Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige MissverständnisseEin System großer Flexibilität

Wenn wie jetzt im Kontext des „Arabischen Frühlings“ von der möglichen Einführung der Scharia die Rede ist, entstehen rasch Schreckensbilder, kursiert eine Menge von Missverständnissen. Das islamische Recht aber ist vor allem ein komplexes und flexibles System von Vorgaben, Vorschriften, methodologischen Regelungen und Traditionen, das sich ständig weiter entwickelt.

In der Mehrzahl der Berichte über den „arabischen Frühling“ in Tunesien oder Ägypten und über den Aufstand gegen das Gadafi-Regime in Libyen wurde darauf hingewiesen, dass nun islamistische Gruppen wie die „Muslim-Brüder“ in Ägypten oder die „al-Nahda-Bewegung“ in Tunesien wohl versuchen würden, die Scharia als alleiniges Rechtssystem in den entsprechenden Staaten durchzusetzen. Ganz konkret wurde diese Forderung bei den Feiern zur Befreiung Libyens in Benghazi formuliert, während sich der Führer der al-Nahda-Bewegung, Rashid al-Ghanoushi, nach dem Sieg seiner Gruppierung bei den Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung in Tunesien sehr viel vorsichtiger ausgedrückt hat.

Gleich jedoch stehen bei derartigen Meldungen wieder Bilder im Raum von Strafen wie der Amputation von Händen für Diebstahl oder der Steinigung bei Ehebruch. Das sind aber Erscheinungen, die mit dem Begriff Scharia nur sekundär in Verbindung gebracht werden sollten. Denn Scharia bedeutet wörtlich: der Weg zur Wasserstelle. Inhaltlich ist darin eine Methode und Methodologie der Rechtsschöpfung zu verstehen, nicht aber ein fixiertes Gesetzeskonvolut wie etwa deutsche Gesetzestexte im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) oder im Strafgesetzbuch (StGB).

Die Rechtsquelle mit der größten Autorität ist der Koran

Muslimische Gläubige sind überzeugt davon, dass alle ihre Handlungen vor Gott eine bestimmte Wertigkeit besitzen. Sie können verpflichtend sein wie das tägliche Gebet oder absolut verboten wie die ungerechtfertigte Tötung eines Menschen. Zwischen diesen beiden Polen gibt es Abstufungen der Bewertung wie ethisch neutral, völlig abzulehnen oder „schön“, etwa das zusätzliche Fasten außerhalb des Monats Ramadan. Der durchschnittlich gebildete Muslim ist kaum in der Lage, die vielfältigen Aspekte des Lebens mit ständigen gesellschaftlichen oder technologischen Veränderungen in ihrer Übereinstimmung mit dem Willen Gottes zu gewichten und zu beurteilen. Er wendet sich angesichts dieser Überforderung an muslimische Rechtsgelehrte, die für den verunsicherten Gläubigen entsprechende Gutachten (arabisch: Fatwa, Plural Fatâwâ) erstellen.

Dabei wird zwischen zwei großen Rechtsbereichen unterschieden. Der eine regelt das richtige Verhalten des Menschen zu Gott (arabisch: ´ibâdât), der andere das Verhalten der Menschen untereinander (arabisch: mu´âmalât). Die Gelehrten bedienen sich zur Erstellung der Gutachten verschiedener Rechtsquellen, denen eine hierarchisch strukturierte Wertigkeit zugeschrieben wird.

Die Rechtsquelle mit der größten Autorität ist der Koran. Er stellt vor allem grundsätzliche Regelungen für die Beziehungen des Einzelnen zu Gott und zu den Mitmenschen auf. Nach muslimischer Überzeugung legt der Koran all das im Verhältnis des Menschen zu Gott oder dem Anderen ausführlich dar, was unveränderlich ist, und formuliert allgemeine Handlungsanweisungen für das, was Veränderungen unterliegt. Wenn der Koran also die Menschen auffordert: „O ihr Gläubigen, erfüllt die Verträge“ (Sure 5,1), dann drückt er damit eine allgemeine Forderung nach Vertragstreue aus, ohne spezielle Regelungen im Bezug auf Kaufverträge, Eheverträge oder Arbeitsverträge zu formulieren. Daneben stellt der Koran auch einige wenige Regelungen im Bereich des Straf- und des Zivilrechts auf.

