Eine Reise durch Kroatien, Bosnien-Herzegowina und SerbienLiteratur, Religion, Nationalismus

Was die Kriege im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien am Ende des 20. Jahrhunderts angerichtet haben, lässt sich bei der Lektüre vieler literarischer Werke erfahren. Am deutlichsten zeigt es sich aber vor Ort im Gespräch mit Schriftstellern in Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina über die Schwierigkeiten des rechten Erinnerns.

Wenn man sich auf einer Reise mit Autorinnen und Autoren trifft, um über Literatur zu sprechen, und die Gespräche früher oder später immer beim Krieg und seinen Folgen landen, sagt das einiges aus über die Situation, über die Kultur der bereisten Länder. Was die Kriege im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien am Ende des 20. Jahrhunderts angerichtet haben, lässt sich bei der Lektüre vieler literarischer Werke erfahren, am deutlichsten aber vor Ort, in diesem Fall in Kroatien und Serbien – und vor allem in Bosnien-Herzegowina. Es ist ein schönes Land, aber mit seinen zwei Entitäten, der Föderation und der Republika Srpska, kein schöner Staat, wie ein Schriftsteller aus Sarajevo vor Kollegen und Journalisten pointierte. Kein Wunder, dass der Krieg und seine Folgen hier Themen auch der Schriftsteller sind: Die Realität übertrumpfte die Fantasie, erzählte man an diesem Abend, Autoren schreiben über das Leben, und das Leben hier war grauenhaft. Nicht nur an den zerschossenen Hausmauern ist die Erinnerung an die Belagerung Sarajevos präsent und immer noch ablesbar, sie steckt auch in den Knochen und im Kopf.

Die Religionen wurden instrumentalisiert

Und der Krieg steckt noch in der Gesellschaft. Heute zählen nur mehr nationale Zugehörigkeiten, erzählen die Schriftsteller, und ein Vertreter der älteren Generation stellt fest, alle Illusionen verloren zu haben. In Kroatien hörte sich das ein paar Tage zuvor anders an: Bei einem Treffen mit jüngeren Schriftstellern in Split schien eher das Staunen darüber vorherrschend zu sein, was Jugoslawien überhaupt jemals zusammengehalten habe. Obwohl es doch die eine – mit allen Unterschieden – gemeinsame Sprache gibt.

Heute hat man Schwierigkeiten, ihr überhaupt einen Namen zu geben, denn auch Sprachen sind Kampfgebiete der Ideologisierung, „serbokroatisch“ ist out und wo man noch das Gemeinsame betonen will, behilft sich mit dem unschönen Konstrukt „BKS“ (für Bosnisch/Kroatisch/Serbisch). Für Schriftsteller hat die Aufsplitterung des gemeinsamen Sprachraums übrigens auch wirtschaftlich schlimme Folgen: Sie bedeutet kleine Auflagen und damit eine geringe Leserschaft. So erreicht ein kroatischer Autor über einen nur kroatischen Verlag maximal die 4,5 Millionen Kroaten.

Mitte der neunziger Jahre kam der Krieg und mit ihm die Wirklichkeitsprosa, erzählten die kroatischen Autorinnen und Autoren in Split, jener Stadt, die sich traditionell eher dem Mittelmeerraum und Italien zugewandt hat denn dem eigenen Hinterland. Zuvor sei die kroatische Literatur postmodern gewesen, neuerdings lebten Beziehungsgeschichten auf – doch jede Beziehung kann ja im Kleinen von den Problemen des Miteinanders im Großen erzählen. „Wir müssen uns engagieren, weil uns das die Wirklichkeit aufzwingt.“

Was aber ist das für eine Wirklichkeit? Jedenfalls keine im Singular. In jedem Staat auf dieser Reise durch Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien hörte ich von den Schriftstellerinnen und Schriftstellern andere Versionen der Wirklichkeit, eine aber blieb auffallend gleich: Nicht die Religionen haben den Krieg ausgelöst, sondern die Religionen wurden für den Nationalismus instrumentalisiert.

Ein deutscher Journalist, der seit Jahren in Sarajevo lebt, bestätigte diese Ansicht: Der Krieg war kein Religionskrieg. Ziel des Krieges war die Produktion von Flüchtlingen und die ethnische Trennung, die es vorher auch in den so genannten ethnisch reinen Territorien nicht gab, wurde damit politisch durchgesetzt. Der Dayton-Vertrag habe dieses Problem mitproduziert und sei daher mitverantwortlich. Von Brüssel fühle man sich hier zurecht vergessen.

