Der Vodou trägt und belastet die Menschen in HaitiNicht Mythos, sondern Wirklichkeit

Im Haiti des 21. Jahrhunderts ist Vodou mächtig wie eh und je. Vodou meint dabei die Gesamtheit der Riten, welche die aus Afrika deportierten Sklaven mitbrachten und die sie zu einem ausgefeilten System verbanden. Für die meisten Haitianer schließen sich Katholizismus und Vodou keineswegs aus. Der Vodou bewirkt sogar, dass Katholiken ihrer Kirche treu bleiben.

Vodou? Das Rätselraten beginnt schon bei der Schreibweise: Heißt es Vodun oder Vodu? Das wäre kreolisch, also die Landessprache. Oder Vodou, Vaudou, Vaudoux (französisch), Wodu, Wudu (deutsch) und Voodoo (englisch). Noch rätselhafter scheint, was damit gemeint ist. Das Wort ruft alle möglichen Assoziationen hervor: Zauberei, Hexerei, Magie – mit anderenWorten: Schwarze Kunst in exotischem Gewand.

Das Bild, das sich die „aufgeklärten“ Kulturen gemacht haben, ist geprägt von schlechten US-Filmen, bei denen Vodou dazu dient, wie in einem Horrorstreifen einen (wohligen) Schauer zu erzeugen, und von Reportagen in Zeitungen (meist in deren Reiseteil), in denen Journalisten erzählen, wie sie an einer „original echten“ Vodou-Zeremonie teilnahmen. Dafür bezahlt man in Haiti 10 bis 20 US-Dollar beziehungsweise wird gegen eine Spende „in alle Geheimnisse eingeweiht“. Der Preis wird in jenen Artikeln allerdings nicht erwähnt. Was der Kunde dafür an „original echtem“ Vodou bekommt, ist auch nicht mehr wert. Doch was soll’s: Touristen wie Journalisten sind zufrieden.

Das Wort „wodu“ ist in den Hauptsprachen der Region zwischen den heutigen Ländern Ghana und Benin, beispielsweise Fon und Ewe, geläufig und bedeutet „Geist“ oder „göttliches Wesen“. In Haiti meint man mit Vodou die Gesamtheit der Riten, welche die aus Afrika deportierten Sklaven, die Vorfahren der heutigen Haitianer, mitbrachten und die sie zu einem ausgefeilten System verbanden. Durch die Vermittlung der Houngans, der Vodou-Priester, und der Mambos, der Priesterinnen, sollen die Götter und außermenschlichen Kräfte bewirken, wessen man bedarf: Heilung, Geld, einer Arbeitsstelle, sexueller Potenz – oder auch eines Schadenszaubers gegen böse Nachbarn. Vodou ist keine Metaphysik, sondern betrifft die „einfachen“ Dinge des Lebens. Aus dem Glauben, dass Houngans und Mambos den Schlüssel dazu haben, beziehen sie ihre Macht. Sie machen sich das den höheren Mächten zukommende „tremendum“ im Sinne Rudolf Ottos zu eigen und zunutze. Der Vodou ist im 21. Jahrhundert in Haiti mächtig wie eh und je, er erfährt weder Aufklärung noch Säkularisation, im Gegenteil: Seinen Anhängern erscheint er als ein Ausweg aus den Schrecken der Modernität.

Vodou ist Identität. „Haiti ist zu 90 Prozent katholisch und zu 100 Prozent Vodou“, pflegten die frisch eingereisten Missionare von ihren schon im Lande tätigen Mitbrüdern zu hören. Dass Haiti „zu 90 Prozent katholisch“ war, ist Vergangenheit, und dass alle Haitianer Vodouisten seien, ist überzogen. Mancher „westlich“ gebildete Haitianer empört sich über eine solche „Beleidigung unseres Volkes“. Richtig ist, dass die haitianische Kultur ganz und gar vom Vodou durchdrungen ist.

