Vielleicht war ja der landläufig für das Wetter zuständig gewähnte Petrus mit seiner sehr jugendlichen Besetzung nicht einverstanden: Jedenfalls hatte er nur vier bis fünf nasskalte Celsiusgrade für den Auftakt der Oberammergauer Passionsspiele 2010 übrig, und die ließen einen selbst eingewickelt in seine „Passionsdecke“ arg frösteln und um einen erkältungsfreien Ausgang des Premierenabends bangen.
Dass das Mitleiden mit dem Jesusdarsteller, der diesen Temperaturen am extremsten ausgesetzt war, dennoch der inneren Teilnahme an der Passion Jesu Christi deutlich nachgeordnet blieb, lag nicht zuletzt an der sichtbarsten, dem Gemeinderat mühsam vom Spielleiter Christian Stückl abgetrotzten Neuerung der Oberammergauer Passion: dass sie erstmals in ihrer bis ins Jahr 1634 zurück reichenden Geschichte am Nachmittag beginnt und erst gegen 23 Uhr endet. Damit ist die lange wertgeschätzte Synchronizität von nachmittäglichem Bühnentod und dem Tod zur neunten Stunde auf Golgotha aufgegeben, und auch manch anderes, was sich so eingespielt hatte – etwa in ökonomischer Hinsicht, wird doch jetzt der Großteil der bei ausverkauftem Haus 4700 Besucher gleich nach Spielende abreisen, statt wie früher nach dem Mittag- auch noch ein Abendessen vor Ort einzunehmen (was die Gastronomie dem Wirtssohn Stückl recht verübeln dürfte).
Der Inszenierung hat die Verlängerung in die Nacht hingegen ganz neue Möglichkeiten eröffnet, und die Regie hat sie bestens genutzt (vgl. auch HK, Februar 2010, 70ff.). Es kann nun mit Abschattungen von Teilen der riesigen Bühne gearbeitet werden, so dass kleinere, intimere Spielräume entstehen; im Dunkel der Bühne gewinnen ein Feuer, wie beim Verrat des Petrus, oder eine österliche Kerzenstafette, wie bei Auferstehungsszene, eindrucksstarke Präsenz. Die deutlich ausgebaute, aber sehr behutsam eingesetzte Beleuchtungstechnik verleiht den großen, panoramischen Fresken der Massenszenen noch mehr Intensität, ja bringt die durch das Figurenarrangement komponierten Farbfelder der Kostüme gleichsam zum Leuchten, aber ohne aufgesetzte Lichteffekte, ohne Spotlights oder Führungslichter, die den Duktus der Inszenierung gebrochen hätten. Auch die erstmals eingesetzten Mikrophone, die dezent im Bühnenraum verteilt sind, unterstützen sehr zurückhaltend die Verständlichkeit und schenken den Darstellern mehr Beweglichkeit.
Freilich hat Stückl im ersten Teil des Spiels demonstriert, wie gut er auch unter Tageslicht zu arbeiten und die vorgegebene statische Architektur der Großbühne dynamisch zu bespielen versteht, etwa bei der Abendmahlsszene, für die durch ein flugs aufgespanntes dunkles Zelt ein intimer nächtlicher Rahmen geschaffen wird.
Die lebenden Bilder sorgten dieses Jahr für den meisten Diskussionsstoff
Dass die Passion 2010 insgesamt einen neuen und sehr geschlossenen visuellen Gesamteindruck hinterlässt, liegt dabei besonders an der Farbdramaturgie: Der Bühnenboden besteht nicht mehr aus Steinplatten, sondern ist bis hinein in die beiden Gassen Jerusalems, die zwischen den drei Bühnenhäusern Durchgänge öffnen, mit einem monochrom blauen Estrich überzogen, und dieses Blau kehrt in vielen Szenen in der ungemein wandlungsfähigen Mittelbühne wieder, wo es sich in verschiedenen Schattierungen vom Boden auch auf Wände, Säulen und Bäume fortsetzt; so etwa in der Getsemani-Szene, die trotz Stückls Ablehnung der Opfer-Theologie von Mel Gibsons „Die Passion Christi“ im Atmosphärischen durchaus etwas von dessen ,bläulicher‘ Garten-Szene atmet. Mit Gibson könnte ebenfalls zu tun haben, dass die Geißelung jetzt blutiger inszeniert ist als vor zehn Jahren (vgl. HK, Juli 2000, 357ff.).