Dieselbe Sprache, dasselbe Essen

Der Krieg war kein Krieg der Religionen, aber die Erfahrung des Krieges stärkte die Religiosität, die wiederum der Nationalismus für sich nutzbar machen konnte. Erst mit und nach dem Krieg hat daher die Bedeutung der Religionen zugenommen. Dabei gehe es gar nicht um Gläubigkeit, wetterte ein franziskanischer Theologe in Sarajevo, sondern um die Zugehörigkeit zur Gruppe, zum Kollektiv, um das Abgrenzen vom anderen. Die Wut des Theologen auf diesen Missbrauch der Religionen durch die Nationalisten wird umso verständlicher, wenn man durch Sarajevo geht, durch diese Stadt, die multikulturelle Geschichten erzählt wie kaum eine andere. Altösterreichische Geschäftsstraßen, osmanische Gassen mit Cafes, Basar, Moscheen, daneben die Synagogen und Kirchen: 500 Jahre gestaltgewordene Geschichte der verschiedensten Religionen.

Bei diesem Thema redete sich der Theologe in Rage: Es wäre doch nur darum gegangen, Territorien zu gewinnen und zu plündern, der Nationalismus war der Treibstoff, die Religion kam ihm gerade recht. „Es gibt ja keine Unterschiede im Alltag, deswegen heben wir es auf die theologische Ebene.“ Selbst das Wort „Multikultur“ sollte man mit Vorsicht genießen, denn „wir sprechen dieselbe Sprache, wir essen dasselbe, wir sind eine Kultur“.

In manchen literarischen Werken finden sich Erinnerungen an diese eine Kultur, freilich durchsetzt vom Blick auf viele Risse und dem Wissen, was noch kommen wird: Die 1966 in Belgrad geborene und in die USA ausgewanderte Autorin Natasha Radojčić lässt in der Mutter- und Heimatlosigkeit der Ich-Erzählerin ihres auf englisch geschriebenen Romans „Du musst hier nicht leben“ (2005; deutsch: Berlin 2006) die Situation des Landes widerspiegeln. Der aufkommende Krieg zwischen Serben und Muslimen zeichnet sich in der Kindheit der Ich-Erzählerin schon ab.

Doch für sie gibt es noch einen vertrauten Umgang mit den unterschiedlichen Religionen und Traditionen: „Ein Klopfen an der Tür, Salaam Aleikum, wenn die Besucher Moslems sind, oder einfach ein Hallo, wenn Gott keine Rolle spielt.“ „Komm, wir beten.“ sagt die katholische Freundin zur muslimischen Sascha, die weil sie im Dorf eine Ausgestoßene ist, ihre Freundschaften bei den „niederen Christen“ sucht. „Zu wem?, fragte ich. Zu Jesus. Zu Jesus, lachte ich, warum zu ihm? Er hilft. Hat mir nicht geholfen. Hast du gefragt? Nein. Siehst du.“ (66 f.). Aus den Gesprächen zwischen den Erwachsenen, die die Jugendliche nach dem Tod ihrer Mutter belauscht, lässt sich erahnen, was bald passieren wird.

Ab und zu verlässt Radojčić die meist chronologisch erzählte Zeit und schaut in die Zukunft: der Kinder, des Landes. Dann ändert sich der sonst so knappe Ton: „Zdeno ist Bäckergehilfe geworden. Nach Kriegsbeginn überwachte er die Massenhinrichtungen muslimischer Männer, die bis spät in die Nacht dauerten, genau wie unsere Kartoffelnacht, dunkel und kühl, hoch oben in den Bergen, bis es rundum keine muslimischen Männer mehr gab. Ihr älterer Bruder ist aus Deutschland zurückgekehrt, um als Freiwilliger in die kroatische Armee zu gehen. Nach einer Woche kam er ums Leben. In dieser Nacht hatte keiner von uns eine Ahnung davon, was kommen würde, als wir die kalte Luft verfluchten und uns schüttelten, um die feuchte Kleidung von der Haut fern zu halten, und die mistgegarten Kartoffeln hinunterwürgten. In dieser Nacht saßen Christen und Moslems einfach zusammen um ein Feuer“ (84 f.).

