Zum 500. Jahrestag der Adventspredigt von Antonio de MontesinosKämpfer für Gerechtigkeit

Vor 500 Jahren protestierte in Santo Domingo der junge Dominikaner Antonio de Montesinos in einer Adventspredigt gegen die Versklavung der so genannten „Indios“. Diese Predigt kann durchaus als Auftakt der Theologie der Befreiung verstanden werden. Immer wieder beruft sich die Kirche in Lateinamerika in ihrem Einsatz für die Armen auf Montesinos.

Es war vor 500 Jahren, am 21. Dezember 1511, dem vierten Adventssonntag, als auf der 1492 von Christoph Kolumbus „entdeckten“ und La Española genannten Insel (heute teilen sich die Staaten Dominikanische Republik und Haiti die Insel) Unerhörtes geschah: In Santo Domingo, dem Hauptort der spanischen Kolonie, stand Antonio de Montesinos auf, ein damals etwa 26-jähriger Dominikaner, der 1502 dem Orden beigetreten und im Jahr zuvor nach Hispaniola gekommen war. Er bestieg die Kanzel und ließ eine Predigt heiligen Zorns über seine Landsleute niedergehen, eine scharfe, bittere Anklage gegen die Versklavung der so genannten „Indios“.

Sein Ordensbruder Bartolomé de Las Casas hat Montesinos’ Predigt in seiner „Historia general de las Indias“ (Allgemeine Geschichte der westindischen Länder) überliefert (ins Deutsche übersetzt in: Eberhard Schmitt [Hg.], Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Band 3, 1987, 491– 497): „Ihr seid alle in Todsünde und lebt und sterbt in ihr wegen der Grausamkeit und Tyrannei, die ihr gegen jene unschuldigen Völker gebraucht. Sagt, mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit haltet ihr jene Indios in einer so grausamen und schrecklichen Knechtschaft? Wer hat euch Vollmacht gegeben, so verabscheuungswürdige Kriege gegen diese Menschen zu führen, die ruhig und friedlich ihre Heimat bewohnten, von denen ihr unzählige durch unerhörte Mord- und Gewalttaten ausgelöscht habt? Wie könnt ihr sie so unterdrücken und plagen, ohne ihnen zu essen zu geben, noch sie in ihren Krankheiten zu pflegen, die sie sich durch das Übermaß an Arbeit, die ihr ihnen auferlegt, zuziehen, und sie dahinsterben lassen, oder deutlicher gesagt, töten, nur um täglich Gold zu graben und zu erschachern? Was tut ihr, um sie zu lehren, dass sie Gott, ihren Schöpfer, erkennen, getauft werden, Messe hören, Feiertage und Sonntage halten? Haben sie nicht vernunftbegabte Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie zu lieben wie euch selbst? Das versteht ihr nicht? Das fühlt ihr nicht? Was für ein tiefer Schlaf, welche Lethargie hält euch umfangen? Seid sicher, dass ihr in diesem Zustand, worin ihr euch befindet, genausowenig das Heil erlangen werdet wie Mauren und Türken.“

Was Antonio de Montesinos so erbitterte, war die unchristliche, unmenschliche Behandlung der unterworfenen Bevölkerung durch die Konquistadoren. Ihnen hatte die spanische Krone „Encomiendas“ als Lehen übertragen, ausgedehnte Landgüter samt den dort lebenden Indígenas. Die Übertragung schloss die Pflicht des „Encomendero“ ein, „seine“ Indígenas zu taufen und zu schützen. Diese waren zur Arbeit für und zu Tributen an ihren Herrn verpflichtet, jedoch rechtlich keine Sklaven.

Die Praxis sah anders aus – so, wie Montesinos sie schildert. Die Politik Ferdinands des Katholischen, König von Aragón, Kastilien und León, gegenüber den Indígenas war widersprüchlich. Die spanische Krone war unfähig und unwillig, dem zur Regel gewordenen Missbrauch des Encomienda-Systems Einhalt zu gebieten. Als ihm die Dominikaner die erbärmlichen Verhältnisse, schlimmer noch, das Massensterben der Indígenas schilderten, zeigte sich der König schockiert. Was er vom Alltag in der Neuen Welt mitbekam, hatte zu oft den Informationsfilter der örtlichen Granden passieren müssen.

