Dass die Konrad-Adenauer-Stiftung vom 28. bis 31. August ihr Symposium über „Religion im öffentlichen Raum“ in Cadenabbia am Comer See veranstaltete, also am legendären Urlaubsort von Konrad Adenauer, war nicht ohne symbolischen Wert. Der Name Adenauer steht für die frühen Jahre der Bundesrepublik, in denen als Reaktion auf Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg die Religion in Gestalt der beiden großen christlichen Kirchen einen prominenten Platz in der westdeutschen Gesellschaft hatte. Sie waren damals praktisch Monopolisten; fast die gesamte Bevölkerung gehörte der katholischen oder der evangelischen Kirche an.
Schon die Referentenliste des Symposiums Ende August machte deutlich, wie sehr sich die Dinge seither verändert haben. Neben Katholiken und Protestanten kamen die Muslime Mouhanad Khorchide (Lehrstuhl für Islamische Religionspädagogik, Universität Münster) und Hamideh Mohagheghi (Muslimische Akademie in Deutschland) sowie die Juden Walter Homolka (Abraham Geiger Kolleg, Potsdam) und Dan Diner (Universität Leipzig) zu Wort. Der Blick richtete sich außerdem auch über die deutschen Grenzen hinaus. Die Tagung wurde eröffnet mit Ausführungen des amerikanischen Religionssoziologen José Casanova zu Religion und Moderne in Europa und schloss mit Beiträgen zur Stellung der Religionen in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden. Einen souveränen Überblick zu den Kirchen in der Bundesrepublik lieferte Altmeister Hans Maier.
In Cadenabbia ging es um grundsätzliche Fragen der öffentlichen Präsenz von Religion unter den Bedingungen von gesellschaftlicher Säkularität einerseits und religiösem Pluralismus andererseits, wie sie sich im westlichen Europa derzeit vor allem im Zusammenhang mit dem inzwischen überall vertretenen Islam stellen. Es ging gleichzeitig um konkrete Bereiche der spezifischen deutschen Rechtsordnung im Verhältnis von Staat und Kirche, vom Wohlfahrtswesen bis zur Kirchensteuer und zum Religionsunterricht.
Islam als Religionsgemeinschaft?
In der Bundesrepublik soll es in absehbarer Zeit islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gemäß Art. 7, Absatz 3 GG geben; universitäre Einrichtungen für islamische Theologie zur Ausbildung von dafür geeigneten Religionslehrern und Imamen sind im Aufbau begriffen oder geplant (vgl. HK, April 2011, 196 ff.). Da es bislang keine islamische Religionsgemeinschaft als Kooperationspartner gibt, behilft man sich gemäß den einschlägigen Empfehlungen des Wissenschaftsrates (vgl. HK, März 2010, 117 ff.) mit der Errichtung von „Beiräten“, in denen muslimische Verbände, aber auch Einzelpersönlichkeiten vertreten sind.
Kirchenvertreter wie auch Politiker äußerten beim Symposium der Adenauer-Stiftung massive Bedenken gegen diese Lösung. Die Muslime in Deutschland müssten sich jedenfalls auf längere Sicht als Religionsgemeinschaft mit eingeschriebenen Mitgliedern organisieren, um Ansprechpartner für staatliche Stellen sein zu können, so lautete der dringende Rat. Anderenfalls gerate das ganze staatskirchenrechtliche Gefüge ins Wanken. Die Muslime wiederum zeigten sich skeptisch gegenüber einer „Verkirchlichung“ des Islam und warnten davor, vom Islam zu viel zu verlangen.
Einen interessanten Aspekt brachte der Erlanger Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe in seinem Referat über „Islamisches Rechtsverständnis im Wandel“ ein: Rohe wies darauf hin, auch der Islam könne durchaus zwischen Religion und Recht trennen. Die islamische Rechtsdiskussion verlaufe im übrigen in den islamischen „Kernländern“ anders als an der „Peripherie“ der islamischen Welt oder in der (zum Beispiel westeuropäischen) Diaspora. Gleichzeitig sei eine „wachsende Transnationalisierung“ der islamischen Rechtsfindung zu beobachten (Rohe sprach in diesem Zusammenhang ironisch zugespitzt vom „Scheich Google“), sowie vor allem im Westen eine gewisse „Entrechtlichung“ des Islam.
Walter Homolka lieferte in Cadenabbia einen Überblick zur Entwicklung des Judentuns in Deutschland seit 1945 am Leitfaden der Frage nach seiner öffentlichen Präsenz. Nach zwei Jahrzehnten (1990–2010), die durch das starke Wachstum durch Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion und die Pluralisierung der jüdischen Gemeinschaft geprägt worden seien, seien jetzt Konsolidierung und eine Ausdifferenzierung der Institutionen angesagt. Als Desiderat nannte er in diesem Zusammenhang eine jüdische Theologenausbildung in Analogie zu den jetzt geplanten Einrichtungen für islamische Studien.
Unter der Überschrift „Zivilreligion und Staatskirchenrecht“ lökte der Philosoph Hermann Lübbe bei dem Symposium der Adenauer-Stiftung grundsätzlich wider den Stachel. Er machte sich für das US-amerikanische Modell der Zivilreligion stark, das eine strenge Trennung von Staat und Kirche mit einer deutlichen Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit verbindet. Dagegen kritisierte er das deutsche Staatskirchenrecht, vor allem an den Punkten Kirchensteuer und Religionsunterricht als Schwachstellen. In Sachen Kirchenfinanzierung konnte er dem österreichischen System des Kirchenbeitrags mehr abgewinnen.