Die Gräuel sind präsent

 „Als ich auf die Welt kam / wurde aus meinem Haus nicht geschossen, / kein Krieger war geboren worden“, beginnt einer der kritischen zeitgenössischen serbischen Lyriker, der 1976 in Belgrad geborene Autor Miloš Živanović, sein Gedicht „Stotternde Ballade“, das von Vergewaltigung erzählen wird. „Mein V-Vater trägt auf dem Kopf eine Keçe / meine M-Mutter auf der Brust ein Kreuz. / Als ich auf die Welt kam / saßen ein Sufi und ein Pope im Haus, / tranken lange Kaffee und rauchten / V-Vaters beißenden Tabak.“ Die weiteren Verse verheißen keine Idylle: „Mein V-Vater galt nichts im Dorf / weil seine M-Mutter orthodoxes Gesindel war, / es half auch nichts, als er für fließend Wasser im Haus sorgte. / Und M-Mutter mochten sie nicht, / weil sie einen Halbmond geworfen hatte“ (Serbien. Neue Rundschau 121. Jg., Heft Nr. 3, 2010, 237).

Auch davon schreibt Literatur: von der Präsenz der Gräuel der Geschichte an bestimmten Orten, die nicht erst in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum Schauplatz von Tragödien geworden sind. Die bosnische Stadt Foça am Oberlauf der Drina, jenem geschichts-, massaker- und symbolträchtigen Fluss, der sich bereits durch Ivo Andrić und dessen berühmten Roman „Die Brücke über die Drina“ (1945) in die Literaturgeschichte eingeschrieben hat, hat der bosnische Autor Dževad Karahasan zum Schauplatz seines Romans „Der nächtliche Rat“ (2005, deutsch: Frankfurt 2006) gemacht. Vom 17. bis ins 20. Jahrhundert haben dort Massaker stattgefunden, etwa 1942, als Četniks einen Massenmord an Muslimen begangen: Die Erinnerung daran war unerwünscht. Um diese Erinnerung an die vergangenen Unheile und Opfer geht es in Karahasans metaphysischen Roman aber, denn „es ist ganz unmöglich, dass etwas einfach spurlos verschwindet“, auch die Toten sind noch da – und leiden. Von 1992 bis 1995 wurde Foça abermals zum Schauplatz von Vergewaltigungen und Hinrichtungen an moslemischen Bewohnern.

Geschichten wie diese sind sichtbar, denn auch Bauwerke, ihr An- oder Abwesendsein, erzählen Geschichten. Heute fährt man, von Mostar kommend, durch kleine Ortschaften, geprägt von Minaretten, und merkt, kaum hat man kurz nach Sarajevo die Grenze zur Republika Srpska passiert, dass die Ortschaften hier von Minaretten geradezu gesäubert scheinen – und das ist auch der Fall. Mostar wiederum wurde, obwohl tourismusfreundlich wiederaufgebaut, zum traurigen Sinnbild für Zerstörung nicht nur der Bauwerke. Auch hier haben sich seit dem Krieg, erzählt man, die Religionen schärfer getrennt. Augenscheinlich wird das durch die neue Kirche, deren Turm den schlanken Minaretten nachgebildet scheint, diese aber bei Weitem überragt, übertrumpft nur durch das große Kreuz auf dem Hügel über der Stadt. Christliche Machtdemonstration gegen die muslimische andere Seite?

Versionen der Wirklichkeit

Drei Staaten, zig Versionen der Wirklichkeit und so viele ungelöste Fragen, dass man sie gar nicht überblicken kann. Was bedeutet Schreiben in solchen Umfeldern? Vielleicht die Auseinandersetzung mit der Erkenntnis, dass man gar nicht unpolitisch sein kann. Jeder Versuch, sich auf die Position, nicht politisch sein zu wollen, zurückzuziehen, wird von der Wirklichkeit eingeholt. Jedes veröffentlichte Wort bekommt in solchen Kontexten politische Bedeutung. Und etwas nicht zu sagen, klingt schnell wie Affirmation. Mit dem kritischen Blick scheinen sich freilich jene Schriftsteller leichter zu tun, die ihre Heimatländer verlassen haben.

