Was steckt hinter dem Arbeitskreis von Laizisten in der SPD?Anachronistische Forderungen

Religiös-weltanschauliche Pluralität ist ein Prinzip und Markenzeichen der Sozialdemokratie. Insofern sind Überlegungen zur Gründung eines Arbeitskreises von Laizistinnen und Laizisten in der SPD nicht überraschend. Was aber genau steckt hinter dieser Forderung, und wie ist die heftige Reaktion auch aus den Reihen der Kirche zu erklären?

Im Sommer 2010 beschlossen einige Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten um Ingrid Matthäus-Maier, in Berlin einen Arbeitskreis von Laizistinnen und Laizisten in der SPD zu gründen. Vorangegangen war die Vernetzung als Gruppe auf einer Internetplattform der SPD. Ziele des geplanten Arbeitskreises sind nach eigenem Bekunden, für eine „klare Trennung von Staat und Religion einzutreten“ und zugleich „Vertretung und Sprachrohr der konfessionsfreien, atheistischen, agnostischen und humanistischen Mitglieder der SPD“ zu sein. Dieses Vorhaben findet seither breite Aufmerksamkeit. Das gilt nicht nur für die Kirchen- und überregionale Presse, sondern die Gruppe ist Gesprächsthema unter Verantwortlichen in den Kirchen, auf den Fluren von Synoden oder bei der Vollversammlung des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, sah sich angesichts der geplanten Gründung sogar veranlasst, öffentlich zu erklären, mit einem solchen Arbeitskreis falle die SPD hinter ihr Godesberger Programm zurück.

Dabei ließ die Parteispitze an ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Vorhaben von Anfang an keinen Zweifel. Schon als die geplante Gründung bekannt wurde, machte Andrea Nahles als Generalsekretärin der SPD gegenüber den Verantwortlichen das Namensrecht der Partei geltend und bat sie, weder die Bezeichnung noch das Logo der SPD zu verwenden. Seither nennt sich die Gruppe „Soziale und demokratische LaizistInnen“ und wirbt im Internet und im Internet-Netzwerk „Facebook“ für ihr Anliegen. Der Vorsitzende Sigmar Gabriel erklärte seinerseits vor der Presse, dass es nicht im Interesse der Partei sei, einen solchen Arbeitskreis zu gründen. Im Moment ist offen, ob und wann die Gruppe trotz der Ablehnung seitens der SPD-Spitze einen formellen Antrag auf Anerkennung als Arbeitskreis an den Parteivorstand stellen wird. Die Generalsekretärin ist mit den Verantwortlichen im Gespräch.

Wie Feuer und Wasser?

Dass es Agnostiker und Atheisten in der SPD gibt und solche, die für eine komplette Trennung von Staat und Kirche eintreten, ist weder überraschend noch etwas, das man verschweigen müsste. Denn auf der Grundlage einer gemeinsamen Orientierung an Grundwerten – allen voran Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – bildet religiös-weltanschauliche Pluralität gleichsam das Prinzip und Markenzeichen der Sozialdemokratie. Genau darin ist die SPD auch eine wirkliche Volkspartei, weil sie die Pluralität der Gesellschaft in ihren Reihen widerspiegelt.

Man mag in der Tatsache, dass laizistische Forderungen aus der SPD besonders aufmerksam wahrgenommen werden, einen Reflex auf die lange schwierige Geschichte von Sozialdemokratie und Kirchen sehen. Bis zum Zweiten Weltkrieg standen sich in der Tat das Christentum, vor allem der Katholizismus, und der Sozialismus „wie Feuer und Wasser“ (August Bebel) unversöhnlich gegenüber. Noch die von den beiden deutschen Jesuiten Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning maßgeblich verfasste Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno“ von Pius XI. aus dem Jahr 1931 erklärte beide für unvereinbar.