Dass der Vodou so tief verwurzelt ist, liegt auch daran, dass er eben keine beziehungsweise nicht nur eine Konkurrenz zum Katholizismus ist, sondern mit diesem sehr wohl einhergeht. So bedient sich der Vodou des Heiligenkultes: In der Gestalt eines Heiligen (genauer: unter diesem Mantel) lassen sich die diesem zugeordneten, aus Afrika überkommenen Kräfte verehren. Umgekehrt floss Vodou in die katholische Volksfrömmigkeit ein. In manchen vertraut-katholisch erscheinenden Riten steckt (auch) Vodou. Auch deshalb wirkt der haitianische Katholizismus stark rituell ausgerichtet.

Für die meisten Haitianer schließen sich Katholizismus und Vodou, die „nachbarliche Religion“, wie der Ethnologe Alfred Métraux sie nannte, keineswegs aus. (Métraux verdanken wir das beste Buch zum Thema „Voodoo in Haiti“.) Es ist ein Sowohl-als-auch, kein Entweder-oder. Die meisten Katholiken praktizieren ihren Glauben in zwei Formen, als doppelte „Rückversicherung: als römischen, das heißt europäisch geprägten Katholizismus, und als Vodou“. Sie gehen zur heiligen Messe und suchen die Houngans auf (wenn im Folgenden von „Houngans“ die Rede ist, sind die Mambos mitgemeint). Sie verehren die Heiligen und rufen die Loa, die Geister, an. Sie glauben an Gott und fürchten die Kraft der Götter.

Zu erleben ist das in Saut d’Eau, einem imposanten Wasserfall, der der bedeutendsten Pilgerstätte Haitis den Namen gab, unweit von Ville-Bonheur, der „Stadt des Glücks“. 1849 hatte der haitianische Diktator Faustin Soulouque versucht, den abgefallenen Osten des Landes, die heutige Dominikanische Republik, zurückzugewinnen. Doch sein Feldzug scheiterte. Auf dem Rückweg hörte der geschlagene Feldherr, am Wasserfall sei die heilige Jungfrau erschienen. Er schloss daraus, Gott habe trotz und gerade in der Niederlage Großes mit ihm vor, und ließ sich zum Kaiser Faustin I. ausrufen. Die von ihm eingesetzte Kommission stellte die Echtheit der Erscheinung fest. Die Erscheinung kam zur rechten Zeit. Denn der wichtigste Marienwallfahrtsort der Insel, Nuestra Señora de Altagracia del Higüey, war infolge der neuen Grenze für die Haitianer unerreichbar.

Saut d’Eau füllte die Lücke. Denn der Volksfrömmigkeit zufolge ist die Muttergottes von Saut d’Eau noch gütiger als Unsere Liebe Frau von der Immerwährenden Hilfe, die Patronin Haitis, insofern sie tagtäglich ein Wunder wirkt. Die Hauptursache für den Erfolg der Wallfahrt nach Saut d’Eau aber ist der Umstand, dass der Ort schon immer ein Zentrum des Vodou war. Hier können die Gläubigen ihre Frömmigkeit in beiden Formen zugleich praktizieren: in der traditionellen wie in der katholischen.

Der Vodou lastet schwer auf den Haitianern

Der Vodou trägt nicht nur, er lastet auch schwer auf den Haitianern. Denn er ist auch der unablässige Versuch, schädliche Geister abzuwehren: eine Religion der Angst. Den Houngans ist es ein Leichtes, den Armen einzuschärfen, dass sie sich Schutz vor Schadenszauber erkaufen müssen – erkaufen im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Dafür lassen sich die meisten Houngans gut bezahlen. Vodou ist auch ein großes Geschäft, eine Form der Ausbeutung. Aus dem Glauben an ihre Verbindung zu höheren Mächten beziehen Houngans und Mambos ihre Macht. Niemand würde es wagen, einen Houngan zu bestehlen: Man ist ja nicht lebensmüde. Wer über die haitianischen Dörfer fährt, sieht, dass die Pfarrhäuser gegen Einbruch geschützt sind. Das Haus eines Houngan braucht dagegen keine mit Glasscherben bewehrten hohen Mauern.