Die größtenteils ebenfalls neu geschneiderten Kostüme reagieren dann ganz unterschiedlich auf das monochrome Ambiente aus dem Blau des Bodens und dem Grau-Braun der Bühnenbauten: Die in leichten Variationen ebenfalls blau gefärbten Gewänder der Jerusalemer Bevölkerung intensivieren den monochromen Effekt, wogegen er durch die sehr farbintensiven, mehrheitlich in Gelb, Orange und Rottönen changierenden Kostüme der Mitglieder des Hohen Rats aufgebrochen wird (die Kopfbedeckungen der Ratsherren sind weiterhin eine Referenz an Piero della Francesca beziehungsweise an Pier Paolo Pasolinis Matthäus-Verfilmung).
Die Römer wiederum haben sich verdunkelt: Pilatus, der 2000 noch eine Art Tunika getragen hatte, erscheint jetzt fast wie ein faschistischer Führer, mit kniehohen schwarzen Stulpenstiefeln, schwarzen Handschuhen und – wie seine Soldaten – in grau-schwarzer Rüstung. Gedeckte weiße und helle Töne sind für Jesus und seine Jünger reserviert, aber auch für seinen Gegenspieler Kaiphas, und für den Chor, dessen edle weißen Roben in den Nachtszenen förmlich strahlen.
Durch die einheitlicheren, ins Monochrome abstrahierten Kostüme wirken die Szenen nicht nur visuell klarer konturiert, sondern entfernen sich zugleich deutlich weiter als noch im Jahr 2000 von der Anmutung des Historischen, ohne dass der historisierende Grundzug aber aufgegeben wäre.
Gerade durch ihre zurückgenommene Farbigkeit lassen die Spielszenen nunmehr jenes Element des Spielaufbaus noch kontrastreicher hervortreten, das zur ureigenen Oberammergauer Tradition gehört und 2010 ebenfalls umfassend erneuert wurde: die lebenden Bilder. Bis auf die letzte wird jede der elf „Vorstellungen“ vom „Einzug in Jerusalem“ bis zur „Begegnung mit dem Auferstandenen“ durch einen sie vorab theologisch qualifizierenden Kommentar des Prolog-Sprechers eröffnet, dem dann jeweils ein, gelegentlich auch zwei lebende Bilder folgen, die durch den Chor gedeutet und in ihrem inneren Bezug zur Jesushandlung transparent gemacht werden.
Weniger bibelfeste Zuschauer werden hier des Öfteren ihre Schwierigkeiten haben, zumal wenn bei fortschreitender Dunkelheit auch das Textbuch nicht mehr zu Rate gezogen werden kann. Die zwölf lebenden Bilder und das immer außerhalb der Zählung geführte programmatische Bild des „Vorspiels“ der Passion 2010 sind teilweise thematisch neu, auch bei Wiederaufnahme eines Themas in ihrem Bildkonzept verändert und allesamt neu konkretisiert – so neu und neuartig, dass sie dieses Jahr für den meisten Diskussionsstoff sorgten.