Der Koran wird von Korangelehrten jedoch kommentiert und ausgelegt. Dabei beziehen sie sich heute oft auf ältere Auslegungen, sind aber durchaus in der Lage, den Text so zu interpretieren, dass er eine differenzierte Bedeutung erhält. Zur Verdeutlichung dieser Vorgehensweise sei auf die im Koran ausgesprochene Strafe für Diebstahl hingewiesen. Diese besteht bekanntlich in der Amputation der Hand. In einigen islamischen Staaten wird diese Strafe heute auch tatsächlich exekutiert. In anderen beruft man sich auf eine Rechtstradition, nach der frühe Muslime wie der Kalif Omar (er regierte von 634 bis 644) erklärten, dass diese Strafe erst dann zur Anwendung kommen dürfe, wenn es in der islamischen Gesellschaft keinen Hunger und keine Armut mehr gäbe. Der Dieb bleibt dann jedoch nicht straffrei, sondern muss entweder eine Geldbuße leisten oder wird zu einer Haftstrafe verurteilt.

Die Gemeinde kann in ihrer Gesamtheit nicht irren

Neben dem Koran sind die Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Muhammad (arabisch: Hadîth) die zweite wichtigste islamische Rechtsquelle. Diese Traditionen werden als authentisch angesehen. Man geht davon aus, dass diese Texte dem Koran nicht widersprechen können. Sollte sich eine Diskrepanz feststellen lassen, werden sie als fehlerhaft angesehen. Die Hadithe sprechen eine breite Vielfalt von Themen an, die sich auch auf Fragen der Kleidung, der Musik, der richtigen Begrüßung oder der Namensgebung und vieles mehr beziehen können.

Neben diesen beiden primären Rechtsquellen finden sich auch sekundäre Rechtsquellen, die grundsätzlich dem Koran und den Prophetentraditionen nicht widersprechen dürfen. Zu nennen ist hier zunächst der „Konsens der Gelehrten“ (arabisch: Ijmâ´). Die islamische Tradition überliefert einen Ausspruch des Propheten Muhammad, nach dem seine Gemeinde in einer wichtigen Sache in ihrer Gesamtheit nicht in die Irre gehen werde. Das Thema, zu dem ein Konsens hergestellt wird, sollte aber eine „Stütze“ im Koran haben.

Man geht davon aus, dass dieser Konsens nur für eine gewisse Zeitperiode gültig ist. In den frühen und mittleren Phasen der islamischen Rechtsgeschichte ging es vor allem um einen regionalen Konsens. Das brachte, vor allem mit der Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten in der Moderne, die Gefahr mit sich, dass die Ergebnisse der Übereinstimmung der Gelehrten einer geografischen Region nicht mit denen einer anderen Gegend übereinstimmten. Damit bestand die Gefahr einer Verringerung der Autorität der islamischen Rechtsgelehrten.

Inzwischen haben sich staatenübergreifende Institutionen wie die „Akademie für das islamische Recht“ etabliert, die für eine Vereinheitlichung von Konsensäußerungen sorgen, auch wenn, vor allem durch das Internet immer wieder abweichende Vorstellungen verbreitet werden. Eine weitere Rechtsquelle ist der Analogieschluss (arabisch: Qiyâs). Dabei handelt es sich um eine Art der Rechtsschöpfung, bei der ein Vorgang beurteilt wird, der so ähnlich im Koran, den Prophetentraditionen oder im Konsens schon früher abgehandelt und entschieden worden ist.

