Mitgeschöpfe hingegen als zutiefst beseelt, erscheint Gott als „Liebhaber des Lebens“, die menschliche Spiritualität wird naturverbunden und politisch relevant. Sie fordert dann eine Solidarität mit allem, was lebt.
Kann es sein, dass die heutige Theologie irrt, wenn sie über die Tiere schweigt und ihnen damit Irrelevanz attestiert? Und kann es sein, dass im Rahmen einer theologischen Würdigung der Tiere, der „Geist des Menschen“ wieder kraftvoller zum Schöpfer alles Lebendigen führt?
Innerhalb einer solchen theologischen Zoologie braucht es einen transdisziplinären Zugang, in dem evolutions- und verhaltensbiologische Daten mit theologischen Denkfiguren zusammen gelesen werden (vgl. auch HK, November 2006, 580ff.). Welchen Verlauf hätte die europäische Denkgeschichte genommen, wäre die Wertschätzung für die Tiere, wie sie in der Bibel beeindruckenden Ausdruck findet, nicht verloren gegangen? Wäre uns die ökologische Katastrophe erspart geblieben? Hätten wir es mit einer Landwirtschaft zu tun, die selbstverständlich die Würde des Tieres respektiert, anstatt die Millionen von Puten, Hühnern, Kühen und Schweinen zu „Rohlingen innerhalb der Eier-, Milch- und Fleischproduktion“ zu degradieren (vgl. Dezember 2002, 641ff.)?
Und wenn der Respekt vor dem Animalischen im Menschen eingeflossen wäre in die theologische Anthropologie und kirchliche Verkündigung? Wenn Erotik und Sexualität – wie im biblischen Hohen Lied der Liebe des Ersten Testamentes – als ein Ort der Gotteserfahrung wahrgenommen und reflektiert würden, wäre die Kirche dann nicht eine hoch attraktive Zeitgenossin und Expertin in Sachen „Menschlichkeit“? Wo Erotik, Sexualität und Emotionalität – also das Animalische – über ganze Generationen hinweg wie ein wildes Tier weggesperrt wird, darf man sich nicht wundern, wenn es sich in unkontrollierter und oft menschenverachtender Weise zeigt. Wenn der Mensch das Tier in sich verleugnet, wird er nicht zum Menschen.
Am Anfang war das Tier
Noch einmal Thomas, der in der Summa fragt, „ob Adam im Unschuldsstande über die Tiere herrschte“: „Die Menschen bedurften im Unschuldsstande der Tiere nicht für die leiblichen Bedürfnisse, weder zur Bekleidung, weil sie nackt waren und sich nicht schämten (...); noch zur Nahrung, weil sie sich von den Bäumen des Paradieses nährten, noch auch zur Fortbewegung wegen ihrer Körperstärke. Sie bedurften ihrer aber, um sich ein Erfahrungswissen über ihre Naturen anzueignen. Das wurde dadurch angedeutet, dass Gott die Tiere zu ihm hinführte, damit er ihnen Namen gebe, die ihre Natur bezeichnen“.
Thomas fordert also, sich im Prozess der Menschwerdung ein Erfahrungswissen über die Naturen der Tiere anzueignen. Er nennt dies die „cognitio experimentalis“ und buchstabiert somit eine theologische Anthropologie mit dem Gesicht zum Tier, die kulturgeschichtliche Erkenntnisse einerseits und evolutionsbiologische Grundannahmen andererseits vorwegnimmt: der Mensch wird Mensch im Blick auf das Tier.
Das kognitive Experiment, von dem Thomas spricht, stellt ein „Experiment de hominis natura“ dar, betrifft es doch letztlich die Natur des Menschen, genauer aber: die Definition dieser Natur. Animalisches und humanes Leben kommen eben nicht zur Deckung; sonst sind Tier und Mensch nicht denkbar – „und vielleicht auch nicht das Göttliche“ – und deswegen „impliziert das Erreichen des Posthistorischen notwendigerweise die Reaktualisierung der prähistorischen Schwelle, an welcher jene Grenze gezogen worden war“ (Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt 2003, 31).