Vielleicht geht es aber auch um die Erkenntnis, dass man gar nicht zu einer ganz klaren Erkenntnis kommen kann, dass die Wirklichkeit nicht so einfach ist, wie manche sie einem erzählen wollen. Dževad Karahasans Roman „Der nächtliche Rat“ begibt sich möglicherweise auch deswegen in die Vielstimmigkeit. Er spielt kurz vor den Gräueltaten in Foça der neunziger Jahre. Die unausgesprochene, aber den Roman begleitende Frage lautet: Lassen sie sich verhindern? (Geschichtlich betrachtet: Hätten sie sich verhindern lassen?) Der Arzt Simon Mihailović ist vor 25 Jahren ins Ausland gegangen und kehrt nun in die Heimatstadt und ins Haus seiner Eltern zurück, die nicht mehr leben. Vieles hat sich verändert. Karahasan greift traditionelle literarische Motive auf, etwa das Haus, das Geschichte erzählt (und für Jugoslawien stehen könnte).

Die eingeflochtenen Märchen, Legenden, Parabeln und Gleichnisse unterstreichen die Vielstimmigkeit des Textes, die vor allem durch die vielen Gespräche geschaffen wird, die in Gaststuben, auf dem Friedhof, in der Polizeiwachstube, in Träumen stattfinden. Karahasan lässt seine Figuren alle unzensuriert sprechen – unterbrochen, korrigiert oder befragt werden sie von ihren Gesprächspartnern: Da gibt es welche, die ausschließlich an die Vernunft glauben, jene, die die Emotionen in der Politik angesprochen wissen wollen, jene, die das Wort „Volksseele“ im Mund führen, und die, denen das sehr bedenklich erscheint.

Zu Wort kommen Anhänger des serbischen Mannschaftsgedankens, aber eben auch Simon, der sich nicht vereinnahmen lassen will: „Ohne mich.“ Mit ihm kommt die Generation zu Wort, die froh ist, nichts getan und damit auch kein Blut an den Händen zu haben, aber auch jene, die gerade darunter leiden, nichts zu haben als „saubere Hände. Zuwenig für so viele Jahre auf der Welt.“ Die divergierenden Sichtweisen konkurrieren, sie korrigieren, aber sie ergänzen einander oft auch. Die Aufklärung braucht die Romantik, die Vernunft das Gefühl – und vice versa. Und das Leben braucht die Erinnerung an die Toten.

Wie aber kann man weiterleben, wenn man von den geschehenen Gräueltaten weiß? Das fragt Enver Pilav, ein ermordeter Freund, der bei Simon auftaucht und sich letztlich als Erzähler erweist. Wie kann man die Kette der Gewalt als einzelner durchbrechen? „‚Weil ich unschuldig bin, soll ich mich hier einmischen und eine Lösung finden?‘ fragt Simon verblüfft. ‚Gerade darum!‘ rief Enver, nahe daran die Nerven zu verlieren. Was für eine Lösung könnte denn einer, der schuldig ist, herbeiführen?“ (314) Für den erzählerischen Versuch einer Antwort greift Karahasan, der 1953 in Duvno geboren wurde, seine Heimatstadt Sarajevo 1993 verließ und heute in Graz und Sarajevo lebt, auch auf biblische Überlieferungen zurück, etwa auf die Passionsgeschichte.

Er lässt auch die „Funktion“ des Judas diskutieren. „Man muss die Kette unterbrechen, man muss die Toten retten oder ihnen wenigstens das Leiden erleichtern. Dir zuliebe“, schreibt Vater Simon am Ende an den Sohn und damit an die künftige Generation. Er weiß, was er zu tun hat: „Er würde zu ihnen gehen, um mit ihnen zu leiden, lebendig, aber fähig, zu empfinden und zu verstehen“ (325).

Die Selbstdefinition der Gruppen durch Abwertung der jeweils anderen war verhängnisvoll nicht nur in der Vergangenheit, sondern ist es auch für die politische wie kulturelle Zukunft der Länder nach dem Krieg. Schriftsteller wie der 1948 im Kosovo geborene Serbe David Albahari versuchen sie literarisch zu dekonstruieren. Die Politisierung und Ideologisierung der Ethnien und Religion hat Albahari selbst aktiv erfahren: Als Vorsitzender des Verbandes der jüdischen Gemeinden Jugoslawiens musste er Anfang der neunziger Jahre die Juden aus Sarajevo aussiedeln, dann emigrierte er selbst, nach Kanada. Die Themen seiner Heimat nahm er mit ins Exil.