Auftakt der Theologie der Befreiung

Montesinos geht an die wirtschaftlichen Grundlagen des Kolonialsystems. Nach dem, was er an Gier und Grausamkeit unter seinen Landsleuten erlebt hat, glaubt er nicht mehr an die „gute Encomienda“, weil er nicht mehr an den „guten Encomendero“ glauben konnte. So verlangte er von ihnen, die ihnen zugewiesenen Indígenas freizulassen. Anderenfalls kündigte er Konsequenzen an, nämlich ihnen bei der Beichte die Lossprechung zu versagen. Denn ihr Verhalten wertete er als Todsünde; und die Lossprechung verlangt tätige Reue.

Montesinos hatte Mut. Er ahnte, was seine Worte bei den meisten seiner Landsleute auslösen würden: Wut und Hass. Denn, so Las Casas, „sie waren aufs Äußerste aufgebracht zu vernehmen, dass sie die Indios nicht weiterhin tyrannisieren dürften“. Sie versammelten sich im Hause des Gouverneurs Diego Colón, des Sohnes des Entdeckers, beschlossen, den Prediger einzuschüchtern, zogen vor den Konvent der Dominikaner und verlangten, Montesinos müsse alles widerrufen, was er gesagt habe; wo nicht, so würden sie für entsprechende Abhilfe sorgen.

Doch in seiner Predigt am folgenden Sonntag geschah nicht, was – außer den Dominikanern – alle erwartet hatten. Montesinos nahm nichts zurück, im Gegenteil: „Er hielt ihnen erneut das Unrecht der Unterjochung jener geplagten und heimgesuchten Völker vor und wiederholte seine Erkenntnis: Sie könnten jede Hoffnung auf ihr Seelenheil aufgeben.“

Der Kirchenhistoriker Johannes Meier bezeichnet die Montesinos-Predigten zutreffend als den Auftakt der Theologie der Befreiung, zwar nicht dem Begriff, aber der Sache nach. „Mit diesen Predigten rissen die Dominikaner den Konquistadoren die Kreuzfahrermaske vom Gesicht und eröffneten die jahrzehntelange Debatte um das Recht Spaniens zur Landnahme in Amerika“ (Die Anfänge der Kirche auf den Karibischen Inseln, Immensee 1991, 212). Hans-Jürgen Prien, ein protestantischer Erforscher der lateinamerikanischen Kirchengeschichte, schrieb über die Predigt: „Erstmals wurde in dieser Predigt, die alle Dominikaner solidarisch unterschrieben hatten, die vom Evangelium her begründete menschliche Geschwisterlichkeit mit den Ureinwohnern eindeutig proklamiert“ (Das Evangelium im Abendland und in der Neuen Welt, Frankfurt 2000, 171).

Dieser Satz enthält alle Schlüsselworte, die die Bedeutsamkeit der Predigt erschließen. „Erstmals“: 19 Jahre waren seit der Landung der Spanier auf Hispaniola vergangen, als Montesinos seine Stimme erhob. Ob es vorher schon prophetischen Protest gegen die Verbrechen der Eroberer gab, ist nicht überliefert. Jetzt jedenfalls war das Unerhörte geschehen. Diego Colón warf Montesinos vor, dass er „Ärgernis verursache“, indem er „neue Ansichten verbreite“ und „Neues und Schädliches predige“, wie Las Casas gleich zweimal hervorhebt. Das Etikett „Neuheit“ war ein höchst gefährlicher Angriff.