Der wiederum für das Bühnenbild, die Kostüme und eben auch für die lebenden Bilder verantwortliche Stefan Hageneier, der wie Stückl den Sprung von Oberammergau an große, international bedeutende Bühnen geschafft hat, setzte die biblischen Tableaux Vivants dieses Mal in einer derart knalligen rot-gelb-grünen Farbigkeit gegen die ins Monochrome tendierenden Spielszenen, dass der Kontrast kaum größer sein könnte. Die Bilder oszillieren zwischen Pop Art und der Ästhetik der Chinesischen Revolutionsopern, zitieren bekannte Werke wie die „Große Welle“ von Hokusai (beim neuen zweiten Bild „Moses führt die Israeliten durch das Rote Meer“) und zeigen sich zugleich in der angestrebten Ikonenhaftigkeit des Bildaufbaus laut Hageneier inspiriert „von italienischen Renaissancemalern wie Giotto oder Fra Angelico“ (www.flensburg-online.de/blog/2010–05/die-buhnenbilder.der passionsspiele-2010.in-oberammergau.html; dort auch die folgenden Zitate Hageneiers).
Hageneier versteht seine Bilder als „Andachtsbilder“, die „nicht den Text illustrieren sollen, sondern für sich selbst stehen und assoziative Welten erzeugen“. Er hofft, dass die „Oberflächen der Bilder assoziative Welten (eröffnen), die vom unbekannten Inneren erzählen“. In dieser Hinsicht sind die Tableaux auch ein Nachklang zu Robert Wilsons „14 Stations“, jener Kreuzweg-Installation auf dem Grundriss einer Kathedrale, die im Jahr 2000 neben dem Passionstheater zu begehen war: Was die Besucher seinerzeit beim Blick in die einzelnen Stations-Häuschen zu sehen bekamen, waren Arrangements ohne jeden narrativen Bezug zur jeweiligen Kreuzwegstation; die Verbindungen zu diesen mussten vielmehr assoziativ oder mit dem Symbolsinn erspürt werden.
Hageneier, der wiederholt mit Wilson zusammengearbeitet hatte und die lebenden Bilder sehr eigenständig entwickeln konnte, hält den szenischen Zusammenhang zwar aufrecht, entfernt sich aber zugleich radikal vom Konzept des quasi eingefrorenen Handlungsmoments. Er will die alttestamentlichen Szenen „nicht historisch realistisch im Moment des Geschehens zeigen“, sondern verschiebt die Bilder ins Emblematische. Dazu entkoppelt er zum Beispiel Bildmotive und präsentiert sie einzeln, „wie eine Art Reliquie“, so paradigmatisch gleich beim ersten Bild „Der Verlust des Paradieses“: Die Schlange windet sich nicht mehr um den Baum, sondern wird auf der rechten Seite von einem Engel präsentiert, während ein anderer auf der linken den Zuschauern den Baum und den Apfel entgegenhält. In vielen Bildern wollte Hageneier zudem „eine jenseitige Welt“ andeuten, „eine überirdische Gegenwelt, so dass das Geschehen bereits in der Bilddarstellung in einer gläubigen Perspektive erscheint“. Dazu dienen oft die Wolkenhimmel im Hintergrund oder die runden Öffnungen in den Bildern, die wie „Schleusen“ wirken sollen.
Dialogbereitschaft und Kritik seitens jüdischer Interessensverbände
Die lebenden Bildern waren immer einer der zentralen Gegenstände der Kritik von jüdischer Seite an Oberammergau, da man in ihnen stets das alte Überlegenheitsgefühl der Christen und den Anspruch, das Judentum heilsgeschichtlich abgelöst zu haben, verdichtet sah. In der Tat wurzeln die Bilder ja in der bereits im Neuen Testament einsetzenden (vgl. etwa Joh 3,14f.) so genannten typologischen Deutung, die alttestamentliche Begebenheiten als Vorausbilder für das eigentliche Heilsgeschehen in Jesus Christus begreift, als Verheißung dessen, was erst mit ihm in Erfüllung geht.