Katholiken lehnten die sozialdemokratische Ausrichtung auf den Klassenkampf, die innerweltliche Ausrichtung und die Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche ab. Die Emanzipationsbewegung der Arbeiterschaft war dagegen durch die Erfahrung geprägt, dass sich zu ihrer Abwehr die politischen Gegner auf die Religion beriefen, um das Bestehende zu verteidigen. Unter marxistischem Vorzeichen und mit Blick auf die Verbindung von Thron und Altar galt Sozialdemokraten die Religion als Herrschaftsinstrument. Das Erfurter Programm von 1891 prägte schließlich die Formel „Religion ist Privatsache!“, die sinngemäß in den Folgeprogrammen fortgeschrieben wurde.

Mehr als zwei Drittel der Parteimitglieder gehören einer Kirche an

Auch wenn der kämpferische Ton des Forderungskatalogs der laizistischen Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen an Kampfschriften des 19. Jahrhunderts erinnert – wirklich erklären kann dies das anhaltende Interesse nicht. Denn in ihrer positiven Bestimmung des Verhältnisses zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften ist die SPD seit über einem halben Jahrhundert absolut eindeutig. Seit dem Godesberger Programm von 1959 versteht sie sich als linke Volkspartei, die sich zu ihren Wurzeln in Judentum und Christentum ebenso bekennt wie zur Verwurzelung in Humanismus und Aufklärung, in marxistischer Gesellschaftsanalyse und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung. In Godesberg erklärte die SPD, der Sozialismus sei kein Religionsersatz, und bestimmte programmatisch: „Die Sozialdemokratische Partei achtet die Kirchen und die Religionsgemeinschaften, ihren besonderen Auftrag und ihre Eigenständigkeit. Sie bejaht ihren öffentlich-rechtlichen Schutz.“

Diese Anerkennung wurde im Berliner Programm von 1989 und im Hamburger Programm von 2007 fortgeschrieben. Im aktuellen Grundsatzprogramm heißt es klar und deutlich: „Für uns ist das Wirken der Kirchen, der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch nichts zu ersetzen, insbesondere wo sie zur Verantwortung für die Mitmenschen und das Gemeinwohl ermutigen und Tugenden und Werte vermitteln, von denen die Demokratie lebt. Wir suchen das Gespräch mit ihnen und, wo wir gemeinsame Aufgaben sehen, die Zusammenarbeit in freier Partnerschaft. Wir achten ihr Recht, ihre inneren Angelegenheiten im Rahmen der für alle geltenden Gesetze autonom zu regeln.“ Beim Parteitag wurde das ohne eine einzige Gegenrede von den Delegierten bestätigt.

An der Parteilinie zu zweifeln besteht also kein Anlass. Sie beschreibt die Grundlage für die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Kirchen, Religionsgemeinschaften und Sozialdemokratie, die in langen Jahren aufgebaut wurde. Die hohe Wertschätzung ist auch die verlässliche Grundlage für die Arbeit von Christinnen und Christen in der SPD. Sie sind beileibe keine Minderheit, im Gegenteil. Nach erstmaliger Untersuchung im Rahmen einer Parteienstudie sind die Mitglieder der Sozialdemokratie zu mehr als zwei Dritteln auch Mitglieder einer der beiden großen Kirchen in Deutschland; das ist mehr als im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung.

Seit vielen Jahren haben sich katholische und protestantische Sozialdemokraten und -demokratinnen auch zu Gesprächskreisen zusammengeschlossen, die die Kontakte des Parteivorstands in die Kirchen hinein unterstützten und die Partei auf Kirchen- und Katholikentagen vertreten. 2008 wurden die bis dato informellen Zusammenschlüsse von Christinnen und Christen in der SPD und ebenso von jüdischen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten offiziell als Arbeitskreise der Partei anerkannt. Weil sie in beidem zuhause sind, vermitteln die Aktiven sozialdemokratische Positionen in die Kirchen und das Judentum hinein und umgekehrt christliche und jüdische Positionen in die Partei. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu dem geplanten „Arbeitskreis der sozialdemokratischen LaizistInnen“, die einen klar formulierten Forderungskatalog mit wesentlichen Änderungen im Staatskirchen-Verhältnis zur politischen Position der SPD machen und mit Hilfe der Partei in der Gesellschaft durchsetzen wollen.