In einer Zeit, in der theologische Orthodoxie sich durch das Nichtabweichen von der Tradition beweisen musste, konnte der Vorwurf, „Novissima“, etwas ganz Neues, zu lehren, den Ruf, ja Kopf und Kragen kosten. Las Casas ging in beißender Ironie darauf ein: „Die Neuheit bestand in nichts anderem, als zu bekräftigen: Diese Menschen zu töten sei eine größere Sünde als Wanzen zu zertreten.“ Die Wahrheit, die Montesinos aussprach, war wirklich keine Neuheit. Dass er sie seinen Landsleuten entgegenzuhalten wagte, das war tatsächlich neu.

Entscheidend ist, dass das Erstmals kein Letztmals war. Von seiner legendären Predigt an – ein Höhepunkt der lateinamerikanischen Kirchengeschichte und ein Wendepunkt gleich mit deren Beginn – reißt die Tradition der Verteidigung der Menschenrechte und der Menschenwürde um des Glaubens und der Nachfolge Christi willen nicht mehr ab.

Das nächste Schlüsselwort lautet „solidarisch“: Wohl wissend, was nun auf ihn zukommen würde, verließ Montesinos am 21. Dezember 1511 „die Kanzel mit kaum geneigtem Kopf, denn er wollte keine Furcht zeigen, weil er ja keine hatte, auch kümmerte es ihn nicht viel, seinen Hörern zu missfallen, sofern er tat und sagte, was Gott wohl gefiel“. Die Gewissheit, gottgefällig zu handeln, war das eine, was ihm Kraft verlieh. Das andere war der Rückhalt seiner Gemeinschaft. Denn Montesinos stand nicht allein. Er predigte im Auftrag des gesamten Konventes, mehr noch: Einmütig hatten sie sich auf das Ziel der Predigt verständigt, dann gemeinsam den Text verfasst und schließlich alle das Manuskript unterschrieben, „damit es klar sei, dass es sich hier nicht nur um eine Sache des dazu bestimmten Predigers, sondern um ein Vorgehen nach Beratung und mit Zustimmung und Billigung aller handle“.

Lateinamerikanische Christen, die sich heute in Montesinos’ Nachfolge stellen, sagen, dass es nicht bloß um sein Anliegen geht, sondern dass es auch das „Wie“ sei, das sie von ihm gelernt haben: Nicht vereinzelt zu handeln, sondern einander zu stärken. Das hilft sogar beim Predigtschreiben.

Sprechen mit doppelter Autorität

Ein weiteres Schlüsselwort, in dem sich die Bedeutung der Predigt erschließt, heißt „vom Evangelium her“: Antonio de Montesinos legte beides in die Waagschalen: auf die eine Seite die Normen aus den beiden maßgeblichen Quellen, nämlich dem Evangelium und dem Gesetz, auf die andere Seite die Praxis seiner Landsleute. Das Abwägen überführt sie theologisch ihrer Sünde, juristisch ihres Unrechts. Was seine Argumentation so kraftvoll macht, ist unter anderem die doppelte Autorität des göttlichen Gebotes der Gerechtigkeit und des königlichen Willens. Das Evangelium aber steht dabei an erster Stelle und ist die letzte Instanz.

„Geschwisterlichkeit“ – das nächste Schlüsselwort: Geschwisterlichkeit? Mit solchen Menschen zweiter Klasse? Wenn die überhaupt Menschen sind! So mag mancher seiner Zuhörer gedacht haben, als Montesinos in rhetorische Fragen daran erinnerte, dass die Indígenas ebenso „vernunftbegabte Seelen“ haben wie seine Zuhörer. Papst und König hatten mehrfach klargestellt, dass die „Indios“ nicht Menschen niederer Ordnung sind. Aber gerade dass sie das tun mussten, zeigt, wie wenig selbstverständlich dies war. Von den Eroberern in den Antillen wurde es bestritten und von einzelnen Professoren in Spanien bezweifelt. Ein gewalttätiger und ein akademischer Rassismus hatten sich verbrüdert.