Erinnerungsbürgerkriege werden geführt

Albahari lässt seinen Ich-Erzähler im Roman „Die Ohrfeige“ (Frankfurt 2007), der sich mit postmodernen literarischen Verfahrensweisen dem heiklen Thema des serbischen Antisemitismus nähert, schreiben: „Den Text für meine Rubrik im ,Minut‘ lieferte ich immer mittwochs ab, es blieb mir also noch genügend Zeit. Das Ende hatte ich bereits im Kopf, ich musste es nur noch niederschreiben. Es ist höchste Zeit, so sollte der Schluss beginnen, zu begreifen, dass diejenigen, die sich als die größten Seelsorger unseres Landes hinstellen und zu ethnisch begründeten Angriffen aufrufen, diesem Land tatsächlich den größten Schaden zufügen“ (237).

Die Abwertung des anderen geschieht unter anderem mithilfe der Geschichtserzählungen. Geschichte, so Todor Kuljić, Soziologe in Belgrad, wurde und wird als Waffe eingesetzt. Es sind „Erinnerungsbürgerkriege“, die geführt werden: Wer hat die monumentalste, die älteste Vergangenheit?

Das bestätigt auch die 1949 geborene kroatische Schriftstellerin Dubravka Ugresić: „Meine exjugoslawischen Landsleute prügeln sich und vergießen Blut im Namen ihrer heiligen Geschichte. Sie verteidigen die ‚Wiege ihrer Zivilisation‘, indem sie die ‚Kuckuckseier‘ daraus vertreiben: die Serben die Albaner vom Kosovo, die Kroaten die Serben aus der Krajina. Und so weiter. Das zweite heilige Wort nach ‚Geschichte‘ ist ‚Kultur‘. Obwohl viele ‚Verteidiger‘ Analphabeten sind, manche nie ein Buch gelesen haben und kaum imstande sind, die Jahrhunderte zu zählen, sind sie bereit, für die Kultur ‚ihr Leben zu geben‘. Das heißt natürlich, dass sie bereit sind, fremdes Leben zu vernichten, was sie übrigens auch wütend tun. Es zeigt sich, dass die ‚Verteidiger von Geschichte und Kultur‘ am heftigsten die Dinge verteidigen, von denen sie am wenigsten verstehen und an denen ihnen am wenigsten liegt.

Die Kroaten haben (im Krieg gegen die Serben) haufenweise serbische, aber auch andere Bücher aus ihren Bibliotheken geworfen und (im Krieg gegen die bosnischen Muslime) die berühmte Alte Brücke in Mostar zerstört. Die Serben haben Granaten auf Dubrovnik abgefeuert, die Nationalbibliothek in Sarajevo und bosnische Moscheen vernichtet und die albanische Kultur im Kosovo in Schutt und Asche gelegt“, schreibt Ugresić, die seit 1993 nicht mehr in Kroatien lebt (Keiner zu Hause, 2005; deutsch Berlin 2007, 64 f.).

Eine überzeugende Narration, schreibt Kuljić in seinem Buch „Umkämpfte Vergangenheiten“ (Berlin 2010) – und jede Geschichtsschreibung eines Landes ist eine Narration –, „nimmt dem Publikum seine Vorbehalte, bringt sich widerstrebende Inhalte in Einklang, gibt dem Zufälligen eine Bedeutung und fügt das Unübersichtliche in eine logische und sinnvolle deterministische Ordnung ein“ (42 f.).

Literatur, die solchen Ordnungen misstraut, arbeitet wie Albahari, der den Ich-Erzähler seines Romans „Die Ohrfeige“ auch eine Art Poetologie schreiben lässt: „Ich kann nur davon ausgehen, dass manche Menschen es verstehen, ihre Geschichte so zu erzählen, dass alles als eine Antwort aufgefasst wird, während andere, zu denen ich offenbar gehöre, ihre Geschichte in eine Frage verwandeln oder in eine Art Verweigerung der Antwort oder, wie Marko es formulierte, in ein Umgehen der Antwort, als wollten sie demjenigen, der zuhört oder liest, sagen, da habe er die Frage, alles andere aber sei sein Problem“ (246).