Reminiszenzen an alte kirchenkämpferische Positionen dürften also auch nicht ausreichen, dass der Kreis so nachhaltige Resonanz findet. Vieles spricht dafür, dass die nach wie vor hohe Aufmerksamkeit ihren Grund in der gegenwärtigen religionspolitischen Situation hat. Forderungen nach einer stärkeren Trennung von Kirche und Staat werden schließlich nicht nur von sozialdemokratischen Laizisten und Laizistinnen vorgetragen, sondern sind auch aus den Reihen der FDP und der Grünen zu hören. Inzwischen werden sie gezielt flankiert durch den „Koordinierungsrat säkularer Organisationen“, der eine Kampagne „Jetzt reicht’s! Staatsleistungen an die Kirchen ablösen!“ gestartet hat und sich dafür auf das „Violettbuch Kirchenfinanzen. Wie der Staat die Kirchen finanziert“ stützt, das der Leiter des Humanistischen Pressedienstes, Carsten Frerk, herausgegeben hat (vgl. dieses Heft, 1 ff.).

Die Forderungen treffen auf eine gegenüber der alten Bundesrepublik stark veränderte religiöse Landschaft. Im Blick auf Kirchen und Religionsgemeinschaften haben wir es mit einer unübersichtlichen Lage zu tun, in der durchaus gegenläufige Tendenzen auszumachen sind. Die großen Kirchen kämpfen mit einem Mitgliederschwund, und soziologische Untersuchungen zeigen, dass sie längst nicht mehr alle Milieus der Gesellschaft erreichen. Insbesondere für Jugendliche verlieren die etablierten Kirchenstrukturen an Anziehungskraft. Hinzu kommt der immense Vertrauensverlust durch die Vorfälle in kirchlichen Heimen und vor allem durch sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Kleriker der katholischen Kirche. Diese Vertrauenskrise trifft vor allem diejenigen, die in der Kirche stark engagiert sind. Die Rücktritte bekannter Bischöfinnen und Bischöfe haben die Organisationen zusätzlich geschwächt.

Ein radikaler Mentalitätswechsel

Die mess- und beschreibbaren Faktoren werden von tief greifenden Veränderungsprozessen bezüglich der Stellung von Religion und Christentum insgesamt begleitet. Der kanadische Sozialphilosoph und politische Theoretiker Charles Taylor hat unlängst in einer detailreichen Studie die Geschichte der Säkularisation als Geschichte eines radikalen Mentalitätswechsels seit 1500 beschrieben. Der moderne Mensch bedarf keiner Transzendenz mehr, um den mittleren Zustand eines „normalen Glücks“ in Familie und Beruf zu erreichen. Taylor kennzeichnet die gegenwärtig herrschende Mentalität als völlig selbstgenügsamen und ausschließenden Humanismus, der zum ersten Mal in vielen Kreisen zu einer wählbaren Option geworden sei. Das säkulare Denken bestimme die Gesellschaft so, dass die Frage, wie ein intellektueller Mensch heute noch an Gott glauben kann, vor dem Hintergrund dieses Alltagshumanismus zu beantworten sei.