Montesinos habe, so sagt der Historiker Prien, die vom Evangelium her begründete menschliche Geschwisterlichkeit mit den Ureinwohnern eindeutig „proklamiert“: Das Christentum ist (auch) eine Religion des Wortes. Die Montesinos-Predigt ist ein herausragendes Beispiel dafür, was das Wort, was die Predigt bewirken kann (und sollte), und zwar nicht nur bei einem Mitglied des Predigerordens, wo dies schon der Name gebietet. Allüberall in Lateinamerika zeigt sich in den Gottesdiensten bei Predigern wie Zuhörern das Vertrauen in die verändernde Kraft der Predigt. Zuweilen wird das damit erklärt, dass Lateinamerika eine „Kultur der Mündlichkeit“ sei, in der das gesprochene Wort mehr Aufmerksamkeit findet und Gehörtes mehr Glaubwürdigkeit gewinnt als Gelesenes.

Nach meinem Eindruck ist die Quelle der Kraft der Predigt in Lateinamerika eine andere: Das Wort der Predigt wirkt, wenn und weil sie vom Wort Gottes ausgeht. Nichts anderes hatte Montesinos gemacht. Sein Ausgangspunkt war das Tagesevangelium und die Selbstauskunft Johannes des Täufers: „Ich bin die Stimme, die in der Wüste ruft“ (Joh 1,23). Montesinos’ Grundsatz der biblischen Grundlegung des Predigens ist keine Ausnahme, sondern zeichnet die Missionspredigten in Lateinamerika insgesamt aus.

Ein halbes Jahrtausend nach Montesinos erwies sich wieder die Dynamik der Heiligen Schrift, als aus dem Wort Gottes im gemeinsamen Lesen und Beten die Basisgemeinden entstanden. Montesinos hatte die Autorität des Täufers für sich in Anspruch genommen. Ähnlich souverän – auch in dieser Hinsicht wirkt Montesinos nach – lesen die Christen in Lateinamerika die Bibel, ohne zu viel Zweifel, ob sie das überhaupt richtig verstanden haben. Ihre Leitfrage zum Verstehen lautet nicht: „Was bedeutet das an sich?“, sondern: „Was bedeutet das für mich?“ Wenn es auf das eigene Leben bezogen wird, schafft das Wort Gottes heute dieselbe erschreckend-erhellende Klarheit wie damals in Santo Domingo.

Der unchristliche Egoismus der Siedler blieb ungebrochen

Bleibt die Frage, was die Predigt Montesinos’ langfristig bewirkte. In der Kolonie war der Konflikt zwischen den Dominikanern und den „Encomenderos“ nicht zu lösen. Beide Seiten appellierten an die höhere Instanz und sandten dazu ihre Vertreter ins Mutterland. Seitens der Dominikaner sprachen Antonio de Montesinos und der Ordensobere in Santo Domingo, Pedro de Córdoba, beim König vor. Eine Kommission aus Juristen und Theologen erarbeitete noch im Folgejahr die insgesamt 35 „Leyes de Burgos“ (Gesetze von Burgos); „eine Indianerschutzgesetzgebung (…) ohne indes das System der Encomienda grundsätzlich in Frage zu stellen“, wie der Missionswissenschaftler Michael Sievernich erklärt.

Die neuen Gesetze waren von einem Idealbild des Zusammenlebens von Eroberern und Unterworfenen bestimmt, „den längst erwiesenen unchristlichen Egoismus der Siedler, ihren Trieb nach Macht und Reichtum kalkulierten auch die Leyes de Burgos nicht ein“ (Johannes Meier). So blieben sie zwar nicht ganz wirkungslos, doch allzu oft eben nur Papier.

Der Kampf der Ordensleute für die Rechte der Indígenas ging weiter. 1515 musste Montesinos ein weiteres Mal nach Spanien reisen, wo er sich, zusammen mit Pedro de Córdoba und Bartolomé de Las Casas, noch einmal für die Indígenas verwandte. Danach war er wieder auf den Inseln Puerto Rico und Hispaniola unermüdlich als Missionar tätig und zuletzt an der Küste des heutigen Venezuela. Dort erlitt Antonio de Montesinos am 27. Juni 1540 den Märtyrertod.