Im Jahr 1977 sandte die NASA mit dem Satelliten „Voyager“ eine Bildplatte ins All, unter anderem mit dem Ziel, möglichen außerirdischen Intelligenzen über die Lage der Erde im Sonnensystem und die Bewohner des Planeten Auskunft zu erteilen. So würde – am Tage X – der glückliche Finder zuallererst die Abbildung eines Mannes und einer Frau zu Gesicht bekommen. Tatsächlich wird der Mensch als einziger ernst zu nehmender Gesprächspartner dieses Planeten auf dieser Informations-Arche abgebildet, wohingegen alle pflanzlichen und tierlichen Mitbewohner als Kulisse vorgestellt werden.
Das zeugt nicht nur von krasser Ignoranz; denn nach Schätzungen, die sich auf die bisher beschriebene Fauna und Flora sowie auf viele Diskussionen mit Spezialisten stützt, liegt deren absolute Artenzahl zwischen 5 und 30 Millionen. Dass der heutige Rückgang der Artenvielfalt sich unweigerlich dem Ausmaß des Artensterbens während der großen Naturkatastrophen anzunähern scheint, wird nicht erwähnt, geschweige denn mit einer kritischen Analyse der von Menschen gemachten Ursachen verbunden. Dies wäre aber der größte Einschnitt für das Leben auf der Erde seit 65 Millionen Jahren.
Diese „Vergesslichkeit“ ist alles andere als typisch für den Menschen: Am Anfang war das Tier – am Ende steht der Mensch. Die ersten ausdrücklichen Selbstdarstellungen des Menschen haben in verschiedenen Höhlenmalereien ihren Ausdruck gefunden. Nach Durchsicht der ältesten Zeichnungen in 66 Bilderhöhlen kommt man zu dem Ergebnis, dass Tierdarstellungen 62 Prozent der Darstellungen ausmachen, nichtfigürliche Zeichen 34 Prozent, Abbildungen des Menschen aber nur 4.
Es ist erstaunlich, mit welcher Feinheit und Sensibilität, mit was für einer Sicherheit und Schwung der Bildner das Eigentümliche des Pferdes erfasst: eine Paarung von Kraft und Anmut, von Masse und Beweglichkeit, von Wachheit und Ruhe. Ebenso das Mammut, ganz in seine dumpfe Kraft gehüllt, Ausdruck von Macht und Blindheit, Größe, Ruhe, Selbstgenügsamkeit. Das abgebildete Tier diente offensichtlich der Selbst-Entdeckung des Menschen.
Gehören die natürliche Mitwelt und darin wesentlich die Tiere in das komplexe Geschehen der „Menschwerdung“, markiert das Bemühen, im unendlichen Weltall nach Seinesgleichen Ausschau zu halten und dabei die natürliche Mitwelt zur Ressource zu degradieren, eine konträre Einstellung. Es passt zum Verhalten jener Industriegesellschaften, die an „Horden interplanetarischer Eroberer, die eigentlich gar nicht hierher gehören“, erinnern. In dieses Bild des Menschen fasst der Naturphilosoph Klaus-Michael Meyer-Abich seine Diagnose des neuzeitlichen Menschen, der möglicherweise nicht nur vergesslich ist, sondern in seinem Denken und Handeln einem fatalen Irrtum darüber aufgesessen ist, wie diese Welt und darin der Mensch gemeint ist (vgl. Praktische Naturphilosophie. Erinnerung an einen vergessenen Traum, München 1997).
In Meyer-Abichs Kulturbegriff ist der Verantwortungsgedanke zentral. Die natürliche Mit-Welt, die Nach-Welt und die „Dritte Welt“ sind den Industrienationen fast vollständig aus dem Blick geraten. Dass diese Gesellschaften in die – nicht nur ökologische – Krise geraten sind, hat seinen Grund in der Entgegen-Setzung von Natur und Kultur; jener verhängnisvollen „Anthropologie mit dem Rücken zum Tier“.
Der Mensch als Teil einer Werde-Welt
„Neue Köpfe im Familienalbum“ titelte „Die Zeit“ am 15. April 2010: Eine Frau und ein männliches Kind, beide rund zwei Millionen Jahre alt. Dieser Knochenfund aus der südafrikanischen Malapahöhle entzückte die Wissenschaft. Tatsächlich gibt es nun mit Australopithecus sediba wieder einmal Zuwachs in der großen – immer unübersichtlicher werdenden – Menschheitsfamilie. Erst im März wurde der erstaunten Öffentlichkeit Hominin X vorgestellt, der unsere Ahnenreihe bereichert: womöglich ein bislang unbekannter Cousin. Und im vergangenen Jahr hatten Forscher „Ardi“ vorgestellt: Ardipithecus ramidus, eine junge Verwandte aus der Vorzeit unserer Art. Jeder Versuch, einen – womöglich zielgerichteten – Stammbaum zu zeichnen, täuscht eine Gewissheit vor, die nicht besteht. Ebenso wie mit allen Lebewesen hat die Evolution auch mit der Art Homo sapiens verschiedene Varianten durchgespielt.