Die Angstreligion kehrt sich nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen andere. Noch immer kommt es vor, dass der Hexenglaube „Hexen“ das Leben kostet. Wenn es danach überhaupt zum Prozess kommt, heißt es, man habe nicht aus eigenem Willen gehandelt.

Die Missionare studierten den Vodou gründlich. Von ihnen stammen die ersten eingehenden Darstellungen, allen voran das epochale Werk von Jan Verschueren „Le Culte du Vaudoux“, 1948 erschienen. Die französischen und belgischen Missionare mussten jene fremde Welt des Vodou kennen, um einzelne Elemente für ihre Verkündigung zu nutzen oder – das war die Regel – den Vodou umso entschiedener als Unvernunft, Hexerei oder „Vermischung“ bekämpfen zu können. In ihren Augen ging es, wie bei den biblischen Propheten, um „Gott oder die Götter“. Für sie gab es kein Sowohl-als-auch.

Eine erste landesweite „Kampagne gegen Aberglauben“ unternahmen die Bischöfe 1898. Ähnliche Bemühungen folgten während der Besetzung Haitis durch die USA von 1915 bis 1934. Das „Gesetz gegen abergläubische Praktiken“ vom 5. September 1935 bedrohte alle mit sechs Monaten Gefängnis, die „den vorgeblichen Gottheiten Zeremonien, Tänze oder Opfer darbringen“ (Art. 1,1) oder die „glauben machen, man könne durch okkulte, der medizinischen Wissenschaft unbekannte Mittel jemandem einen Schaden zufügen“ (Art. 1,2) oder „die Naivität des Publikums ausnutzen“ (Art. 1,3), und verlangte die Beschlagnahme der im Kult gebrauchten Gerätschaften (Art. 4).

Ein weiterer „Feldzug gegen den Aberglauben“ (campagne anti-superstitieuse) wurde von Präsident Élie Lescot am 8. März 1942 ausgerufen. Er sollte das Land vom Vodou „reinigen“. Zahlreiche Houmforts, Kultstätten des Vodou, wurden zerstört. Doch die Stellung der Houngans und der Mambos erschütterte das kaum. Ihre Anhänger suchten sie weiter auf, wenn auch sicherheitshalber nur noch abends. Die Kampagne verpuffte. Was blieb, ist die damals eingeführte „carte de catholicité“. Diese „Karte der Katholizität“, manchmal auch „Karte der katholischen Identität“ genannt, ist eine jährlich zu erneuernde Karteikarte, in die der Pfarrer Taufe, Erstkommunion, Firmung und Trauung einträgt. Mit dieser Karte, das war der Zweck ihrer Einführung, sollten die Gläubigen zugleich bekunden, dass sie dem Vodou widersagt haben.

So wurde es während der Kampagne ausdrücklich verlangt, heutzutage wird dies nur noch stillschweigend vorausgesetzt. Doch solches „Widersagen“ hätte nur in einer Logik des Entweder-oder gelingen können, also nicht in Haiti. Gleichwohl halten manche Pfarrer bis heute an der Karte fest, aus praktischen Gründen, um den Überblick über ihre Herde und den „status animarum“ zu behalten. Vor dem Gottesdienst lochen Mitglieder des Kirchenvorstandes zum Nachweis der Teilnahme das für den betreffenden Sonntag vorgesehene Feld am Kartenrand. Der Pfarrer muss also die Karte nur einmal gegen das Licht halten, um auf Anhieb zu sehen, ob sein „Schäfchen“ ein treuer Kirchgänger ist.

Wirksamer als der „Feldzug“ war die Reaktion darauf. Jene haitianischen Intellektuellen, die sich in der Bewegung des „Noirisme“, gewissermaßen der haitianischen Ausprägung der „Négritude“, zusammengefunden hatten, kritisierten die Kampagne scharf und nannten sie ein rassistisches Manöver. Gegen die Weißen und deren „Dienerlinge“ pochten sie – so beispielsweise der große Dichter Jacques Roumain – auf die Eigenständigkeit, ja die Überlegenheit der schwarzen Kultur, zumal des Vodou.

