Der kanadische Philosoph Charles Taylor wird 80 Jahre altDass Menschsein gelingt

Wenngleich erst die so genannte Kommunitarismusdebatte dem kanadischen Philosophen Charles Taylor hierzulande zu größerer Bekanntheit verholfen hat, darf nicht übersehen werden, dass er in nahezu allen wichtigen sozialphilosophischen Diskursen der Gegenwart präsent ist. Vor allem seine jüngeren religionsphilosophischen Schriften haben eine breite Resonanz auch bei Theologen gefunden.

Aktuell, vielseitig, beständig, präsent – und man könnte noch hinzufügen katholisch. Mit diesen knappen Attributen lässt sich jedoch allenfalls eine erste Spur zu Denken, Werk und Leben des kanadischen Philosophen Charles Margrave Taylor legen, aber damit ist weder alles gesagt noch wäre er zureichend erfasst. Aktuell ist Taylor gegenwärtig vor allem durch die Themen, die er in den zurückliegenden Jahren intensiv und anregend bearbeitet hat: Religion und Säkularität. Vielseitig ist er in den Themen und Fragestellungen, mit denen er sich im Laufe der Jahrzehnte seines Philosophen-Daseins befasst hat: Hier sind repräsentativ vor allem seine wissenschaftlichen Studien und essayistischen Beiträge zu Hermeneutik, Sprachphilosophie, Anthropologie, Handlungstheorie, Sozial- und Moralphilosophie, Deutschem Idealismus, Multikulturalität, Kulturanalyse der Moderne, Kommunitarismus sowie Religion(en) unter säkularen Vorzeichen zu nennen.

Beständig ist er trotz seines bemerkenswert breiten thematischen Spektrums. Die Grundlinien seines Denkens haben sich auch über mehrere Jahrzehnte hinweg nicht verändert – zu den zentralen Fragen, die Taylor philosophisch umtreiben, zählt vor allem die Frage nach den Möglichkeits- und Gelingens-Bedingungen des Menschseins im Kontext des Sozialen, und man könnte hinzufügen: im Zeitalter der Moderne.

Präsent ist der Franko-Kanadier hierzulande nicht nur durch seine zahlreichen ins Deutsche übersetzten Schriften und Beiträge oder durch Vorträge an Universitäten und Akademien, sondern auch durch wiederkehrende Berichte und Porträts, durch Rezensionen seiner jeweils aktuell erschienenen Publikationen oder mit Interviews zu unterschiedlichen Themenbereichen in führenden Tages- oder Wochenzeitungen (vgl. HK, August 2004, 393 ff.). Präsent in der Öffentlichkeit ist der hochgewachsene Denker auch durch eine Vielzahl an Ehrungen und Preisen, die er in verdienter Anerkennung seines Werkes weltweit entgegennehmen durfte. Für Deutschland ist der Hegelpreis (1997) zu nennen, international sticht in jedem Fall der renommierte und zugleich hoch dotierte, als japanischer Nobelpreis geltende Kyoto-Preis (2008) hervor.

In Deutschland bekannt geworden mit der Kommunitarismusdebatte

Im deutschsprachigen Raum teilt er das Schicksal einer ganzen Reihe nordamerikanischer Denker. Denn einer breiteren Leserschaft bekannt geworden sein dürfte der produktive Gelehrte aus Montréal vermutlich durch die so genannte Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte. Obgleich er bereits 1975 einen voluminösen Band zu Hegel veröffentlicht hatte, wurde ihm „erst“ 1997 der renommierte Hegelpreis der Stadt Stuttgart verliehen – gewissermaßen mitten im Hype des Kommunitarismusdiskurses. Am Rande vermerkt sei, dass sich unter den Gästen des Ehrungsaktes auch der damals hochbetagte Hans-Georg Gadamer (1900 bis 2002) befand, der neben Heidegger auf Taylors hermeneutisches Denken einen nicht unwesentlichen Einfluss hatte.

Zu seiner Biographie wurde nur wenig dokumentiert. Die meisten Autoren beziehen sich auf die Eckdaten, die Hartmut Rosa für seine Taylorstudien zusammentragen konnte. Geboren wurde Charles Taylor am 5. November 1931 in Montréal. Prägend und impulsgebend für sein späteres politisches Engagement zugunsten des kanadischen Multikulturalismus war der Umstand, dass Taylor im frankophonen Kontext Québecs aufwuchs – mit einer Französisch sprechenden Mutter und einem englischsprachigen Vater.