Die Begründung für die Anwendung dieser Technik lautet: „Gott führt Gesetze nur auf Grund allgemeinen Interesses oder des Allgemeinwohls (arabisch: Mas.lah.a) ein. Wenn ein im Koran geregelter Sachverhalt und ein nicht erwähnter ähnlicher Sachverhalt auftauchen, so ist es ein Gebot der Weisheit und der Gerechtigkeit, diesen gleich zu behandeln.“ Als wichtiges Kriterium für die Anwendung des Analogieschlusses wird aber auch der gesunde Menschenverstand genannt. Als Beispiel führen muslimische Rechtsgelehrte folgendes Beispiel aus dem Bereich der rituellen Reinheit an: Wenn nach anderen Quellen der Speichel eines Hundes als rituell unrein beurteilt wird, kann sein Urin nicht als rituell rein betrachtet werden, nur weil dafür kein Beleg in den Quellen vorhanden ist.

Rechtshistoriker haben nachgewiesen, dass die ältesten islamischen Rechtsquellen mit den beschriebenen Quellen kaum etwas zu tun haben. Es sind dies die persönlichen Ansichten (arabisch: ray) und das „Fürguthalten“, vor allem aber das Gewohnheitsrecht (arabisch: ´urf oder ´âdât), das sich in den verschiedenen muslimischen Kulturen zwischen Marokko und Indonesien sehr unterschiedlich darstellt. Von diesen sekundären Rechtsquellen ist das Gewohnheitsrecht das Recht, das sich als besonders stark und einflussreich erwiesen hat. In möglichen Konflikten zwischen dem islamischen Recht und dem Gewohnheitsrecht setzt sich Letzteres auch heute noch in der Regel durch.

Ziel jedes rechtlichen Handelns ist nach Überzeugung der muslimischen Rechtsgelehrten die Erkennung und Durchsetzung rechtmäßiger, schützenswerter Interessen oder das Allgemeinwohl. Zwar könnten die Menschen die Prinzipien des Allgemeinwohls wohl durch ihre Verstandeskräfte erkennen. Allerdings sind die muslimischen Rechtsgelehrten auch davon überzeugt: „Die Interessen des Menschen im Leben sind zahlreich und unterschiedlich; denn sie befinden sich nicht im Gleichklang, sondern sie sind verschiedenartig und untereinander widerstrebend; einige davon sind feststehend und ändern sich nicht, während andere neu hinzukommen und nicht von dauerhafter Natur sind.“ Diese persönlichen Interessen führen dann im Endeffekt nicht zu dem Ziel des Allgemeinwohls. Nur eine über die menschlichen Interessen hinausgehende Autorität ist nach der Überzeugung der muslimischen Gelehrten in der Lage, mit ihren Sanktionen und Anreizen den Menschen zu einer wahrhaft vernünftigen Handlungsweise zu bewegen.

Das islamische Recht unterscheidet zwischen drei Kategorien von Interessen, die durch das Gesetz geschützt werden müssen oder sollen. An erster Stelle werden hier die „notwendigen Interessen“ genannt. Sie betreffen die Bereiche, „auf die im Hinblick auf das Bestehen der menschlichen Gesellschaft und die Existenz menschlichen Lebens nicht verzichtet werden kann (…). Um Angelegenheiten, von denen das religiöse und weltliche Leben der Menschen insofern abhängt, als das Leben im Diesseits in Unordnung gerät, wenn sie nicht beachtet werden, und im Jenseits die Glückseligkeit verloren geht und Bestrafung ausgelöst wird.“

Gott will es den Menschen nicht schwer machen

Es geht also nicht nur um das Wohl und Wehe des Einzelnen, sondern auch um die Gemeinschaft insgesamt im Diesseits wie im Jenseits. Ohne sie würde die menschliche Ordnung aufgelöst und Verderben und Chaos würden sich ausbreiten. Durch das rechtliche Handeln müssen fünf „basale Rechtsgüter“ gesichert werden: Religion, Leben, Vernunft, Reinheit der Abstammung und Besitz.