Die Folgen für das Christentum sind gravierend. Taylor spricht von einem „Rückzug des Christentums“ und meint damit, „dass sich immer weniger Menschen durch eine starke politische Identität, durch Gruppenzugehörigkeit oder das Gefühl der Bewahrung einer sozial unentbehrlichen Ethik zum Glauben hingezogen fühlen oder an ihren Glauben gebunden werden. Natürlich wird es dergleichen auch weiterhin geben. Eine ausgeprägte Gruppenidentität kann etwa für Immigranten, vor allem für kürzlich eingewanderte Menschen wichtig sein. (…) Generell kann man jedoch sagen, dass für nordatlantische Gesellschaften (…) gilt: Den bis vor kurzem vorherrschenden religiösen Formen (…) wird es in höherem oder geringerem Maße (…) schwerfallen, ihre Mitglieder bei der Stange zu halten“ (Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 859, 861).

An diese Entwicklungen knüpfen die Forderungen der Laizisten an. Im Namen der Konfessions- und Religionslosen, die inzwischen ein Drittel der deutschen Bevölkerung ausmachen, und mit dem Hinweis auf die große Zahl von Muslimen formulieren sie einen Katalog, mit dem sie die angeblichen Vorrechte der großen Kirchen abschaffen wollen. Sie fordern die Streichung des Gottesbezugs in Grundgesetz und Landesverfassungen, die Entfernung religiöser Symbole aus öffentlichen Gebäuden, Schulen und Kindergärten, die Abschaffung des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts nach Artikel 7,3 GG, die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, die Schließung theologischer Fakultäten, die Streichung von Sendezeiten für christliche Verkündigungssendungen, die Abschaffung des „Dritten Wegs“ im kirchlichen Arbeitsrecht, den Verzicht auf öffentliche Militärseelsorge etc.

Ihr Hauptargument: Nur ein „wahrhaft religionsneutraler Staat“ könne der gewachsenen Pluralität der Bundesrepublik Deutschland gerecht werden, und dieser sei nur dann gewährleistet, wenn Religion und Staat radikal getrennt würden.

Die einzelnen Forderungen sind nicht neu. Gerade weil sie aber einen Resonanzboden in dem haben, was Taylor den „selbstgenügsamen Humanismus“ nennt, weil sich ihre Protagonisten auf tatsächliche Veränderungen in der Gesellschaft beziehen und Laizismus als Antwort auf die weltanschauliche und religiöse Pluralität propagieren, ist der Anspruch in aller Nüchternheit zu prüfen. Das gilt vor allem für die zwei genannten Grundannahmen.

Intensive Heterogenität der religiösen Situation

Es ist richtig, dass die Zahl der Konfessions- und Religionslosen zunimmt. Zwar attestiert der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung 2007 noch immer 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, dass sie religiös oder sogar „hochreligiös“ seien, doch spricht die Studie zugleich von einer „intensiven Heterogenität der religiösen Situation“. Denn die Konfessionslosen, zu denen im Westen 2007 20 Prozent gehörten, haben zu gut zwei Dritteln überhaupt keinen Zugang zu religiösen Inhalten und Formen. (vgl. Religionsmonitor 2008, 15).

Die Argumentation der Laizisten schließt aus der Konfessions- und Religionslosigkeit auf die Unterstützung einer laizistischen Haltung. Die Gleichung aber wäre zu überprüfen, an ihrer Richtigkeit sind Zweifel angebracht. So antworteten in einer 2002 von dimap durchgeführten Untersuchung zu Religion und Politik immerhin 49 Prozent der befragten ehemaligen Katholiken und 53 der ehemaligen Protestanten auf die Frage, ob sich die Kirchen in Zukunft in ethischen und moralischen Fragen stärker zu Wort melden sollten, mit Ja. Bei der Frage, ob die Kirchen bei Sterbehilfe für unheilbar Kranke Stellung nehmen sollten, lagen die Zahlen sogar noch höher (für „Ja“ ehemalige Katholiken: 70 Prozent, ehemalige Protestanten: 84 Prozent).

Selbst wenn man zu Recht annehmen kann, dass die Quoten heute insgesamt niedriger liegen würden, so zeigen die Zahlen doch, dass Kirchenaustritt und Kirchenferne nicht automatisch mit Forderungen nach einer deutlich geringeren Präsenz und Bedeutung der Kirchen in der Öffentlichkeit gleichzusetzen sind.