Die Ächtung der Houngans endete, als 1957 der Arzt und Ethnologe François Duvalier („Papa Doc“), einer der Vorkämpfer des Noirisme, zum Präsidenten gewählt wurde. Nun bekamen die Houngans kräftigen Rückenwind. Duvalier hofierte sie, anfangs als Träger der haitianischen Kultur, dann, als er seine Herrschaft zur Tyrannei ausbaute, als ein Gegengewicht zur unbotmäßigen katholischen Kirche. Den Bischof von Gonaïves, Jean-Marie-Paul Robert, einen Vorkämpfer der Kampagne gegen den Vodou, jagte Duvalier 1962 außer Landes.

Papa Docs Sohn und Nachfolger Jean-Claude („Baby Doc“) förderte den Vodou, um die katholischen Basisgemeinden zu schwächen. Die Mächtigen des Vodou wurden zu Hauptstützen des Regimes und von dessen Terror. Zu Recht erinnerte der Haiti-Kenner Hans Christoph Buch in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auch an diese Seite des Vodou (9. Juni 2010). Dass sich der Großteil der Houngans der Diktatur angedient hatte, schlug nach deren Ende auf sie zurück. Als am 7. Januar 1991 ein Putschversuch von Gefolgsleuten des vormaligen Diktators scheiterte, ließen die Anhänger des gewählten Präsidenten Aristide ihre Wut nicht zuletzt an Vodou-Priestern aus. Mehrere von ihnen wurden erschlagen oder verbrannt.

Volksfrömmigkeit ist wahrhafte Gottessuche

Infolge des Zweiten Vatikanums waren besonders einheimische Priester dafür aufgeschlossen, die alte Frontstellung aufzugeben und den „Weg der Inkulturation des Glaubens“ zu gehen. Die Bischöfe erklärten: „Unsere Kirche will das Evangelium Jesu Christi in die Kultur unseres Volkes einpflanzen. (…) Sie bemüht sich, die Samen des Wortes Gottes im Vodou, der von den Vorfahren überkommenen Religion, zu entdecken.“ So wurden seit Ende der siebziger Jahre Trommeln als Begleitung des Gesangs im Gottesdienst allmählich üblich. Viele ältere Katholiken taten sich allerdings mit einer solchen Kehrtwende schwer. Ihnen war noch gepredigt worden, Trommeln seien Teufelszeug.

Als die haitianischen Bischöfe anlässlich ihres Ad-limina-Besuches in Rom am 15. September 2001 beim Päpstlichen Rat für die Kultur vorsprachen, erläuterte Frantz Colimon, von 1978 bis 2008 Bischof von Port-de-Paix, warum und wie er den allgegenwärtigen Gesängen der Kulte des Vodou neue Texte unterlegte, nämlich seine Nachdichtungen der Psalmen. Das war, so erinnerte sich Bischof Colimon, ein gewagter Schritt „in einer Zeit, als es undenkbar war, in der Kirche in die Hände zu klatschen, geschweige denn zu tanzen.“ Er erläuterte sein Anliegen: „Die Volksfrömmigkeit ist wahrhafte Gottessuche. Wir dürfen sie nicht abwehren, sondern christianisieren, so wie es die ersten Christen in ihrer Kultur taten. Es ist seine Kultur, in der ein Volk sich ausdrückt, wir sollten die Menschen ermutigen, dies auf ihre Weise zu tun, ohne“, so fügte er hinzu, „die Gabe der Unterscheidung auszublenden.“