Den „notwendigen Interessen“ folgen die „bedürfnisorientierten Interessen“. Dabei handelt es sich um Sachen oder Vorgehensweisen, die erforderlich sind, um Schäden abzuwenden oder Bedrängnissen zu entkommen. In diesem Kontext berufen sich die Rechtsgelehrten auf den im Koran mehrfach formulierten Grundsatz, dass Gott es den Menschen nicht schwer, sondern leicht machen wolle. Schützenswerte Interessen können sogar gewahrt werden, indem die im Grunde ja absolut verbindlichen Vorgaben des Korans außer Kraft gesetzt werden. Kranke müssen im Fastenmonat Ramadan nicht fasten und die Nahrungstabus des Korans können außer Acht gelassen werden, wenn ansonsten der Hungertod drohen würde.

Schließlich gibt es noch die „auf Verbesserung gerichteten Interessen“, deren Möglichkeit der Durchsetzung ebenfalls Sache des islamischen Rechts ist. Diese Interessen lassen die guten Dinge stärker in den Vordergrund treten, während die schlechten zurückgedrängt werden. Die Gesellschaften könnten auch ohne diese Interessen auskommen. Aber die muslimischen Gelehrten beziehen sich auf einen Ausspruch des Propheten Muhammad, von dem der Satz überliefert wird: „Ich wurde vielmehr gesandt, um die edlen Sitten vollkommen zu machen.“

Die auf Verbesserung gerichteten Interessen können zum Beispiel Tischsitten sein oder die Regel, keine Lebensmittel fortzuwerfen. Auch die Frage der Benutzung von modernen Erfindungen, die das tägliche Leben erleichtern, wird im Zusammenhang mit diesen Interessen behandelt. Hier kann es um die Frage der Erlaubtheit der Benutzung von Flugzeug oder Auto gehen, um die der Waschmaschine oder des Internets. Ein anderes Thema sind Feste, die keinen religiösen Hintergrund haben wie Geburtstagsfeste, Muttertag, Hochzeitstag oder Internationaler Frauentag. Im Zusammenhang mit der Frage der „auf Verbesserung gerichteten Interessen“ wird auch die Problematik der Berufstätigkeit von Musliminnen behandelt. Manche Gelehrte sehen hier einen Konflikt mit dem basalen Rechtsgut der Reinheit der Abstammung.

Das islamische Recht ist ein komplexes System von Vorgaben, Vorschriften, methodologischen Regelungen und Traditionen, das sich ständig weiter entwickelt. Dies alles in seiner Gesamtheit auch nur annähernd zu übersehen und zu durchdringen, ist die Sache von hoch professionellen Eliten, die durch eine langjährige systematische Ausbildung in der Lage sind, eine Vielzahl von für die Gläubigen wichtigen Hinweisen für das rechte Verhalten zu geben. Obwohl es sich um einen im Grunde religiösen Akt handelt, erhält der Gelehrte diese Kompetenz nicht durch einen Übergangsritus wie Weihe, Salbung oder ähnliches, sondern allein durch das Studium. Der Vorgang der gedanklichen Bemühung um einen rechtlichen Tatbestand wird als „Ijtihâd“ bezeichnet.

Nicht nur auf die entsprechenden Anfragen eine aktiv

Der Jurist, der sich derartigen Bemühungen unterzieht, ist ein „Mujtahid“. Falls ein Gläubiger sich in einer religiösen oder ethischen Frage an ihn um Rechtleitung wendet, kann der Mujtahid darauf mit einer schriftlichen „Fatwa“, einem Rechtsgutachten, antworten. In vielen muslimischen Staaten haben sich ganze Systeme von Fatwa gebenden, hierarchisch strukturierten Institutionen entwickelt, die durch staatliche Mittel unterhalten werden. Ein Jurist, der in derartigen Institutionen tätig ist, wird als „Mufti“ bezeichnet.