Deutscher Sonderweg der Wohlfahrtspflege?
Es fiel dem Präsidenten des Kirchenamts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hans Ulrich Anke, zu, das deutsche System der Kirchensteuer zu verteidigen. Die Kirchensteuer, so einer seiner Kernsätze, gewährleiste eine „verlässliche, effiziente, weithin akzeptierte und von den Kirchenmitgliedern nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit getragene Finanzierung der kirchlichen Arbeit“. Sie sei ein wesentlicher Bestandteil des verfassungsrechtlichen Angebots für das öffentliche Wirken der Religionsgemeinschaften und solle es auch bleiben.
Im Blick auf die weitere Entwicklung bescheinigte Anke den Kirchen, sie reagierten „sorgsam, aber nicht sorgenvoll“ auf die zurückgehende Finanzkraft. Er plädierte für kirchliche Formen modernen Managements, die wirtschaftliche und geistliche Potenzen freisetzten, und auf Fundraising zur Stabilisierung der kirchlichen Arbeit.
Um Geld, wenn auch um wesentlich geringere Beträge als bei der Kirchensteuer, geht es bei den Staatsleistungen an die Kirche (vgl. HK, November 2010, 562 ff.). Ihrer Problematik widmete sich in Cadenabbia Ansgar Hense, Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands. Seit Jahr und Tag wird über eine Ablösung dieser auf die einzelnen Bundesländer sehr unterschiedlich verteilten Staatsleistungen diskutiert: Hense warnte zum einen vor Schnellschüssen, deutet aber gleichzeitig kirchliche Bereitschaft an, über einzelne Staatsleistungen beziehungsweise deren Ablösung mit sich reden zu lassen. Er fand mit dieser Position bei der Tagung auch von protestantischer Seite Unterstützung.
„Diakonie ist Religion im öffentlichen Raum“ – so der neue Präsident des Diakonischen Werks der EKD, Johannes Stockmeier, der in Cadenabbia im Doppelpack mit seinem katholischen Pendant vom Deutschen Caritasverband über aktuelle Probleme der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland referierte. Caritas-Präsident Peter Neher betonte in diesem Zusammenhang, das soziale Handeln sei für die Kirche nicht delegierbar. Sie müsse ihren Beitrag zugunsten einer chancengerechten Gesellschaft leisten und dabei „Stachel im Fleisch“ sein.
Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände stehen allerdings zunehmend unter Konkurrenzdruck und müssen sich auf dem Markt behaupten; sie können angesichts der Überschuldung der öffentlichen Haushalte nicht länger auf komplette Refinanzierung ihrer Leistungen setzen. Im Blick auf Europa, so Peter Neher, genüge es nicht, auf den bewährten deutschen Sonderweg in der Organisation der Wohlfahrtspflege zu verweisen.
Europäische Herausforderungen
In Europa ist an verschiedenen Stellen Bewegung in den Umgang mit Religion als öffentlichem Faktor gekommen, nicht zuletzt durch den Islam. Das wurde auch bei der Tagung der Adenauer-Stiftung deutlich. So hat Präsident Nicolas Sarkozy in Frankreich, wo nach wie vor (mit Ausnahme von Elsass-Lothringen) das Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche aus dem Jahr 1905 gilt, die Parole von der „positiven Laizität“ ausgegeben, die auf eine stärkere Würdigung der Religionen von staatlicher Seite zielt. Gleichzeitig regt sich in Frankreich ein neuer Laizismus, der sich vor allem aus der Präsenz des Islam speist. Diese interessante Gemengelage veranschaulichte in Cadenabbia Vincent de Féligonde von der katholischen Tageszeitung „La Croix“.
Großbritannien hat eine lange Geschichte des religiösen Pluralismus, sowohl im christlichen Bereich als auch (als Erbe des Commonwealth) in Bezug auf nichtchristliche Religionen. Gleichzeitig ist die Anglikanische Kirche (in England) zwar „established by law“, gibt es darüber hinaus aber kein geschriebenes Staatskirchenrecht. Das ermöglicht, so der mit den Verhältnissen auf den britischen Inseln bestens vertraute Däne Jørgen S. Nielsen, einen pragmatischen, am Einzelfall orientierten Umgang mit dem Faktor Religion.
Von einer „Rückkehr der Religion in die öffentlichen Debatten“ in den Niederlanden sprach Sophie van Bijsterveld (Tilburg). In der Unsicherheit beim Umgang mit dem Islam räche sich die fehlende Respektierung des Christentums als öffentlicher Größe in den letzten Jahrzehnten. Man habe in den Niederlanden Religion zu lange einseitig als Privatsache betrachtet. Inzwischen sei die Religion – genauso einseitig – vom blinden Fleck zum beherrschenden Deutungsfaktor geworden. Gleichzeitig kämen die Religionsgemeinschaften etwa bei der Neukonzeption des Sozialstaats wieder in den Blick.
Eine für das Thema „Religion im öffentlichen Raum“ in Europa kennzeichnende Spannung brachte Mathias Rohe so auf den Begriff: Der Kirchturm werde immer wichtiger, während das, was in den Kirchen gefeiert werde, immer weniger Menschen interessiere. Anders formuliert: Religion muss als öffentlicher Faktor zunehmend ernst genommen werden, gleichzeitig erodieren vielfach die religiösen Bindungen und Bezüge. Welche Herausforderungen sich aus dieser Entwicklung speziell für das deutsche Staat-Kirche-Verhältnis ergeben, diese Frage wird noch manchen Diskussionsstoff liefern.