Viel mehr ist über sein Leben nicht überliefert. Einer guten altkirchlichen Tradition gemäß machte Antonio de Montesinos kein Aufhebens von seiner Person. Denn da gab es etwas Wichtigeres: „der Weg des Evangeliums (la evangélica via), den uns zu lehren Christus, unser Herr, gekommen ist“, wie Las Casas es in einem Brief an den Indienrat ausgedrückt hatte.

Von Antonio de Montesinos sind nur wenige Predigten überkommen. So erlangte er nie die Berühmtheit seines Ordensbruders Bartolomé de Las Casas, dessen Gesammelte Werke 14 meist dicke Bände umfassen. Dass Las Casas, der als ein Konquistador und Siedler wie viele andere in die Neue Welt gekommen war, 1515 jene radikale Umkehr zum Verteidiger der Indígenas erfuhr, ist Gottes Gnade zu verdanken, aber auch dem Anstoß, den vier Jahre zuvor Montesinos’ Predigt gegeben hatte.

In den folgenden Jahrhunderten war es – naheliegend – vor allem sein Orden, der die Erinnerung an Antonio de Montesinos und seine Predigt wachhielt, bis in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Renaissance einsetzte, weit über die Dominikaner und die Fachleute für die Kolonialgeschichte hinaus. Die Theologie der Befreiung wirkte in die lateinamerikanische Kirchengeschichtsschreibung hinein: Die lange Geschichte der gelebten Option für die Armen und Entrechteten wurde wiederentdeckt, und damit auch Montesinos.

José Marins, der große Lehrer der Basisgemeinden, bezog Montesinos in die „gefährliche Erinnerung der Märtyrer für heute“ und die „Lateinamerikanische Patrologie“ ein. Als Papst Johannes Paul II. anlässlich der 3. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe erstmals nach Lateinamerika reiste, machte er auf dem Weg nach Puebla (Mexiko) in Santo Domingo Station und pries dort, an dessen Wirkungsstätte, am 25. Januar 1979 an erster Stelle Antonio de Montesinos als „Kämpfer für Gerechtigkeit“. Eine Frucht der Papstreise, die die Dominikanische Republik mit Mexiko verband, war drei Jahre darauf ein Geschenk der mexikanischen Regierung an das dominikanische Volk: ein fast übermächtiges 15 Meter hohes, vom mexikanischen Bildhauer Antonio Castellanos Basich geschaffenes Montesinos-Standbild aus Stein und Bronze an der Meerespromenade in Santo Domingo.

Zu dessen Füßen beschloss die „Comisión de Estudios de la Historia de la Iglesia en América Latina“ (Kommission zur Erforschung der lateinamerikanischen Kirchengeschichte – CEHILA) im Jahr 1989 ihr 15. Symposium mit der „Erklärung von Santo Domingo“, schon im Blick auf das Jahr des Quinto Centenario, 1992, den 500. Jahrestag der „Entdeckung“ Amerikas durch Christoph Kolumbus, des Beginns der spanischen und portugiesischen Eroberung und, wie die Bischöfe Guatemalas es in ihrem Hirtenbrief vom 15. August 1992 ausdrückten, der „Aussaat des Evangeliums“.

Unterjochung der amerikanischen Völker und der christlichen Mission

In ganz Lateinamerika hatte sich im Blick auf das Gedenkjahr eine lebhafte Diskussion über den Zusammenhang zwischen der Unterjochung der amerikanischen Völker und der christlichen Mission entzündet. Antonio de Montesinos wurde in den Debatten von beiden Seiten als Gewährsmann herangezogen: als Zeuge der Anklage für die Verbrechen der Konquistadoren wie auch als eins von vielen Beispielen dafür, dass es gerade jene „evangélica via“ war, die zumal Ordensleute dazu führte, sich auf die Seite der Erniedrigten und Ausgebeuteten zu stellen. Seither gedenkt die Kirche in Spanien, Santo Domingo und Puerto Rico am 12. Oktober, dem Tag der Landung des Kolumbus, des Antonio de Montesinos – ein liturgischer Tag, ohne dass er heiliggesprochen wäre.