Noch kritischer aber ist die Forderung zu sehen, dass nur ein wirklich religionsdistanzierter Staat der Forderung des Grundgesetzes entspreche, keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Sie legt den Schluss nahe, dass der staatliche Bereich oder sogar der gesamte öffentliche Raum religionsfrei oder zu einem säkularistischen Bekenntnis verpflichtet werden soll. Hier zeigt sich sehr klar, dass der Laizismus nicht neutral ist, sondern selbst Partei im Streit der Weltanschauungen.

Indem der Staat Religion aus der Öffentlichkeit zurückdrängt, nimmt er mindestens indirekt Partei für einen säkularen Humanismus. Das aber stellt den Grundgedanken der weltanschaulichen Neutralität, wie ihn das Grundgesetz vorsieht, auf den Kopf. Neutralität des Staates ist zunächst nämlich eine negative Forderung an diesen selbst: auf eine eigene Sinnstiftung oder die Identifikation mit einem bestimmten Bekenntnis zu verzichten. Mit diesem Verzicht auf die „cura religionis“ zieht sich der Staat nicht einfach zurück. Er eröffnet damit vielmehr den Raum für die freie Entfaltung der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen seiner Bürger.

Forderungen nach Trennung von Religion und Politik, auch solche, hinter denen sich Positionen verbergen, die Religionen (insbesondere das Christentum) als Reste eines unaufgeklärten Denkens betrachten und aus dem öffentlichen Raum herausdrängen wollen, gehören zu einer pluralen Gesellschaft dazu. Selbstverständlich können sie geäußert werden und sind Anlass zur Debatte. Heiner Bielefeldt, langjähriger Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte und seit August UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit, hält aber mit Recht fest: „Als Programm staatlicher Politik müssten sie jedoch in Widerspruch zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des säkuleren Staates geraten“ (Heiner Bielefeldt, Muslime im säkularen Rechtsstaat, 47).

Unsere Verfassungsordnung ist offen für unterschiedliche Begründungen

Die prinzipielle Differenz zwischen säkularer Rechtsordnung und säkularistischer Weltanschauung ist aber auch in eine andere Richtung zu betonen. In der gegenwärtigen erhitzten Debatte um die Integration von Muslimen – oder deutlicher noch: um die Stellung des Islams in Deutschland – wird nicht selten die Forderung erhoben, Muslime müssten sich zur säkularen Rechtsordnung „bekennen“ oder gar sich zwischen Koran und Grundgesetz entscheiden. Aber auch denen, die dies fordern, ist mit Ernst-Wolfgang Böckenförde entgegenzuhalten: „Keine Religionsgemeinschaft ist gehalten, sich zur Wertordnung des Grundgesetzes innerlich zu bekennen, um ihrer Rechte teilhaftig zu werden. Auch das gehört zur Religionsfreiheit“ (Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, 432). Es reicht aus, dass sich ihre Mitglieder gegenüber den geltenden Gesetzen loyal verhalten.

Mit dieser radikalen Freiheit für die Werte und Überzeugungen der Einzelnen geht der Staat ohne Zweifel ein Wagnis ein. Nichts anderes beschreibt der inzwischen fast überstrapazierte Satz Böckenfördes, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Einerseits ist der säkulare Rechtsstaat nämlich darauf angewiesen, dass es ein gewisses Maß an Übereinstimmung in den Grundhaltungen gibt, die die Verfassungsordnung tragen. Andererseits kann er sie nicht mit den Mitteln des Rechtszwangs oder des autoritativen Gebots einfordern, ohne zugleich die Freiheit aufzuheben, die er schützen will.