Gegen den Verdacht, mit den Tableaux einmal mehr die Idee des „Supersessionism“ zu befördern, wie dieser christliche Überlegenheitsanspruch in den angloamerikanischen jüdischen Theologenkreisen genannt wird, hat das Oberammergauer Team anzuarbeiten versucht. Man eliminierte missverständliche Bilder und konzentrierte das Bildprogramm stärker auf die positive Heilsgestalt des Mose. Und man wollte die Bilder nicht mehr als dem Christusereignis subordinierte „Vorbilder“ präsentieren, sondern als Analogien. Überhaupt steht für Hageneier „das jüdische Volk in diesen Bildern exemplarisch für die Menschheit im Spannungsfeld zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Lebensenergien und Todesenergien“.
Die Umorientierung von der Typologie zur Analogie illustriert sehr schön die Veränderung des Vorspiel-Bildes: In der Passion 2000 etablierte es eine typologische Lesart der ihm folgenden Bilder, indem es eine übergroße, byzantinisch inspirierte Christus-Ikone ins Zentrum stellte, flankiert zur Linken von der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies und zur Rechten von einer Schar von Menschen jeden Alters, die sich flehend, bittend, erwartend zu dem von einem Engel gehaltenen Kreuz ausstrecken. Das diesjährige Bild zeigt einzig die Vertreibung und lässt so diese Handlung für sich bedeutsam werden, zumindest im Bild, denn im Prolog ist das traditionelle Denken noch präsent.
Die lebenden Bilder waren denn auch vor Ort in Oberammergau einer der Hauptdiskussionspunkte zwischen den Spielleitern und einer Gruppe von jüdischen Studenten und jungen Erwachsenen aus den USA, die ein Bewerbungs- und Auswahlverfahren durchlaufen hatten, um auf Einladung des „American Jewish Committee“ (AJC) zuerst ein Vorbereitungsseminar und dann Oberammergau selbst zu besuchen. Nachdem zur selben Zeit eine Gruppe Münsteraner Studenten – ebenfalls im Kontext eines Seminars – vor Ort war, konnten die amerikanischen und deutschen Studierenden dankenswerterweise Teile des Programms gemeinsam begehen.
Allein dass sich Spielleiter Stückl und Dramaturg Otto Huber in den hektischen Tagen vor der großen Premiere derart viel Zeit für die jüdischen Gäste nahmen, zeigt, wie wichtig ihnen die Verständigung mit der jüdischen Seite und ihren Vorbehalten ist. Stückl anerkennt sogar ein „faktisches Mitspracherecht der jüdischen Organisationen“.
Bei den Diskussionen in Oberammergau kamen die lebenden Bilder auf jüdischer Seite überraschend gut weg, fanden vielfach sogar großen Anklang. Einzig die Positionierung der Szene mit dem Goldenen Kalb vor der Tempelaustreibung wurde vereinzelt beklagt, da diese geeignet sei, das Klischee des dem Materiellen huldigenden Juden zu bedienen. Gleichzeitig wurde aber auch ein echtes Problem sichtbar, das die Dinge in der Tat sehr kompliziert macht: Von jüdischer Seite wird das Oberammergauer Passionsspiel, das in den USA ja seit den siebziger Jahren zum Testfall schlechthin für den jüdisch-christlichen Dialog avanciert ist, sehr stark nach dem Maßstab der historischen und bibelwissenschaftlichen Korrektheit bewertet. Man beruft sich dabei gerne auch auf Aussagen von Ludwig Mödl, dem von Erzbischof Reinhard Marx beauftragten theologischen Berater der Oberammergauer, der im „Vorwort“ zum Textbuch schreibt: „Besonders soll auch die historische Situation spürbar werden.“