Aufgrund seines Interesses an sozial- und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen galt sein Studienschwerpunkt an der Universität von Montréal zunächst dem Fach Geschichte. Zu seinen weiteren Studienfächern zählten ab dem Jahre 1952, nachdem Taylor nach Europa übergesiedelt war und an die Universität von Oxford gewechselt hatte, Politik, Philosophie und Wirtschaft.

Isaiah Berlin, vor allem bekannt durch seine Differenzierung des Freiheitsbegriffs, war hier zunächst Taylors akademischer Lehrer, später dann auch sein Freund. Nach seiner dortigen Promotion mit einer Dissertation zu „Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen“ kehrte Taylor nach Kanada zurück und wurde 1961 Professor für Politische Wissenschaften und Philosophie an der Université de Montréal in seiner Heimatstadt. Von 1976 bis 1981 lehrte der kanadische Philosoph dann selbst in Oxford im Rahmen einer Professur für Soziale und Politische Theorie und war zugleich Fellow am All Souls College. Bis zu seiner Emeritierung 1998 hatte Taylor wiederum eine Professur für Politikwissenschaft und Philosophie in Montréal inne.

Taylor zählt zu den politischen Philosophen, deren Denken Hand in Hand geht mit gesellschaftlichem Engagement. Hier ist zu vermerken, dass Taylor sich zum einen immer wieder für Québec und dessen frankophone Tradition und Kultur engagiert hat, zum andern hat er den Aufbau der ersten sozialdemokratischen Partei in Kanada unterstützt und sich in den sechziger Jahren aktiv als Kandidat der New Democratic Party an den Wahlkämpfen beteiligt. Sein wiederholt versuchter Einzug in das kanadische Parlament mit einem Sitz im House of Commons scheiterte mehrfach – unter anderem auch am Wahlerfolg seines Gegenkandidaten, dem späteren kanadischen Regierungschef Pierre Trudeau von der Liberalen Partei Kanadas.

Ein politischer Philosoph der Tat

Unter seinen ebenso zahlreichen wie thematisch vielseitigen Publikationen ragen vor allem seine drei monumentalen Monographien heraus: das 1975 erschienene grundlegende Werk zu Hegel, 1989 dann „Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität“ und vor wenigen Jahren „Ein säkulares Zeitalter“ (2007).

Der in Jena lehrende Soziologe und profunde Taylor-Kenner Hartmut Rosa (Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt 1996) bescheinigt diesem eine außergewöhnliche Präsenz in nahezu allen wichtigen sozialphilosophischen Diskursen der Gegenwart. Ein Faktum, das sich vor allem auf dessen Beheimatung in unterschiedlichen philosophischen Traditionen zurückführen lässt: Taylor ist sowohl mit der angelsächsischen analytischen Philosophie als auch mit der kontinentaleuropäischen Philosophie des deutschen Idealismus, der französisch geprägten Existenzialphilosophie und mit der Hermeneutik vertraut.

Vor diesem Hintergrund ist zu betonen, dass Taylor sich gerade dadurch auszeichnet, dass es ihm gelingt, differente Traditionen des Denkens und Ansätze der Philosophie miteinander zu verbinden. Und obgleich Taylors (sozial-)philosophische Vielseitigkeit in seinem Werk offen zu Tage tritt, nennt er sich selbst einen „Monomaniac“, dem es in erster Linie darum gehe, eine philosophische Anthropologie auszuarbeiten, in deren Mittelpunkt die Natur menschlichen Daseins und Handelns und deren sprachliche Kommunizierbarkeit und Interpretierbarkeit stehen.

Den Beginn seines philosophischen Denkens markiert seine viel beachtete Kritik an den Positionen des Behaviourismus. Diesem entgegengesetzt betont Taylor, wie sehr die Erklärung und Deutung menschlichen Handelns intentionale und teleologische Kategorien umfassen muss. Die analytische Perspektive der ersten Person ist alles andere als hinreichend, um das Tun des Menschen zu deuten und zu erklären; damit zusammenhängende Sprache und Motivation lassen sich nicht ohne Rekurs auf Kontexte des Sozialen, sprich der Verwurzelung und Beheimatung in konkreten Gemeinschaften, interpretieren.