Der Salesianerpater Arthur Volel (1923 bis 2008), der in Haiti verehrte „Apostel der Ärmsten“, drängte darauf, sich von der Fixierung auf Riten zu lösen und stattdessen in der tätigen Nachfolge Ausrichtung zu finden. Er schrieb: „Um Gott zu dienen, ist es nicht notwendig, einer bestimmten Religion anzugehören.“ Viele aus der Generation der jungen haitianischen Priester plädieren für eine neue Seelsorge. Sie wollen – ohne Wenn und Aber – die Wirklichkeit des Vodou ihrer Arbeit zwar nicht zugrunde legen, aber als Teil und Ausdruck der eigenen Kultur daran anknüpfen. Ein Beispiel ist die 1999 von dem Oblatenpater Gasner Joint an der Gregoriana vorgelegte Dissertation „Libération du vaudou dans la dynamique d’inculturation en Haïti“.

Andererseits konnten gerade die „fortschrittlichen“ Priester schwerlich vergessen, wie die Houngans die Basisgemeinden, die an deren Macht über die Dörfer und Stadtviertel kratzten, bekämpft hatten und was die Houngans als Denunzianten und Handlanger des Terrors „geleistet“ hatten.

Ein Paukenschlag war der Erlass von Präsident Jean-Bertrand Aristide vom 4. April 2003 zur Anerkennung des Vodou als der „Religion der Vorfahren“, die der Staat als „kulturelles Patrimonium“ zu schützen habe und die es „in die von der Regierung verfolgte Philosophie der sozialen Gerechtigkeit und des Rechtsstaats zu integrieren“ gelte. Das Dekret bezeichnet den Vodou, „dessen Anhänger einen beträchtlichen Anteil der haitianischen Bevölkerung ausmachen“, als ein „konstitutives Element der nationalen Identität“ und lobt dessen Beitrag „zur sozialen, politischen und moralischen Bildung des Volkes“. Das Edikt eröffnete jedem „Chef de Culte Vodou“, sich beim Kultusministerium registrieren zu lassen (Art. 2), sicherte den „Tempeln, Heiligen Orten, Organisationen und Assoziationen des Vodou“ Unterhalt zu (Art. 4).

Die „Chefs de Culte Vodou“ werden autorisiert, Taufen und Hochzeiten zu vollziehen (Art. 5). So sollte ihre Gleichwertigkeit mit den katholischen Priestern betont werden. Als sie den letztgenannten Artikel lasen, waren die Kenner des Vodou konsterniert. Denn die Houngans taufen gar nicht. Abgesehen davon fragten sich die Leser des Erlasses, wie all die Houngans, die nicht schreiben können, ein Taufregister führen sollen, das da, wo es keine Standesämter gibt, nach wie vor die Geburtsurkunde ersetzt. Im Gegenteil: Um die Riten des Vodou ausüben zu können, muss man nicht irgendwie getauft sein, sondern „richtig“, das heißt katholisch. Die Taufe einer protestantischen Kirche gilt nicht.

Der Vodou lässt Katholiken in ihrer Kirche bleiben

So paradox es klingt: Der Vodou bewirkt, dass Katholiken in ihrer Kirche bleiben. Er verlangsamt das Wachstum der Pfingstkirchen in Haiti. Ohne die bleibende Anziehungskraft des Vodou wäre die Abwanderung zu ihnen noch rasanter. So attraktiv sie auch in Haiti sind (vgl. HK, Juni 2005, 300 ff.): Mit ihrer Forderung, „Satan“, das heißt dem Vodou, abzuschwören, legen sie die Latte hoch. Fast alle protestantischen Kirchen verwerfen den Vodou rigoros als Unglauben beziehungsweise als Synkretismus. Wer ihnen beitreten will, muss den einen Herrn Jesus bekennen. Sie versuchen jenes Entweder-oder durchzuhalten, an dem die katholische Kirche stets scheiterte.