Die Autoren der biblischen Schöpfungsgeschichten hätten mit diesen Entdeckungen vermutlich weniger Probleme als manch Gläubige heute, in deren Credo der Mensch immer noch Ziel einer auf ihn hin ausgerichteten Evolution beziehungsweise Schöpfung sein muss. Beide Texte wurden von einem Redaktor um 500 v. Chr. zusammengestellt; sie differieren in ihren Vorstellungen stark, vor allem auch in der Reihenfolge der Schöpfungswerke. Während für den Hymnus Gen 1 der Mensch als letztes Lebewesen auftritt (er muss sich den 6. Schöpfungstag allerdings mit den Tieren teilen!), spricht die Erzählung Gen 2 mythisch vom Adam, dem Erdling, und somit nicht zweigeschlechtlich differenzierten Menschen als erstem Lebewesen. Dadurch dass der Redaktor beide Texte zusammenstellte, gab er auch zu erkennen, dass es ihm nicht auf ihre divergierenden Weltbilder ankam und anders als Kreationisten und ihre atheistischen Kontrahenten meinen, gerade keine naturwissenschaftliche Aussagen machen wollte. Ihm ging es um die religiösen Grundaussagen beider Texte, die sich nicht widersprechen, sondern ergänzen.
Es überrascht, dass beide Texte zwar nicht evolutiv, aber eben auch nicht anti-evolutiv denken; sie zeigen sich als keineswegs verschlossen gegen einen Evolutionsgedanken: Die von Gott begründete Welt soll ja selber kreativ sein („das Wasser“ beziehungsweise „die Erde bringe hervor“ wie dreimal gesagt wird: Gen 1,11f. 24) und genau dies wird als Gottes Schaffen verstanden („die Erde bringe hervor (...), und so geschah es; Gott machte/schuf…“: Gen 1,21.25). „Würden die Verfasser heute leben, so würden sie ihre Botschaft im Rahmen einer evolutiven Weltsicht darlegen, wie es zum Beispiel Teilhard de Chardin, Karl Rahner, Wolfhart Pannenberg, Jürgen Moltmann und viele andere getan haben, oder in dichterischer Form Ernesto Cardenal in seinem Cantico Cosmico“, resümiert Hans Kessler (Evolution und Schöpfung in neuer Sicht, Kevelaer 2009, 72).
Dass innerhalb dieser biblischen „Werde-Welt“ auch der Mensch „wird“, ist selbstverständlich, und dass dieser auch im Blick auf das Tier (das animal) sein Innerstes (die anima) entdeckt und entfaltet, selbstverständlich und brisant zugleich.
Menschwerdung geschieht – mit Martin Buber gesprochen – im Blick auf das Du des Tieres. Wenn Buber sein „Credo“ formuliert: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ und: „Der Mensch wird am Du zum Ich“, macht er deutlich, dass dies mit keinem anthropozentrisch verengten Ausschließlichkeitsanspruch verbunden ist. Damit eine echte Begegnung des Menschen mit dem Tier zustande kommt, geht es nicht darum, das Gegenüber zunächst vermenschlichen zu müssen. Im Geschöpf als solchem begegnet uns ein Du.
Immer wieder sind es Begegnungen mit Tieren, in denen die „Duwelt“ für einen Moment die alles und alle umgebende „Eswelt“ überstrahlt. So beschreibt Buber, wie er sich immer wieder dem Blick einer Hauskatze stellt. „Die Augen des Tiers haben das Vermögen einer großen Sprache. Selbständig, ohne einer Mitwirkung von Lauten und Gebärden zu bedürfen, am wortmächtigsten, wenn sie ganz in ihrem Blick ruhen, sprechen sie das Geheimnis (...) in der Bangigkeit des Werdens aus. Diesen Stand des Geheimnisses kennt nur das Tier, nur es kann ihn uns eröffnen.“
Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, in der sich die Tiere in der Bibel tummeln, haben sie in der Religionsphilosophie Bubers ihren Platz. Und auch Buber sieht die Tiere nicht nur in ihrer selbstverständlichen Beziehung zu ihrem Schöpfer, sondern auch in ihrer Relevanz für den Menschen: Sie sprechen uns an; diese Sprache des Tieres ist ein „Stammeln der Natur unter dem ersten Griff des Geistes“.