Aus dieser Überlegung wird unmittelbar deutlich, dass es unzulässig ist, aus dem Satz von Böckenförde die Anerkennung einer wie auch immer begründeten Leitkultur abzuleiten und von oben erzwingen zu wollen, die diese Garantie übernimmt. Böckenförde unterstreicht, dass das Christentum das Potenzial hat, die Werte der freiheitlichen Demokratie zu fundieren. Aber das bedeutet weder, dass dies die einzige geeignete Quelle ist, noch dass es nur die Religion ist, die das Ethos schafft, von dem der Staat zehrt. „Auch weltanschauliche, politische oder soziale Bewegungen können den Gemeinsinn der Bevölkerung und die Bereitschaft fördern, nicht stets rücksichtslos nur auf den eigenen Vorteil zu schauen, vielmehr gemeinschaftsorientiert und solidarisch zu handeln“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. September 2010).

Wir müssen die Tatsache anerkennen, dass unsere Werte- und Verfassungsordnung offen ist für unterschiedliche Begründungen. Das gehört zu den Lernprozessen, vor denen wir auch in Deutschland stehen. Wir brauchen eine „Integrationsdebatte“, die unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Gruppen dazu anregt, in den Werten der Demokratie wichtige Anliegen ihrer jeweiligen Traditionen zu entdecken und die Demokratie als den Raum zur Verwirklichung der eigenen Überzeugungen zu begreifen. Die Rechtsordnung hat dabei gegenüber den Glaubens- und Wertüberzeugungen der Einzelnen keinen weltanschaulichen Vorrang, sondern beansprucht nur einen Primat rechtlicher Geltung, das heißt, sie gibt den Rahmen und damit auch die Schranken für das Verhalten der Einzelnen vor. Auf diese Weise kann ein „overlapping consensus“ entstehen, der die gemeinschaftliche politisch-gesellschaftliche und rechtliche Praxis trägt und die Überzeugungen der Einzelnen in höchstem Maße ernst nimmt.

Vor diesem Hintergrund erscheint die schlichte Forderung nach einer radikalen Trennung von Staat und Kirche und einer Zurückdrängung der starken Überzeugungen der Bürger und Bürgerinnen aus dem öffentlichen Raum als Antwort auf Pluralität fast anachronistisch. Böckenförde attestiert deshalb auch dem Laizismus französischer Prägung – gegenüber dem deutschen Modell einer balancierten Trennung – ein geradezu reaktionäres Staatsverständnis. Die postsäkulare Gesellschaft erfordert vielmehr, dass ihre Rechtsordnung den individuellen Bekenntnissen auch öffentlich breiten Raum lässt.

Das ist freilich ein anspruchsvolles Programm, setzt es doch voraus, dass die Einzelnen ihre Traditionen nicht nur irgendwie leben, sondern auch auskunftsfähig und auskunftsbereit sind. Der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom hat in einem bemerkenswerten Essay (Die Zeit, 21. Januar 2010) eindringlich die Frage gestellt, ob wir dazu überhaupt noch in der Lage sind. Denn „wir haben in den letzten fünfzig Jahren eine ganze Reihe anderer Welten hinzubekommen, während wir gleichzeitig im Begriff sind, unsere eigene Welt langsam zu verlieren.“ „Unsere“ Welt, das sind die Geschichten der Mythen der Antike, aber vor allem, so Nooteboom, sind es die Bilder und Geschichten der Bibel und ihre wechselvolle Nachgeschichte.

Damit aber ist in aller Schärfe die Herausforderung benannt, vor der Christen und Kirche im Prozess der Pluralisierung der Gesellschaft stehen: das Eigene selbstbewusst geltend zu machen. Dazu reicht keine abstrakte Rede von christlichen Werten oder die Behauptung eines rechtlichen Status quo. Die Areopagrede der „2010er Jahre“ muss überzeugend, ja sie muss ansteckend sein. Die Antwort auf einen lauter gewordenen säkularen Fundamentalismus darf dabei allerdings kein erneuter christlicher Fundamentalismus sein!

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