Das Zusammenspiel zwischen Vodou und Katholizismus kennt noch eine weitere Seite. Die Ängste, die Geister und Zauber auslösen, können übermächtig werden, einen Gläubigen überwältigen. Dann kann ein katholischer Priester zur Berufungsinstanz werden, zum letzten Rettungsanker. Denn ein Vodouist „weiß“, dass sein Pfarrer dank der magischen Kraft seiner Priesterweihe noch stärker ist als die „Mächte und Gewalten“. So bedient man sich seiner, wenn Kultgegenstände des Vodou nicht mehr „funktionieren“ und Unheil statt Heil bringen. In Port-au-Prince erlebte ich, wie Vodou-Idole „entsorgt“ wurden, indem ihre Besitzer sie heimlich auf die Schwelle der Kirche Saint-Antoine legten, im Vertrauen darauf, dass der Pfarrer sich ihrer gebührend annimmt und sie damit unschädlich macht.

In jenem Zweidritteljahr, das in Haiti seit der Katastrophe des 12. Januar 2010 so mühsam-langsam verronnen ist, brauchten die Haitianer den Rückhalt der „ganzen Religion“, sowohl des Vodou wie der katholischen Riten. Neben und nach der Suche nach den Verschütteten und dem alltäglichen Kampf um das Weiterleben galt die bedrängendendste Sorge der Bestattung der Todesopfer. Beerdigungen werden in Haiti mit nicht geringerem Aufwand zelebriert als in der afrikanischen Tradition.

Alfred Métraux widmet in seinem Standardwerk nicht weniger als 25 Seiten dem Kapitel „Der Totenkult“. Er schildert die Komplexität der nach dem Tode in genauer Abfolge zu vollziehenden Riten: die „Loslösung“, die Leichenwäsche, die Totenwache, die Gesänge am Sarg, das „Zerbrechen des Kruges“ und das „Brennen der Töpfe“ als reinigende Riten, das Anlegen der Trauerkleidung, das Begräbnis und die Gestaltung des Grabes. Jede Geste, jede Gebärde zeigt den Respekt vor dem Verstorbenen.

Allüberall in Haiti hört der Besucher diese kreolischen Wörter: „one, respe“: „Ehre und Respekt“, man kann auch übersetzen: Würde. Höchsten Respekt, keinen Deut weniger als den Lebenden, zollt man den Toten. So lässt sich erahnen, welche Bitterkeit die Formlosigkeit der Abertausenden von Notbeisetzungen in den Tagen nach dem Erdbeben hinterlassen musste, bei manchen auch Ängste vor den Verhängnissen, welche die Nichterfüllung des Ritus nach sich zieht.

Noch bis zum 24. Oktober 2010 ist im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem die Ausstellung „Vodou. Kunst und Kult aus Haiti“ zu sehen. Sie zeigt einen Gutteil des Fundus, den die in Port-au-Prince lebende Schweizerin Marianne Lehmann und die von ihr gegründete „Fondation pour la Préservation, la Valorisation et la Production d’Œuvres Culturelles Haïtiennes“ zusammengetragen hat. Es ist ein Spektrum des Reichtums der haitianischen Kultur in ihrer elementaren Gestalt: dem Vodou. Der Vodou ist die Grundgestalt der haitianischen Kultur, weil er das Leben bestimmt, das ganze Leben – auch über das irdische Leben hinaus. Deshalb fließt Vodou in alles hinein, in Malerei und Bildhauerei, in Musik und Tanz, in Theater und Literatur. Die Berliner Ausstellung tut gut daran, den Vodou, so gut als in einem Museum möglich, darzustellen, ohne ihn auf den Podest zu heben.

Das war nicht immer so, wenn hierzulande vom Vodou die Rede war. Manch einer, der den Vodou bewunderte, aber Haiti nicht kannte, pries ihn als die verglichen mit dem Christentum vermeintlich „ursprünglichere“, „bessere“ und „ganzheitlichere“ Religion. So entstand ein „europäischer Vodou“, der zur Folklore taugte und als Projektionsfläche dienen musste, aber mit Haiti nichts zu tun hat. In Haiti ist der Vodou kein Mythos, sondern Wirklichkeit, eine die Menschen oft tragende, manchmal bedrückende Wirklichkeit.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen