Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, hat in seinem Impulsreferat zur Herbstvollversammlung im September 2010 von einer „Glaubwürdigkeitskrise“ der Kirche gesprochen, die unter anderem mit einer Entfremdung von der Lebenswelt der Menschen, mit mangelnder Lernbereitschaft der Kirche und verloren gegangenem Vertrauen ihr gegenüber zusammenhänge. Besonders der Missbrauchsskandal hat zu einem enormen Verlust an moralischer Autorität beigetragen.
In seiner „Philosophie der Orientierung“ (Berlin 2008) macht Werner Stegmaier deutlich, wie sehr gerade die Menschen in spätmodernen Gesellschaften auf Orientierung in Fragen der Moral angewiesen sind. Wer eine „moralische Autorität“ ist, „von dem wird moralisch akzeptiert, was von anderen nicht ohne weiteres akzeptiert würde: Lob und Tadel, Ratschläge, Ermahnungen, aber auch moralische Neuerungen“ (561). In ökonomischer Sprache gesagt – womit keine „Ökonomisierung“ der Phänomene gemeint ist – stellen moralische Autoritäten so etwas wie „Marken“ dar, „die den Schwankungen des jeweiligen Moralmarktes (mehr oder weniger) entzogen sind“.
Im Kontext heutiger Gesellschaft können einzelne Personen oder Institutionen, die moralische Autoritäten zu sein beanspruchen, sich jedoch immer weniger auf äußere Beeinflussung, Konvention oder Sozialkontrolle stützen. Moralische Orientierung geht heute über die Autonomieansprüche der Einzelnen nicht mehr hinweg, sondern muss von ihnen selbst akzeptiert und angeeignet werden – und das in einer Situation des gesellschaftlichen Pluralismus, in dem den Individuen durchaus verschiedene moralische Orientierungen von ganz unterschiedlichen Instanzen angeboten werden. Moralische Autoritäten können heute nicht mehr einfach Gehorsam einfordern. Im Gegenteil: Wer dies tut, macht sich verdächtig. Er scheint zu befürchten, seine moralischen Forderungen seien zu schwach, um argumentativ begründet und eingesehen werden zu können. Keine moralische Autorität kann sich aber noch mit solcher „Basta-Politik“ behaupten. Deshalb greifen heute auch für die katholische Kirche die früher vielleicht einmal erfolgreichen Strategien der Autoritätsbehauptung nicht mehr.
Ohne moralische Autorität kann die Kirche nicht Zeugnis geben
Moralische Autoritäten können unter diesen Bedingungen nur dann nachhaltig bestehen, wenn sie zwei Bedingungen erfüllen: Sie müssen moralische Normen vertreten, die von den Menschen als vernünftig und richtig akzeptiert werden können, und sie müssen durch eigenes konsequentes Handeln diesen Normen entsprechend für sie auch selbst einstehen. Noch einmal Stegmaier: „So wie man an Moralmärkten Achtung zu moralischer Autorität kapitalisieren kann, kann man mit ihr auch Bankrott gehen: moralische Autoritäten sind gehalten, sich selbst an die hohen moralischen Standards zu halten, die sie verbürgen, und ein hinreichend auffälliges moralisches Fehlverhalten kann mit einem Schlag die gesamte moralische Autorität ‚verspielen‘, in inter-individuellen Orientierungswelten ebenso wie in gesellschaftlichen“ (Stegmaier, 561).
Für die Kirche ist aus Gründen ihres Auftrags moralische Autorität unverzichtbar. Ihr Verlust trifft sie ins Mark. Als Christen glauben wir an einen menschenfreundlichen Gott, der das Heil aller Menschen will, der den Menschen als sein Bild auf Erden aufrichtet, ihn von allem Götzendienst und ideologischen Zwängen befreit und zu Gerechtigkeit und Liebe befähigt. Das zeigen eine Vielzahl biblischer Texte, von der Sozial- und Religionskritik der Propheten über das Magnifikat und die Seligpreisungen bis hin zur Gerichtsrede in Mt 25.
Man kann den Glauben an einen solchen Gott nur dann glaubwürdig bekennen und leben, wenn man sich auch hier und jetzt aufmacht, um für Menschlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe einzutreten. Benedikt XVI. schreibt deshalb in seiner Enzyklika „Deus caritas est“: Gottes- und Nächstenliebe „gehören so zusammen, dass die Behauptung der Gottesliebe zur Lüge wird, wenn der Mensch sich dem Nächsten verschließt oder gar ihn hasst“ (16). Letzten Endes haben die Christen kein anderes Mittel als ihr praktisches Zeugnis, um für ihren Glauben einzustehen: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,16). Oder aber die bitteren Früchte einer moralisch unglaubwürdigen Praxis werden den Menschen den Zugang zum Glauben an Gott verstellen. Ohne moralische Autorität, die von ihrer eigenen Praxis gedeckt wird, kann die Kirche nicht für diesen Gott Zeugnis geben.
Auf seiner Reise nach Portugal am 11. Mai 2010 machte Benedikt XVI. eine bemerkenswert kirchenkritische Äußerung: Die schlimmste „Verfolgung“ der Kirche komme derzeit nicht von einem äußeren Feind, sondern von innen, „von den Sünden innerhalb der Kirche“. Die Schuld am sexuellen Missbrauch und seiner jahrzehntelangen Vertuschung dürfen tatsächlich nicht einer Medienkampagne angelastet werden, wie das manche Bischöfe und Kardinäle anfangs versucht haben. Sie darf aber auch nicht allein auf die individuell schuldig gewordenen Priester und Ordensleute abgeladen werden. Glaubwürdigkeit und moralische Autorität sind nicht nur Forderungen an einzelne Verantwortungsträger einer Organisation, sondern an die Organisation selbst.
Dies betrifft auch die Prozesse der Entscheidung, die Systeme gestufter Kompetenzen, die Verantwortung der Leitung, den Umgang mit interner und externer Kritik, modern gesprochen: die „governance-Strukturen“ der Kirche. In der Unternehmensethik spricht man von „corporate governance“ und „corporate responsibility“ und macht daran die Glaubwürdigkeit von Unternehmen fest. Ganz im Sinne einer solchen Pers-pektive forderte Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Dominanz der Kirchenraison im eigenen Verhalten muss als Sünde und Schuld bekannt werden, nicht nur einzelner Personen, sondern auch der Kirche selbst, als strukturelle Sünde und Schuld. Nur dann kann eine wirkliche Umkehr gelingen“ (Süddeutsche Zeitung, 29.4.2010).
Die „strukturelle Sünde“ des Handelns nach „Kirchenraison“ ist eng verbunden mit einem bestimmten System von Haltungen, durch das Macht tabuisiert, gegen Kritik immunisiert und über teilweise sehr subtile Mechanismen durchgesetzt wird. Diese Haltungen werden auch innerhalb der Kirche längst als bedrängende Herausforderung erkannt, so beispielsweise von Diarmuid Martin, früher Sekretär des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, jetzt Erzbischof von Dublin, der bei verschiedenen Gelegenheiten den „Klerikalismus“ als größte Herausforderung jedenfalls der katholischen Kirche in Irland benannt hat.
Gestalt und Struktur der Kirche sind nicht abzulösen von ihrem Auftrag und ihrer Identität
Eine klare Sprache spricht in dieser Hinsicht auch der Missbrauchsbericht der Erzdiözese München, der am 3. Dezember 2010 von den unabhängigen Rechtsanwälten Marion Westpfahl, Karl-Heinz Spilker und Ulrich Wastl der Öffentlichkeit vorgestellt wurde: „Die durchgängig, wenn auch in unterschiedlicher Entschlossenheit ausgeprägte Bereitschaft, selbst gravierende Vergehen unaufgeklärt und ungesühnt zu belassen, findet ihre Wurzel auch in einem nach Überzeugung der Gutachter fehl interpretierten klerikalen Selbstverständnis, das einem brüderlichen Miteinander verpflichtet in einem im Ergebnis rücksichtslosen Schutz des eigenen Standes eine Rechtfertigung für nicht tolerable Vertuschung sucht.“
Diese Analysen müssen mit dem Bild von Kirche kontrastiert werden, das die Kirche selbst als für sich verpflichtend ansieht. Danach sind nämlich Gestalt und Struktur der Kirche durchaus nicht abzulösen von ihrem Auftrag und ihrer Identität. Weil sie „Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ („Lumen gentium“ 1) ist, dient „das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4,16)“ (LG 8). Die Kirche „ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“. Und folgendes Zitat aus der gleichen Konzilskonstitution (LG 32) darf durchaus als Kommentar zur Gefahr des Klerikalismus aufgefasst werden: „Es ist also in Christus und in der Kirche keine Ungleichheit aufgrund von Rasse und Volkszugehörigkeit, sozialer Stellung oder Geschlecht; denn ‚es gilt nicht mehr Jude und Grieche, nicht Sklave und Freier, nicht Mann und Frau; denn alle seid ihr einer in Christus Jesus‘ (Gal 3,28).“
Ziemlich unverständlich erscheint vor diesem Hintergrund die kritische Rückfrage von Kardinal Walter Kasper an die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen des Memorandums „Kirche 2011 – ein notwendiger Aufbruch“: „Glauben die Unterzeichner im Ernst, dass die Kirchenverfassung heute eine existenzielle Frage der Menschen ist?“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.2.2011). Die Antwort lautet: aber ja! Zwar gilt dies nicht für die Menschen, die sich bereits von der Kirche abgewandt und – es sind leider sehr viele – die Hoffnung aufgegeben haben, die Kirche könne wieder eine glaubwürdige Zeugin der Botschaft Jesu werden.
Aber für sehr viele engagierte Katholiken und Katholikinnen sind die äußere Gestalt und damit verbunden die Glaubwürdigkeit ihrer Kirche sehr wohl existenzielle Fragen. Sie wollen nämlich ihren Glauben als ein Zeugnis der Nächstenliebe ganz katholisch nicht allein, sondern in und mit ihrer Kirche leben, müssen dabei aber immer wieder erleben, wie die gleiche Kirche ihnen dieses Zeugnis schwer macht: Sie werden mit einer Kirche identifiziert – und wollen sich ja auch mit ihr identifizieren lassen – die in der Öffentlichkeit aus triftigen Gründen an moralischer Autorität verloren hat.
Die einzelnen Katholiken sind aber überfordert, wenn sie diesen Verlust allein durch ihre je persönliche moralische Autorität aufwiegen sollen. In der gegenwärtigen Situation müssen sie sich immer wieder von bestimmten Erscheinungsbildern ihrer Kirche distanzieren, um selbst glaubwürdig sein zu können, was oft mit der Gegenfrage beantwortet wird, warum sie denn dann überhaupt noch Mitglieder dieser Kirche bleiben wollten. Deshalb ist der Zorn nur zu verständlich, mit dem sie auf diesen Verlust an Glaubwürdigkeit ihrer Kirche reagieren.
Ein doppeltes Problem von Doppelmoral
Sexuellen Missbrauch nicht konsequent zu ahnden und zu verhindern rechtfertigt zweifelsohne den Vorwurf der Doppelmoral. Hier stimmt das, was man offiziell von sich und anderen verlangt, in krasser Weise nicht mit dem überein, was in den eigenen Reihen geschehen ist. Das bestreitet niemand. Kompliziert wird die moralische Verfasstheit der katholischen Kirche jedoch dadurch, dass sie ein doppeltes Problem von Doppelmoral hat: Es gibt nämlich in weiteren Bereichen Diskrepanzen zwischen Norm und Praxis, in denen jedoch diese Praxis von vielen Katholiken im Grunde als richtig angesehen wird, während die Kirche offiziell an einer Norm festhält, die viele nicht mehr überzeugt.
So wird das Verbot künstlicher Empfängnisverhütung offiziell weiterhin vertreten, aber die wenigsten katholischen Paare nehmen es noch ernst. Auch viele Priester und einige Bischöfe sagen einem hinter vorgehaltener Hand, dass dies eine kirchlich längst überholte Position sei. Ähnliches gilt für das Verbot vorehelichen Geschlechtsverkehrs, selbst dann, wenn es sich um Paare handelt, die in Liebe und gegenseitiger Verantwortungsübernahme zusammenleben und ihre Hochzeit schon geplant haben. Angehenden Religionslehrern und Religionslehrerinnen, die daraufhin Bedenken haben, bei der Beantragung ihrer „Missio“ zu bestätigen, dass sie nach der katholischen Sittenlehre leben, wird angedeutet, dass dies alles nicht so eng gesehen und nicht kontrolliert werde. Sie werden von der Kirche selbst schon am Beginn ihres Berufslebens zu einer Falschaussage verführt.
Gerade kirchlich engagierte Katholiken kennen auch viele Fälle von zum Zölibat verpflichteten Priestern und Ordensleuten, die aber sehr wohl intime sexuelle Beziehungen zu anders- oder gleichgeschlechtlichen Partnern haben – manchmal sogar, ohne es zu verheimlichen. Die meisten Laien haben dafür Verständnis, nicht aber dafür, dass die Kirche zwar offiziell strikt am Zölibat festhält, inoffiziell aber offenbar solange die Augen vor Zölibatsübertretungen verschließt, solange sie nicht ans Licht kommen und die Beteiligten Stillschweigen bewahren (vgl. dieses Heft, 192ff.). Welches Leid das für die betroffenen Priester und ihre Lie-bespartner und möglicherweise aus der Beziehung hervorgegangene Kinder bedeutet, kann man sich leicht vorstellen. Selbstredend gibt es keine verlässlichen Zahlen, wie oft das Zölibat übertreten wird, sicher ist aber, dass es sich nicht um wenige Einzelfälle handelt.
So verspielt die katholische Kirche ihre moralische Autorität, indem sie an Normen festhält, die die meisten außerhalb und innerhalb der Kirche als überholt ablehnen. Insgesamt ist hier eine ungute Kultur der Doppelmoral zur Routine geworden: (Fast) alle geben vor, an hehren moralischen Normen festzuhalten; zugleich wissen und tolerieren (fast) alle, dass die Praxis dem längst nicht mehr entspricht und diese Normen größtenteils auch nicht mehr überzeugend begründet sind.
Eine solche Diskrepanz hat es früher auch gegeben. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass sie uns schon kaum mehr auffällt. Sie war im Kontext eines traditionellen Milieus mit hoher Sozialkontrolle zwar vielleicht ebenso unmoralisch, aber sozial aufrechtzuerhalten, konnte sogar als Beweis für die Sündhaftigkeit aller Menschen herangezogen werden. „Sünde gibt es eben überall, auch in der Kirche“, bekommt zu hören, wer solche Verhältnisse anprangert. Aber unter den Bedingungen einer spätmodernen Gesellschaft mit ihren gewachsenen Ansprüchen an individuelle Entscheidung und authentische Lebensführung werden sie zum Problem und untergraben die moralische Autorität der Kirche.
Wenn man sich fragt, warum an dieser Doppelmoral so festgehalten wird, kommt man unwillkürlich auf den Gedanken, dies mit Fragen der Machtausübung und des Machterhalts in Verbindung zu bringen. Nicht nur David Berger hat in seinem Buch „Der heilige Schein“ auf die verdeckten Repressionsmechanismen hingewiesen, denen sich homosexuelle Männer in der katholischen Kirche ausgesetzt fühlen. Auch in dem Missbrauchsbericht der Erzdiözese München heißt es in bemerkenswerter Klarheit: „Erweist sich bereits dieses Selbstverständnis (des Klerikalismus, G.K.) als ernstzunehmendes Aufklärungshindernis, war für die Gutachter ein weiterer Bereich auffällig, der geeignet ist, aufgrund Abschottung massive Aufklärungsverhinderung nach sich zu ziehen. Es handelt sich um homosexuell veranlagte Kleriker, die mit Blick auf die kirchlichen Lehren zur Homosexualität und Priestertum bedauerlicherweise einem besonderen Erpressungspotenzial unterliegen.“
Die Opfer haben ein Recht darauf, nicht zu vergeben
Wie kann es der katholischen Kirche angesichts dieser Situation gelingen, moralische Autorität zurückgewinnen? Sicher steht an erster Stelle ein aufrichtiges Schuldeingeständnis und eine Bitte um Vergebung an Gott – und an die Opfer sexuellen Missbrauchs, wobei man sich sehr klar darüber sein sollte, dass man diese Opfer nicht zwingen darf, die Vergebungsbitte anzunehmen. Sie haben ein Recht darauf nicht zu vergeben. Auch ist klar, dass alles getan werden muss, um künftig sexuellen Missbrauch konsequent zu verfolgen und womöglich zu verhindern.
Aber die notwendigen Schritte zur Wiederherstellung moralischer Autorität müssen weit darüber hinausgehen, weil ihre Beschädigung eben nicht nur auf den Missbrauchsskandal zurückgeht. Dort, wo die Morallehre der Kirche nicht mehr überzeugt, wo sogar eine erhebliche Zahl katholischer Moraltheologen zu anderen Ergebnissen kommen, als die offizielle Lehre der Kirche vorschreibt, muss dringend über eine Neuformulierung und Korrektur dieser Lehre nachgedacht werden. Das wird nicht von heute auf morgen geschehen, hier muss entschieden überlegt und vorsichtig vorgegangen werden, aber die Probleme dürfen – um der Glaubwürdigkeit der Kirche willen – nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden.
Es würde auch der moralischen Autorität der Kirche weniger schaden, die damit verbundenen Konflikte sachlich und im Dialog auszutragen, als vergeblich zu versuchen, sie autoritär von oben zu beenden. Erst recht schadet es der Kirche, wenn sie versucht, die kritischen Stimmen durch Sanktionen wie den Entzug oder die Verweigerung des so genannten „nihil obstat“ zum Schweigen zu bringen.
Das gleiche gilt für Normen, die keine moralischen Normen, aber ebenfalls zum Problem geworden sind: die schon erwähnte Zölibatsverpflichtung für alle Priester und, auch dieses „Reizthema“ muss noch angesprochen werden: das Verbot der Priesterweihe für Frauen. Ohne auf die theologische Debatte darüber einzugehen, zeigt sich hier gleichfalls ein Problem für die moralische Autorität der Kirche. Seit der Enzyklika „Pacem in terris“ (1963) und den entsprechenden Schwerpunktsetzungen von Johannes Paul II. gilt die Kirche zu Recht als eine der konsequentesten Verfechterinnen der Menschenrechte. Unbestritten gehört zu den Menschenrechten das Verbot der Diskriminierung von Frauen. Auch wenn die Verfechter des Verbots einer Priesterweihe für Frauen es bestreiten, von den allermeisten Frauen wird dieses Verbot als Diskriminierung betrachtet und legt ihnen für ihre Identifikation mit der katholischen Kirche große Lasten auf.
Wie oft ist gerade von jungen Frauen zu hören: „Ich kann mich doch nicht als den Männern gleichberechtigt betrachten und zugleich Mitglied einer Organisation sein, die die entscheidenden Positionen Frauen verweigert!“ Diese zumindest „gefühlte“ Ungerechtigkeit (und sie ist auch tatsächlich ungerecht) führt dazu, dass sich viele junge Frauen – und das nicht nur in Mitteleuropa – dieser Kirche nicht mehr zugehörig und nicht mehr verpflichtet fühlen – mit gravierenden Folgen für die Weitergabe des Glaubens.
Kirche muss zu einer lernenden Organisation werden
Neben notwendigen Veränderungen in den Lehrpositionen braucht es aber genauso dringend Reformen in der Organisationsstruktur der Kirche. Glaubwürdigkeit lässt sich nur über eine „governance“ zurückgewinnen, durch die es möglich ist, dass die Organisation Kirche – und sie ist ja gerade im katholischen Verständnis nicht nur eine geistliche Größe, sondern hat eine reale Sozialgestalt, die ihrer Botschaft entsprechen muss – sensibel auf Herausforderungen reagieren kann, dass Kritik geäußert werden kann und wahrgenommen wird, dass die Ausübung von Macht in effizienter Weise Regeln unterworfen und kontrolliert wird.
Die meisten Katholiken und Katholikinnen leben heute in rechtsstaatlichen Demokratien, die die Kirche ja inzwischen auch als die beste Regierungsform ansieht. Auch wenn die Gläubigen wissen, dass die Kirche nicht mit dem Staat zu vergleichen ist, halten sie die Diskrepanz zunehmend weniger aus, dass sie im Staat als mündige Bürger und Bürgerinnen akzeptiert, in der Kirche aber nur allzu oft als unmündige „Schäflein“ autoritär regierender „Hirten“ behandelt werden. Vielleicht war es für das Überleben der Kirche früher einmal sinnvoll, die Herrschaftsform des sie umgebenden Absolutismus zu übernehmen, um in den Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche eine Chance zu haben. Franz Xaver Kaufmann hat demgegenüber in seinem Buch „Kirchenkrise“ (Freiburg 2011) mit Recht betont: „Die größte Schwäche des Modells strikter Hierarchie ist das Fehlen von Vorkehrungen zum Lernen. Aus organisationssoziologischer Sicht sind streng hierarchisch aufgebaute Institutionen der wachsenden Komplexität der Weltverhältnisse immer weniger gewachsen. (…) Die jüngste Bestätigung hierfür brachte der Zusammenbruch der zentralistisch geführten kommunistischen Länder.“ (169) Noch nicht als strukturelle Vorgaben, aber als wichtige Appelle finden sich in den Konzilstexten eine Fülle von Hinweisen, was ein solches Lernen ermöglichen könnte.
Dies betrifft beispielsweise eine aktivere Rolle der Laien, nicht nur im „Weltdienst“, sondern auch in der Kirche: „Entsprechend dem Wissen, der Zuständigkeit und hervorragenden Stellung, die sie einnehmen, haben sie die Möglichkeit, bisweilen auch die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, zu erklären. (…) Die geweihten Hirten aber sollen die Würde und Verantwortung der Laien in der Kirche anerkennen und fördern. Sie sollen gern deren klugen Rat benutzen, ihnen vertrauensvoll Aufgaben im Dienst der Kirche übertragen und ihnen Freiheit und Raum im Handeln lassen, ihnen auch Mut machen, aus eigener Initiative Werke in Angriff zu nehmen. Mit väterlicher Liebe sollen sie Vorhaben, Eingaben und Wünsche, die die Laien vorlegen, aufmerksam in Christus in Erwägung ziehen“ (LG 37).
Um notwendige Reformen zu bewältigen stehen der Kirche viele wertvolle Elemente ihrer eigenen Tradition als Ressourcen zur Verfügung. Sie könnte beispielsweise auf die Prinzipien ihrer eigenen Soziallehre zurückgreifen, insbesondere das Prinzip der Subsidiarität, um die Verteilung von Kompetenzen in ihrem Inneren neu zu regeln. Sie könnte sich aber auch erinnern, dass im frühen Christentum der Glaube, dass letzten Endes Gottes Wille und nicht der Wille von Menschen entscheidend ist, keineswegs mit einer autoritären Organisationsstruktur, in der alles „von oben“ entschieden werden muss, verbunden war, sondern durchaus vereinbar war mit demokratischen Vorgehensweisen.
In Apg 1,15–26 wird berichtet, wie sich die Gemeinde zur Nachwahl des Apostels Mattias zusammenfand, gemeinsam zwei Kandidaten bestimmte und dann das Los entscheiden ließ. Auch die Wahl des Stephanus und weiterer sieben „Diakone“ (Apg 6,1–6) erfolgte demokratisch. Offenbar war der Gemeinde damals die Vorstellung durchaus geläufig, dass der Wille Gottes bevorzugt in einmütig getroffenen Entscheidungen zu entdecken sei. Schon damals stärkte das die moralische Autorität der Gemeinde, denn Apg 6,7 berichtet davon, dass daraufhin die Zahl der Jünger wuchs. Und im ersten Petrusbrief mahnt sein Verfasser die Leiter der Gemeinden: „Seid nicht Beherrscher eurer Gemeinden, sondern seid Vorbild für eure Herde!“ (1 Petr 5,3).
In der Organisationsberatung ist eine zentrale Einsicht gewachsen: Eine Organisation ändert erst dann etwas an ihren Strukturen, wenn die Furcht vor dem Untergang größer ist als die Furcht vor der Veränderung. Es bleibt zu hoffen, dass die Mechanismen der Verdrängung von Furcht in der katholischen Kirche nicht zu stark sind. Denn wenn die Reformen zu lange auf sich warten lassen, werden diejenigen, die heute Reformen einklagen, die Kirche bereits verlassen haben. Ob der verbleibende Rest dann aber ein „heiliger“ sein wird, daran muss man wohl zweifeln.