Ein „Ad Hoc Committee“, das der „Council of Centers on Jewish-Christian Relations“ zur Prüfung des Textbuches der Passion 2010 eingesetzt hatte, legte am 14. Mai, also zwei Tage vor der Premiere, seinen Bericht vor, der dieses Textbuch auf seine „Kohärenz mit der zeitgenössischen historischen und biblischen Forschung und den relevanten katholischen Lehr-Dokumenten“ untersuchte (www.ccjr.us/news/813-ccjr2010may14). Der Bericht anerkennt, dass viel geleistet worden ist, um das Spiel von seiner „langen Geschichte anti-jüdischer Charakterisierungen und Feindseligkeiten“ abzusetzen. Das Bemühen der Autoren, „sich sorgfältiger um die Historie zu kümmern“, könne man an drei Hauptaspekten erkennen: „(1) Die jüdische Gesellschaft in den Tagen Jesu wird als vielfältig und pulsierend präsentiert; (2) es wird deutlich gezeigt, dass Jesus ein Jude war; und (3) das Verhältnis zwischen Caiaphas und Pontius Pilatus ist nuanciert.“
Andererseits gibt es aber auch eine Reihe „negativer Eindrücke“: (1) einige Verknüpfungen der lebenden Bilder mit der Evangelienhandlung erinnerten an die alt bekannten herabsetzenden Zeichnungen des Judentums; (2) „Die Tempel-Priesterschaft wird fälschlicherweise so gezeigt, als ginge es ihr zuvorderst um die ,Reinheit der Lehre‘. Aus in jenen Tagen üblichen Debatten über die Tora-Observanz macht man fälschlicherweise Kapital-Verstöße“ und (3) „Caiaphas, der Haupt-Antagonist des Skripts, und ebenso Annas, sind unnötigerweise und grundlos als Fanatiker porträtiert, die vom Willen getrieben sind, Jesus gekreuzigt zu sehen. Infolge dessen ist auch die Figur des Pilatus recht verzerrt. Kurzum: Die jüdischen Opponenten Jesu sind ungerechtfertigterweise in solch extremen Konturen gezeichnet, dass Gefahr besteht, dass dem Publikum ein negatives Image der gesamten jüdischen Gemeinschaft eingeprägt wird.“
Der Spagat zwischen Innovation und Tradition
Hält man die positiven gegen die negativen Eindrücke, sind sie ein ziemlich genauer Reflex eines Spagats, in den sich die Spielleiter begeben haben oder in den sie gezogen wurden: des Spagats zwischen der Spieltradition, die in Oberammergau heilig ist, und dem Bemühen um eine sorgfältigere historische Konturierung des Geschehens. „Heilig“ ist bei aller Veränderungstoleranz im Kern der so genannte Daisenberger-Text, der seit dem 19. Jahrhundert die Spielgrundlage darstellt, und heilig im Sinne von unantastbar sind insbesondere auch einzelne Szenen, die gewissermaßen zum Teil der Oberammergauer Passions-Identität geworden sind. Das sind nicht zuletzt die Massenszenen, bei denen der Regisseur die Hundertschaften von Spielwilligen und -berechtigten beschäftigen kann und auch beschäftigen muss. (Denn alle Spielberechtigten, die mitspielen wollen, haben ein Anrecht auf der Bühne zu stehen, dieses Jahr waren das nochmals dreihundert mehr als an der Jahrtausendwende.)
Zu diesen Szenen rechnet die in Oberammergau unter dem Titel „Empörung“ laufende Szene aus der „IX. Vorstellung: Jesus Verurteilung durch Pilatus“, in der das Volk in Hundertschaftsstärke skandiert, dass es über das ganze Tal schallt: „Kreuzige ihn“, was das Textbuch durch die Sprecherangaben „einige“, „andere“ und „mehrere“ verbrämt. Zwar ist die Zahl der Pro-Jesus-Stimmen beim „Volksentscheid“ zwischen Jesus und Barabbas nochmals heraufgesetzt worden und hat insgesamt die Pro-Jesu-Fraktion im Hohen Rat um Nikodemus, Joseph von Arimathäa und den – neu aus der Apostelgeschichte eingewanderten – weisen Gamaliel deutlich mehr Redeanteile erhalten, aber die Jesusanhänger bleiben weit davon entfernt, sich gegen den Block der Gegner durchsetzen zu können, sondern werden einfach niedergebrüllt.