 „Montesinos vive!“ – Montesinos lebt, heißt es in Lateinamerika oft, zu Recht: Herausragend ist der Hirtenbrief der Dominikanischen Bischofskonferenz vom 27. Februar 2011 zum Montesinos-Jahr. Darin heißt es in wörtlicher Anspielung auf die berühmte Predigt: „Eine Stimme ruft in den neuen Wüsten unserer Dominikanischen Republik und fragt uns: Mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit halten wir unser Volk in einer so grausamen und schrecklichen Knechtschaft?“ Das ist die Pointe dieses Hirtenbriefes: Wie Montesinos das Evangelium auf seine Zeit bezogen hat, bezieht der Hirtenbrief dessen Predigt auf unsere Zeit.

Jene Leitfrage wird in 17 Fragen ausgeführt, die Punkt für Punkt die Missstände im Lande ansprechen: die Rechtlosigkeit der in der Dominikanischen Republik lebenden Haitianer, fehlende Trinkwasserversorgung, elende Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Hungerlöhne, hemmungslose Bereicherung der Mächtigen, die Vernachlässigung der Schulen, das Verschweigen der Gewalt gegen Frauen und des Missbrauchs von Kindern, Unrecht im Rechtswesen usw. Dieser prophetische Hirtenbrief ist klipp und klar wie kaum ein anderer aus Lateinamerika seit vielen, vielen Jahren. Er macht Montesinos alle Ehre.

An der Pontificia Universidad Católica Argentina pflegt der emeritierte Erzbischof von Resistencia, Carmelo Juan Giaquinta, seine Vorlesungen zur Katholischen Soziallehre mit Montesinos zu beginnen. Unter den Dominikanern der gesamten spanischsprachigen Welt ist die Montesinos-Predigt zu einem Grundtext der Jubiläumsdekade 2006 bis 2016 im Blick auf den 800. Jahrestag der Ordensgründung geworden. In Mexiko arbeitet das Centro Antonio de Montesinos (CAM) für eine „Kirche der Armen“.

„También la lluvia“ (Auch der Regen), der 2010 gedrehte, preisgekrönte Spielfilm der spanischen Regisseurin Icíar Bollaín, verbindet den Kampf von Antonio de Montesinos und Bartolomé de Las Casas mit dem Kampf bolivianischer Indígenas um Wasserrechte im Jahre 2000.

Seit Beginn des Montesinos-Jahres 2011 stellen in Lateinamerika mehr und mehr Websites Montesinos und sein Anliegen vor: von Ordensgemeinschaften, Bistümern und protestantischen Kirchen bis zu Menschenrechtsgruppen, politischen Bewegungen und Rechtsanwälten, die an seinen Einsatz für die Indígenas anknüpfen.

Die spanischsprachige „Facebook“-Seite lädt dazu ein, „mit Fray Antonio de Montesinos in Verbindung zu treten“, glücklicherweise nicht, indem man ihn als „Freund“ an- und damit wegklickt, sondern durch lange, informative Texte. Die Liste dieser Beispiele für das „Montesinos vive“ ließe sich um viele verlängern.

Wohlgemerkt: Diejenigen unter den Christen, die sich gegen die Macht der reichen und Herrschenden der Armen und Geknechteten annahmen, waren in den auf Antonio de Montesinos folgenden 500 Jahren nie die Mehrheit, nie der breite Strom der Kirchengeschichte. Auf den ersten Blick scheint es, als sei die Montesinos-Tradition zeitweilig nur ein Rinnsal am Rande gewesen. Und doch: Die „Montesinianer“ waren und sind immer da, in jeder Generation: freimütig und beharrlich, tapfer und mutig, viele bis zur Hingabe ihres Lebens.

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