Drei Intentionen lassen sich in dem Philosoph Axel Honneth und dem Soziologen Hartmut Rosa zufolge in den politisch-philosophischen Bemühungen der summarisch als Kommunitaristen bezeichneten Denker aufspüren: Taylor und anderen „Communitarians“ gehe es unter Betonung der Zentralität von Gemeinschaft insbesondere darum, die Freiheitsbedingungen menschlicher Subjekte, die Voraussetzungen einer gelingenden personalen Identität sowie die Ermöglichungsbedingungen einer gerechten Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne zu erkunden. Diesen zentralen Kennzeichen des kommunitaristischen Denkens lassen sich auch die inhaltlichen Anliegen Taylors ohne Weiteres zuordnen. Die Kritik am atomistischen Menschenbild neuzeitlichen Denkens und die Betonung der gemeinschaftlichen Konzeption des Menschen benennen schlaglichtartig die Hauptgedanken Taylors.

Rezeption in Theologie und Kirche

Wenngleich die Kommunitarismusdebatte Charles Taylor zu internationaler Bekanntheit verholfen haben dürfte, und er hier auch ganz entscheidende inhaltliche Akzente setzen konnte, so ist doch zu vermerken, dass er, ähnlich wie auch sein amerikanischer Kollege Michael Walzer, das Etikett „Kommunitarist“ nur äußerst ungern auf sich beziehen ließ. Dies dürfte mitunter daran gelegen haben, dass der so genannte Kommunitarismus zum einen doch ein sehr breites Spektrum an unterschiedlichen Positionen sowie Herangehensweisen umfasste, zum anderen könnte es der Intention geschuldet sein, dass es eine externe Eingrenzung auf ein gedanklich wie zeitlich begrenztes Diskursfeld, das überdies die eigenen philosophischen Konturen zu verwischen und die damit verbundene Themenvielfalt zu relativieren drohte, zu vermeiden galt.

Das Werk Taylors wurde im deutschen Sprachraum nicht nur von Philosophen, Politikwissenschaftlern und Soziologen (Walter Reese-Schäfer, Michael Haus, Michael Kühnlein, Axel Honneth, Hans Joas) rezipiert, sondern auch – und dies mit ganz unterschiedlichen Akzenten – von theologischer Seite (Hille Haker, Walter Schaupp, Bernhard Laux, Thomas Kreuzer). Unter anderem gelingt es Walter Schaupp in seiner Studie, die moraltheologische Relevanz von Taylors Grundanliegen herauszuarbeiten (Gerechtigkeit im Horizont des Guten, Fribourg–Freiburg 2003). Taylor stellt einen Ansatz bereit, mit dem es gerade auch der Moraltheologie gelingen könne, als Gegenakzent zu philosophischen Strömungen, die durch ihre formal-prozeduralen Ausrichtungen eine Neutralisierung des moralisch Guten mit sich bringen, sich als eine dichte und umfassende Theorie des Guten in ein fruchtbares Verhältnis zur modernen Gesellschaft zu setzen, ohne jedoch aufgrund der partikulären Form des Guten totalisierende Ansprüche auf die Lebensentwürfe der Menschen erheben zu müssen.

Auch Taylors Entwürfe zur Entstehung neuzeitlicher Identität und seine über den Philosophen Harry Frankfurt adaptierte Begrifflichkeit der starken Wertungen bieten für eine theologisch beheimatete Ethik eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten, die in einschlägigen Studien bereits mehrfach aufgegriffen und weiterentwickelt worden sind.

Taylor selbst hat mit seiner jüngsten Schwerpunktsetzung dafür gesorgt, dass ihm und seinem Werk erneut und doch auf andere Weise wiederum neben einer Reihe anderer Disziplinen die Aufmerksamkeit seitens der Theologie – und hier nun nicht nur durch die Wissenschaft, sondern auch durch kirchliche Repräsentanten – zuteil wurde: insofern Taylor sich in unterschiedlichen Beiträgen ganz explizit sowohl mit dem Christentum insgesamt als auch mit dem Katholizismus befasst, und sich dies einordnen lässt in seine kultur- und religionsgeschichtlichen Analysen, die mit der Monumentalschrift „Ein säkulares Zeitalter“ (2009 erschien in Frankfurt die deutsche Ausgabe) einen neuen Höhepunkt erreichen.