Das Korsett der Tradition macht sich besonders im zweiten, abendlich-nächtlichen Teil der Inszenierung bemerkbar, der zwar von den Bildern her enorm an Intensität gewonnen hat, aber theologisch wieder ganz in die Grundspur der johanneischen Passionsdarstellung und deren Schuldverteilung am Tode Jesu einschwenkt – und damit in eine eklatante Spannung zu einigen zentralen Momenten der Exposition des Konflikts um Jesus im ersten Teil gerät. Denn im Bemühen um mehr historische Zuverlässigkeit und im guten Willen, den jüdischen Einwendungen entgegenzukommen, wird jetzt eingangs die Pein unter der römischen Besatzungsmacht stark akzentuiert und Pilatus als rücksichtloser Landesherr eingeführt, der über seine Spitzel auf Jesus aufmerksam geworden ist und seiner als eines potenziellen Störenfrieds ledig werden will. Kaiphas hingegen ist anfangs zögerlich, abwartend und tut Jesus als „Träumer“ ab, so lange, bis Pilatus ihn gegen Jesus in Bewegung bringt.
In der neu geschriebenen zweiten Szene der „III. Vorstellung: Vertreibung der Händler“ sucht Pilatus ein Vier-Augen-Gespräch mit Kaiphas in Sachen Jesus. Die Beschwichtigung des Hohenpriesters, dieser sei nur ein „unbedeutender Wanderprediger“, bringt Pilatus auf. Erregt erwidert er: „Unbedeutend? Die ganze Stadt strömt ihm entgegen. Wie ein Sieger hat er in Jerusalem Einzug gehalten. (...) Es sind immer diese unbedeutenden Wanderprediger, die unter dem Vorwand göttlicher Sendung auf Umwälzung und Aufruhr hinarbeiten und das Volk zu religiöser Schwärmerei hinreißen.“ Pilatus droht im Falle eines neuerlichen Aufruhrs mit der geballten römischen Heeresmacht und schickt den Hohenpriester mit der Aufforderung weg, die einem Auftrag gleichkommt: „Ich möchte nie wieder etwas von diesem Jesus hören.“
Die Konturen der Jesusfigur folgen im Übrigen weithin – und nicht zu ihrem Nachteil – der Passion 2000, wobei die nochmalige Erhöhung seiner Redeanteile im ersten Teil (vor allem durch Passagen der Bergpredigt und der großen Rede gegen Schriftgelehrte und Pharisäer in Mt 23), sein Stumm-Werden im zweiten Teil nochmals bedrückender macht. Der erste Impuls zur Ausschaltung Jesu geht also jetzt eindeutig von Pilatus aus, und die Drohung mit den römischen Truppen zeigt Wirkung. Denn schon in der nächsten Szene gewinnt der erst so zögerliche Kaiphas die Überzeugung: „Es ist besser, dass ein Mensch sterbe, als dass das ganze Volk zu Grunde geht! Er muss sterben.“ Nachdem sich gleich in der Folgeszene Judas als Verräter angeboten hat, endet dieIII. Vorstellung mit den Worten des Kaiphas (nur der erste Satz findet sich im Textbuch!): „Der falsche Prophet wird bald in unseren Händen sein. Geht nun und bringt ihn mir. Pilatus soll ihn haben.“
Mit der letzten Bemerkung wird nochmals der Statthalter als Drahtzieher der Verfolgung markiert, doch davon ist im zweiten Spielteil nichts mehr zu bemerken: Pilatus hat seltsamerweise das Interesse an Jesus verloren, ja agiert trotz seiner rauen Schale am Ende wieder ganz so, wie wir ihn aus dem Johannesevangelium kennen, wogegen sich Kaiphas zu einem fanatischen Gegner Jesu gewandelt hat. Die Spieltradition ist offensichtlich zu stark, als dass die historisch sicher plausiblere Neukonzeption der Pilatusfigur zu Beginn des Dramas in der Prozesshandlung gegen den Druck der Johannespassion durchgehalten werden konnte.