Dabei kann es sich um eine Einzelperson handeln, die im Rahmen einer entsprechenden „Fatwa-Praxis“ an sie gerichtete Fragen beantwortet. Solche quasi privat tätigen Muftis findet man nicht nur, aber vor allem in Ländern, in denen Muslime eine Minderheit sind. Daneben äußern sich Muftis auch regelmäßig in speziellen Kolumnen von Tageszeitungen auf Fragen von Lesern oder in heute viel genutzten Internetforen. Einer der bekanntesten muslimischen Fernsehprediger, Scheich Yusuf al-Qaradawi, hat beispielsweise täglich mehr als 250 000 Anfragen in verschiedenen Sprachen auf seiner Website. Er beantwortet diese natürlich nicht alle selbst, vielmehr verfügt er über einen Mitarbeiterstab, die die entsprechenden Datenbanken mit Gutachten von al-Qaradawi oder solchen, mit denen er einverstanden ist, fortlaufend auf den neuesten Stand bringt.

In manchen Länder führen die Leiter dieser offiziellen Institutionen den Titel eines Groß-Mufti. Die nationalen Zentren des Fatwa-Wesens werden aber nicht nur auf die entsprechenden Anfragen der Gläubigen hin aktiv. Sie äußern sich auch zu Fragen, von denen sie meinen, dass sie für die Öffentlichkeit und für die einzelnen Muslime von Bedeutung sein könnten. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen erfahren heute vor allem durch die elektronischen Medien eine weltweite Verbreitung. Daneben veröffentlichen bekannte muslimische Rechtsgelehrte ihre Rechtsgutachten aber immer noch in mehrbändigen Sammlungen. Die einzelnen nationalen Fatwa-Institutionen wenden sich in erster Linie an die Bevölkerung eines Staates, wobei sie regionale Besonderheiten oder das Verhältnis zwischen islamischem Recht und Gewohnheitsrecht behandeln.

Das Problem regionaler Abweichungen

Die jeweiligen rechtlichen Einschätzungen können naturgemäß von denen, die von Gelehrten in anderen Gegenden getroffen wurden, abweichen. Schon seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts war in internationalen muslimischen Organisationen diese Diskrepanz als Problem erkannt worden. Denn durch die Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten waren Gläubige nun in der Lage, eventuelle Differenzen in den Ergebnissen der Fatwa-Praxis festzustellen. Muslimische Autoritäten fürchteten eine Verunsicherung der Gläubigen und sahen eine gewisse Gefahr, dass die Autorität der Rechtsgutachter leiden könnte. Daher bemühte man sich um eine inhaltliche Vereinheitlichung der Rechtsgutachten.

Zu diesem Zweck entstand, initiiert durch die „Islamische Weltliga“, die „Akademie für islamisches Recht“. Die 1962 gegründete Weltliga ist heute die wichtigste nicht-staatliche internationale islamische Organisation, die zahlreiche Unterabteilungen hat. Eine von ihnen ist die „Akademie für islamisches Recht“. Sie gab sich nicht die Struktur einer permanent tätigen Institution mit festem Sitz in einem islamischen Land. Vielmehr treffen sich anerkannte Rechtsgelehrte aus nahezu allen islamischen Ländern ein oder zwei Mal im Jahr zu Tagungen an verschiedenen Orten.