Diese „Erinnerungsbürgerkriege“ aber, von denen Kuljić schreibt, blendeten die kritischen Elemente der eigenen Kultur aus und gingen nach dem Krieg weiter. Sehr kritisch beäugt Kuljić daher auch die „Reklerikalisierung des Feiertagskalenders“, der ein Gefühl von „Kontinuität und (national-religiöser) Gemeinschaft“ vermitteln soll (168). Und es scheint beim gegenseitigen Aufrechnen zu bleiben, ahnte ich auf dieser Fahrt durch die drei neuen Staaten: Immer sind die anderen die Täter, ist man selbst das Opfer.

Auch den selbstkritischen Blick einbringen

Nun kann es nicht die Aufgabe der Literatur sein, als Waffe für welchen vorgeblich guten Zweck auch immer eingesetzt zu werden. Aber Literatur ist Teil der Kultur, sie schreibt an den Narrativen mit, und die Hoffnung lebt, dass vielleicht gerade die Kultur etwas in die Wege leiten kann, was die Politik noch nicht zu stande bringt. Etwa die üblichen Dichotomisierungen abzutragen, wie jene: Wir sind die Opfer, ihr seid die Täter, und eine „kritische Kultur der Erinnerung“ einzubringen, wie sie Kuljić fordert. „Die für die Kriegsverbrechen zuständigen Anklagebehörden sind kein Ersatz für die Arbeit an der kritischen Erinnerung, die schmerzhaft ist“ (162).

Das bedeutet, Vergangenheit nicht nur als monumentale zu erzählen, sondern auch den selbstkritischen Blick einzubringen, „auch die dunklen Seiten der Vergangenheit in die Basiserzählung über die eigene Gruppe einzuschließen“ (168). Das muss jeder Staat, jede Gruppe für sich selbst unternehmen, anders könnte der Kreislauf der gegenseitigen Schuldzuweisungen wohl nie unterbrochen werden. Ein schwieriges Unterfangen in einer Zeit, in der man, wie Kuljić erzählt, vor allem in Serbien und Kroatien nur vor der Alternative steht, entweder Patriot oder Verräter zu sein. Das gilt auch für Schriftsteller.

Literatur, die nicht mit den monumentalen, unkritischen Kulturen der Erinnerung bricht, erzählt direkt oder indirekt die offiziellen Basiserzählungen weiter. Es finden sich genügend aktuelle Beispiele dafür, gerne ziehen sie das Gewand der historischen Romane an. Aber, diesen Eindruck gewinne ich auf der Reise, es gibt doch einige vor allem junge Schriftsteller, die diesen selbstkritischen Blick versuchen. Ihre Bücher haben allerdings erst teils kleine Auflagen, erreichen damit auch noch gar nicht den europäischen Markt und – mangels Übersetzung – uns als Leser. (Dass hierzulande vor allem jene serbische, kroatische, bosnische Literatur bekannt ist, die von Schriftstellern geschrieben worden ist, die ins Exil gegangen sind, ist kein Zufall.) Die Autoren nützen aber das Internet als Ort der Kritik und grenzüberschreitende Internetportale und Initiativen versuchen zusammenzubringen, was einmal in einem Sprachraum zusammenlebte und -wirkte.

 „Vielleicht ist es keine leere Utopie, zu hoffen, dass wir die Geschichte der europäischen Länder zukünftig nicht durch Erzählungen strahlender nationaler Mythen kennen lernen, sondern anhand der kritischen Auseinandersetzung von Nationen und Staaten mit den eigenen Mythen, und dass wir dadurch auch in der Lage sind, marginalisierte Bevölkerungsgruppen einzubeziehen“, hofft Kuljić (173).

Man kann seine Hoffnung vielleicht teilen, wenn man literarische Werke wie jene von David Albahari liest, wenigstens für die Dauer der Lektüre: „Wie soll man menschlichen Hass definieren? Wie die Existenz von Vorurteilen deuten? Wie selbstmörderische Tendenzen erklären, die manchmal eine Gruppe oder sogar ein ganzes Volk erfassen? Wie Ereignisse auf einen gemeinsamen Nenner bringen, die zu völlig unterschiedlichen Kategorien, geschichtlichen Epochen und Glaubensrichtungen gehören? Zu viele Fragen. Wenn ich richtig gezählt habe, gibt es allein auf den letzten ein, zwei Seiten acht. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass Bücher mit Fragen beginnen und mit Antworten enden, aber bei mir ist das anders, die Fragen häufen sich gegen Ende, und die Antworten sind überall verstreut, und das ist gut, denn dies ist kein Buch“ (Albahari, Die Ohrfeige, 320 f.).

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