Das Projekt einer theologischen Zoologie möchte innerhalb einer solchen „Theologie der Begegnung“ an die biblisch-theologische Würdigung der Tiere und ihre wesentliche Bedeutung innerhalb der Anthropologie erinnern. Ziel ist es, im interdisziplinären Diskurs die biblisch fundierte Verantwortungsethik stark zu machen und die Konsequenzen aus der unleugbaren Verwandtschaft von Mensch und Tier für die Theologie zu bedenken; zugleich geht es darum, das Engagement der Kirche im Bereich „Bewahrung der Schöpfung“ zu verstärken.
Dem Meister der Dialektischen Theologie trauen wahrscheinlich die wenigsten Theologietreibenden ein wertschätzendes Wort zu den Tieren zu. Aber tatsächlich spricht Karl Barth in seiner kirchlichen Dogmatik im Anschluss an Albert Schweitzers Verantwortungsethik über die Ehre der nichtmenschlichen Kreatur: „Ihre Ehre ist die Verborgenheit ihres Seins mit Gott nicht weniger als unsere Ehre das Offenbarsein ist. Denn was wissen wir schließlich, welches die größere Ehre ist? Was wissen wir, ob es sich wirklich so verhält, dass der äußere Kreis der anderen Geschöpfe nur um des inneren, nur um des Menschen willen da ist? Was wissen wir, ob es sich nicht gerade umgekehrt verhält? Was wissen wir, ob nicht beide Kreise, der äußere und der innere, je ihre eigene Selbständigkeit und Würde, je ihre besondere Art des Seins mit Gott haben? Was besagt ihre Verschiedenheit gegenüber der Tatsache, dass der Mensch Jesus als geschöpfliches Wesen beider Kreise Mittelpunkt ist?“ (Kirchliche Dogmatik, Bd. III, Zollikon 1959).
Dies gilt auch für Puten, Hühner, Schweine und Rinder. Tatsächlich isst jeder Bundesbürger im Laufe des Lebens durchschnittlich 4 Rinder, 46 Schweine und 945 Hühner – von anderen Tieren wie Schafen, Kaninchen und Puten einmal abgesehen. Sie alle sind zu Hunderttausenden einer Haltung ausgesetzt, die sowohl ihrer geschöpflichen Würde als auch ihren natürlichen Bedürfnissen in grausamster Weise widerspricht.
Von ihrer Ehre gilt es zu reden: in den Gemeinden, mit den Landwirtinnen und Landwirten. Den wenigsten Menschen in den Kirchen fallen diese Geschöpfe ein, wenn sie von der Bewahrung der Schöpfung reden. Oftmals sind damit „Sonne, Mond und Sterne“ gemeint – oder im Moment das Klima. Hier zeigt jedoch die Vergessenheit des Tieres seine unmittelbarsten Folgen. Von den riesigen Mastanlagen weiß kaum einer und die Haltungsbedingungen interessieren die wenigsten. Von den Verpackungen in den Geschäften lächeln uns fröhliche Kühe und Schweine an; sie verzieren sogar die Transporter, in denen die Tiere (meistens nachts) zu den Schlachtfabriken transportiert werden.
Der Schlüssel zur Veränderung einer industrialisierten Landwirtschaft, unter der auch immer mehr Landwirtinnen und Landwirte leiden, liegt in den Händen der Verbraucherinnen und Verbraucher und damit auch in denen der Christen. In Zusammenarbeit mit dem Vegetarierbund Deutschlands plant das Institut für theologische Zoologie Pilotprojekte in Kirchengemeinden: den Veggie-Tag (einen vegetarischen Tag pro Woche). In der guten alten Tradition des fleischlosen Freitags können Kirchengemeinden über die Einführung eines solchen Tages in den kirchlichen Einrichtungen und gastronomischen Betrieben „guten Willens“ ein Zeichen setzen (Informationen dazu: www.vebu.de).
„Mit zunehmender Erkenntnis werden die Tiere den Menschen immer näher sein. Wenn sie dann wieder so nahe sind wie in den ältesten Mythen, wird es kaum mehr Tiere geben“, so Elias Canetti.