„Ein säkulares Zeitalter“

Taylors Werk hatte zuvor schon seinen Stellenwert in der Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie. Bereits in den neunziger Jahren hatte sich Taylor etwa ausführlich mit dem Werk von William James und der Frage nach der Bedeutung religiöser Erfahrung und der Institutionalisierung von Religion auseinandergesetzt. Doch die Dichte und Vielzahl der im weitesten Sinne religionsphilosophischen, religionsgeschichtlichen und religionspolitischen Impulse in den jüngst zurückliegenden Jahren markiert eine vollkommen neue Etappe in Taylors Werk-Geschichte, die es gegenwärtig aufzunehmen, zu analysieren und interpretieren gilt.

Dazu zählen insbesondere die in Taylors jüngster Monographie, die unter anderem wesentliche Etappen der Religionsgeschichte nachzeichnet, zentrale Frage nach dem Verhältnis von Religion und Moderne. Fundamental ist hier der Wandel von einer Gesellschaft, in der es nahezu unmöglich war, nicht an Gott zu glauben, hin zu einer Gesellschaft, in der der Gottesglaube eine von vielen Optionen der Lebensorientierung des modernen Menschen ist.

Im Gegensatz zum Sprachgebrauch in der gegenwärtigen Philosophie und Soziologie bevorzugt Taylor (trotz aller Inkonsequenz im einheitlichen Sprachgebrauch) gegenüber der Verwendung von „Säkularisierung“ oder „Säkularismus“ den Terminus „Säkularität“, um die Faktizität des mit ihm transportierten Inhalts zu unterstreichen.

Zudem unterscheidet Taylor in seiner Systematik verschiedene entwicklungsgeschichtliche Stufen der Säkularität. Zu der in der Sozialphilosophie immer wieder verhandelten Frage, in welcher Weise sich Religion beziehungsweise Religionen am öffentlichen Diskurs beteiligen dürfen, geht Taylor in einem gesonderten Beitrag („Die Bedeutung des Säkularismus“, 2009) deutlich über die Positionen von John Rawls oder Jürgen Habermas hinaus, und hält ihnen unverblümt vor, sie hätten die normative Basis des modernen säkularen Staates noch nicht verstanden – und dies obgleich gerade diese beiden Philosophen erstaunliche Veränderungen in ihrer Auffassung über die Bedingungen und Kriterien religiösen Sprechens beziehungsweise Argumentierens als Modus des öffentlichen Vernunftgebrauchs vollzogen haben.

Welchen Stellenwert, welche Bedeutung hat Religion nun im weltanschaulich neutralen, ja im säkularen Staat? Religion stehe zunächst im Verdacht eines politischen Bedrohungspotenzials sowie der Irrationalität und fehlerhaften Denkweise. Gerade gegen zweitgenannten Vorbehalt zieht Taylor vor allem mit erkenntnistheoretischen Überlegungen ins Feld, versucht ihn zu entkräften und fordert eine kritische Überprüfung der durch den Säkularismus generierten religionsskeptischen Auffassungen. Im Rekurs auf die Revolutionstrias: „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ formuliert Taylor bei seinen Überlegungen zur Konzeption des säkularen Staates drei Grundprinzipien zur Frage der Religion in der modernen, pluralistischen Gesellschaft: Demnach ist unter Religionsfreiheit zu verstehen, dass im Bereich der Religion oder der Grundüberzeugung niemand zu etwas gezwungen werden dürfe. Religionsfreiheit schließt infolgedessen auch die Freiheit zum Nichtglauben ein.

Einvernehmliche Beziehungen zwischen verschiedenen Religionen und Weltanschauungen

Gleichberechtigung ist hinsichtlich der Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften beziehungsweise Glaubensgruppen zu praktizieren. Dies impliziert, dass keine religiöse oder areligiöse Auffassung beziehungsweise Weltanschauung eine Vorrangstellung einnehmen oder gar als offizielle Staatsanschauung anerkannt werden dürfe. In dem fortwährenden Prozess, der die Grundbestrebungen der Gesellschaft sowie die damit verbundenen Verfahren und Zielsetzungen vermittelt, müssen alle religiösen beziehungsweise weltanschaulichen Gruppen einbezogen werden und das heißt in der Praxis: gehört werden.