Hier stehen die Spielmacher gewiss an einem Scheideweg, hier müssen sie sich entscheiden, welcher Spur sie künftig folgen wollen, denn mit einem solchen Spagat werden sie dauerhaft nicht leben können. Im Stil der Inszenierung haben sie sich eigentlich schon entschieden: Die Perfektionierung des Theatralischen, die Abstraktion in den Kostümen und in der Arbeit mit der Farbpalette, die theologischen Metaebenen, die durch Prolog und Chor eingezogen werden und nicht zuletzt die forcierte Künstlichkeit der lebenden Bilder: Dies alles entfernt das Spiel zu seinem Vorteil von einer historisierenden Präsentation und von ihren historisierenden Zügen sollte man auch die eigentliche Passionshandlung wieder erlösen, eine Handlung, die sich als klassische Evangelienharmonie mit vielen Neubildungen ohnehin schon sehr weit von einer historischen Rekonstruktion entfernt hat. Punktuelle historische Verbesserungen, die dann aber nicht konsequent und mit dem Mut zur Preisgabe altvertrauter Szenen über das ganze Spiel hinweg durchgehalten werden, schaffen nur Verwerfungen und Inkonsistenzen und führen, pointiert gesagt, zu einem Zwitter aus Historie und Theologie beziehungsweise Frömmigkeit.
Stattdessen sollten die verschiedenen Grundelemente des Oberammergauer Passionsspiels einander durchdringen und synergetisch zusammenwirken zu einem in sich vielschichtigen, aber doch geschlossenen geistlichen Schauspiel – denn das ist es doch, was Oberammergau ausmacht und auszeichnet. Wie diese Durchdringung gelingt, zeigen exemplarisch die im Spielverlauf häufiger werdenden Szenen, in denen der Chor und die Figur des „Prolog“ ihr angestammtes Terrain des „Vorspiels“ verlassen und sich mitten in die Jesushandlung mischen, wobei letztere dann selbst wiederholt zum lebenden Bild gerinnt.
Auch beim geistlichen Schauspiel sind Grundpositionen wie die jetzt schon sehr gelungene Akzentuierung des Judeseins Jesu und die Vermeidung antijüdischer Züge unaufgebbar, aber man gewänne einiges an gestalterischer Freiheit hinzu. Auch das so grundlegend wichtige Gespräch mit den jüdischen Theologen und Interessensverbänden würde am Ende erleichtert, wenn klar gemacht würde, dass hier in Oberammergau zwar aus einem historisch und theologisch geschärften Bewusstsein und aus dem Wissen um die lange Schuldgeschichte des Antijudaismus inszeniert wird, aber eben keine „Kohärenz mit der aktuellen historischen und bibelwissenschaftlichen Forschung“ (CCJR) angestrebt wird.
Denn wollte man das wirklich konsequent, dann müsste man – und hierhin ist den jüdischen Kritikern Recht zu geben – wohl ganz aufhören Passion zu spielen. Das aber wird das Letzte sein, was sich jeder wünschen wird, der die diesjährige, so überaus kraftvolle und über alle kritischen Fragen hinweg doch lange in Kopf und Herz nachklingende Passion am Fuße des Kofel miterlebt hat.
Wünschen wird er sich vielmehr, dass die Leidenschaft, mit der das Team um Stückl und Huber dieses Mammutprojekt ein weiteres Mal gestemmt haben, auf die nächsten Generationen überspringt und diese sich ebenso unerschrocken und innovativ (etwa was die immer noch ausstehende Aufwertung der weiblichen Handlungsanteile angeht) in diese Aufgabe stürzen. Blickt man auf die stark verjüngte Darstellerriege und auf die Spielfreude und schauspielerische Kompetenz, mit der sie agiert, blickt man auf das außerordentlich hohe musikalische und sängerische Niveau, dann kann man nur sagen: Die Zeichen dafür stehen bestens.