Auf der Tagesordnung dieser Zusammenkünfte steht jeweils ein komplexes Thema, das für die muslimische Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit als bedeutsam erachtet wird. Zum Beispiel stehen Fragen der Bio-Ethik oder Wirtschaftsfragen zur Diskussion und zur Entscheidung an. Da die Rechtsgelehrten keine Spezialisten im Bereich von Medizin oder Ökonomie sein können, werden entsprechende Fachleute hinzugezogen. In einzelnen Arbeitsgruppen werden beispielsweise Fragen zur Organtransplantation oder der Investition in Hedge-Fonds behandelt. Nach den entsprechenden fachlichen Erläuterungen erörtern die Gruppen die rechtlichen und religiösen oder ethischen Aspekte dieser Themen und verabschieden eine Einschätzung dazu. Diese wird dann neben solchen aus anderen Arbeitsgruppen dem Plenum der Akademie vorgestellt, das darüber abstimmt. Dabei wird ein Konsens aller Mitglieder angestrebt, weil bei negativen Voten der Konsens der Gelehrten nicht gegeben wäre. Die vom Plenum akzeptierten Wertungen werden dann durch verschiedene Publikationsmittel wie moderne elektronische Informationstechniken in der gesamten islamischen Welt verbreitet.

Welche Wirkmächtigkeit kommt den zahlreichen Rechtsgutachten zu? Ein Gläubiger, der sich um seines Seelenheils willen, an einen Rechtsgelehrten wendet, wird dessen Rat als eine für ihn verbindliche Empfehlung betrachten. Im sunnitischen Islam, dem etwa 85 Prozent der Weltmuslimbevölkerung angehören, kann sich ein Gläubiger in derselben Frage aber auch an einen weiteren Gelehrten wenden, wenn er mit dem Ergebnis des Gutachtens nicht zufrieden ist. Anders verhält es sich im schiitischen Islam. Nach schiitischer Überzeugung bedarf der Gläubige der Führung durch einen Mujtahid. In der Wahl dieses geistlichen Führers ist er frei. Wenn er sich jedoch einmal für einen Gelehrten entschieden hat, dauert dieses Autoritätsverhältnis bis zum Tod eines von beiden an. Die rechtlichen Äußerungen des Gelehrten sind dabei verbindlich, und zwar nicht nur im Bezug auf die Frage, die der Gläubige gestellt hat oder stellt, sondern auch auf alle gutachterlichen Äußerungen des Mujtahid, selbst in völlig anders gearteten Fragen.

Während einzelne sunnitische Gelehrte für ihre Gutachten eine gewisse finanzielle Entschädigung erhalten oder dafür von entsprechenden Institutionen bezahlt werden, bezieht der schiitische Rechtsgelehrte eine regelmäßige jährliche Zahlung, die in der Höhe prozentual von den wirtschaftlichen Umständen des Gläubigen abhängt. Da die bedeutenden schiitischen Rechtsgelehrten über Millionen von Anhängern verfügen, entstehen auf diese Weise große Kapitalvermögen, die von den Gelehrten vor allem für karitative Aktivitäten, für den Unterhalt von Stätten islamischer Gelehrsamkeit und zu einem kleinen Teil für den persönlichen Unterhalt und den ihrer Großfamilien verwendet werden.

Das islamische Recht zeichnet sich durch eine große Flexibilität aus und durch die Fähigkeit, auf neue gesellschaftliche, kulturelle, politische, ökonomische oder auch religiöse Tatbestände rasch zu reagieren. Dem steht heute das Problem gegenüber, dass durch elektronische Medien wie das Internet eine Vielzahl von Personen, die unter Umständen nicht über die entsprechenden Kompetenzen verfügen, sich mit Rechtsgutachten zu Wort melden. Diese können aus der Perspektive eines ausgebildeten und langjährig geschulten Rechtsgelehrten völligen Unsinn darstellen. Derartige Aussagen sind aber dank der technischen Möglichkeiten in der Öffentlichkeit und es bedarf großer Mühe und Überzeugungskraft der etablierten islamischen Rechtsgelehrtenschaft, die im Grunde leicht zu widerlegenden Texte im Internet als Werke von Scharlatanen darzustellen. Für dieses Problem haben sie noch keine Lösung gefunden.

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