Taylor ergänzt schließlich ein gewagtes viertes Prinzip: Es formuliert das Bestreben, zwischen den Anhängern der verschiedenen religiösen oder weltanschaulichen Gruppen harmonische und einvernehmliche Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Die kirchliche wie theologische Aufmerksamkeit für die Thesen und Anliegen des praktizierenden Katholiken Taylor erhielt Aufwind, als im vergangenen Jahr der Wiener Kardinal Christoph Schönborn auf der Suche nach Quellen der religiösen Erneuerung und den Perspektiven von Religion in Europa den öffentlichen Dialog mit dem Philosophen suchte. Und wenngleich Gemeinsamkeiten in bestimmten Grundanliegen zur Präsenz des Religiösen in der Öffentlichkeit, zur Offenheit der Kirche gegenüber Menschen ohne religiöse Sozialisation und Transzendenzbezug oder hinsichtlich eines differenzierenden Verständnis des Säkularisierungsbegriffs konstatiert wurden, so machte Taylor doch unmissverständlich das kirchliche Lehramt für die „Verengung des Spirituellen“, für moralischen Rigorismus sowie für die Abkehr der Menschen von der Institution Kirche trotz deren religiös-spirituellen Suche verantwortlich und prognostizierte einen weiteren Exodus.

Die Kirchen sind herausgefordert, Antworten auf die spirituellen Suchbewegungen der Gegenwart zu finden. Indirekt bestätigte Schörnborn, der seine Kirche unmissverständlich zur Bereitschaft des Zuhörens aufforderte, zudem eine zentrale These Taylors, der in säkularisierten westlichen Gesellschaften wesentliche christliche Werte stärker verwirklicht sieht, als es diese vor dem Zeitalter der Aufklärung jemals gewesen waren: Wertschätzung und Autonomie des Individuums, Gleichheits- und Freiheitsrechte im Rahmen universaler Menschenrechte; überdies Werte, die – so der Kardinal – in der kritischen Auseinandersetzung mit der Kirche gerade gegen sie ins Feld geführt werden. Zu ergänzen wäre zu den von Taylor immer wieder benannten „Errungenschaften des Christentums“ auch dessen kulturelle Bedeutung, wie sie in Musik, Literatur und Malerei Gestalt annimmt.

Kritik, die immer wieder gegen Taylor vorgebracht wird, bezieht sich zum einen auf die Frage, inwiefern Taylor selbst den moralphilosophischen Ansprüchen gerecht wird, die er gegenüber anderen Denkern erhebt. Zum anderen erscheint sein Darstellungsmodus immer wieder offen und daher unabgeschlossen, so dass zu Recht eine fehlende Systematik problematisiert wird. Diesen Mangel vermag Taylor auch nicht durch sein enormes Detailwissen, das er immer wieder aufbietet, auszugleichen. Der Respekt vor seinem beeindruckenden Werk bleibt nichtsdestoweniger uneingeschränkt. Umso mehr, als es Taylor offenkundig gelingt, auch noch im fortgeschritten Alter das Interesse und die Aufmerksamkeit seiner wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen sowie eines öffentlichen Publikums auf sich zu ziehen.

Die intensive Taylor-Rezeption und das derzeitige vitale Interesse an seinen Überlegungen ist nicht zu übersehen. Dem Philosophen aus Kanada ist es wiederholt gelungen, markante Wegmarken zu setzen, die jeweils eine rege Beschäftigung mit seinen Ansätzen, Anfragen und Anliegen auszulösen vermochten. Man darf nicht nur gespannt sein auf den für diesen Herbst angekündigten Sammelband „Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor“ (Michael Kühnlein und Matthias Lutz-Bachmann [Hg.], Frankfurt 2011), sondern Taylor-Fans werden sich auch an weiteren Schriften erfreuen, die aus der Feder des Philosophen selbst stammen (im Druck befindet sich: Charles Taylor / Jocelyn Maclure, Laizität und Gewissensfreiheit, Frankfurt 2011). Insofern ist dem Jubilar aus Übersee ein produktives Wirken mit anregenden Publikationen, luziden Zeitdiagnosen und ein Sprudeln der Quellen seines Wissen auch in seinem neunten Lebensjahrzehnt zu wünschen.

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