Musik und Religion bei Gustav MahlerSehnsucht und Unsterblichkeit

Vor hundert Jahren starb Gustav Mahler (1860–1911). In seinem eindrucksvollen musikalischen Werk spielt Religiöses eine wichtige Rolle, allerdings nicht in einem dogmatisch-konfessionellen Sinn. Die Musik Mahlers ist voller Todesahnungen, atmet aber gleichzeitig die Sehnsucht nach einer endgültigen Erfüllung.

Als Gustav Mahler ein Jahr vor seinem Tod die Uraufführung seiner Achten Sinfonie dirigierte, war dies der Höhepunkt seiner Karriere. Unter den Zuhörern war auch Thomas Mann. Die Verfilmung seiner Novelle „Der Tod in Venedig“ (1912) durch Luchino Visconti (1971) machte das Adagietto aus Mahlers Fünfter Sinfonie zu seinem populärstes Stück. Mahler ist heute eine Art Kultfigur. Schon zu Lebzeiten galt Mahler als Gottsucher und Märtyrer. In der Tat war sein Leben von einer extremen Selbstaufopferung an die Musik bestimmt. Mahler glaubte an den „Parallelismus zwischen Leben und Musik“. Seine Musik verstand er als Ausdruck einer umfassenden Weltanschauung. In einem Jugendbrief schreibt er, drei Dinge seien ihmheilig: Kunst, Liebe und Religion.

Mahler entstammt einer jüdischen Familie und wurde im böhmischen Kalischt geboren. Seine Kindheit verbrachte er im mährischen Iglau. Dort sang er in der katholischen Pfarrkirche im Chor und lernte unter anderem Mozarts Requiem und Beethovens Christus am Ölberg kennen. Durch eine benachbarte Kaserne wurde Mahler mit der Militärmusik vertraut. Ihre Signale, Märsche und Lieder waren sein „Entzücken die ganze Kindheit hindurch“. Der Einfluss jüdischer Musik auf Mahler ist umstritten. Kurz nach dem Studium in Wien begann Mahler mit den Arbeiten an der Märchen-Kantate Das klagende Lied (1880). Seine Stimmung zu dieser Zeit geht aus dem schon zitierten Jugendbrief hervor: „Die höchste Glut der freudigen Lebenskraft und die verzehrendste Todessehnsucht: Beide thronen abwechselnd in meinem Herzen; ja oft wechseln sie mit der Stunde“.

Mit ungeheurer Energie verfolgte Mahler seine Dirigentenlaufbahn. Sonst von kindlicher Liebenswürdigkeit, konnte sich Mahler am Pult in einen Despoten verwandeln. Nach mehreren Engagements in Österreich und Ungarn debütierte Mahler am 26. März 1891 an der Hamburger Oper mit Tannhäuser.

Obschon er Richard Wagner tief verehrte, war an ein Dirigat in Bayreuth nicht zu denken. Daran änderte auch Mahlers Konversion zum Katholizismus nichts, die am 23. Februar 1897 erfolgte. Noch im selben Jahr ging Mahler als Kapellmeister an die Wiener Hofoper. Ließ sich Mahler aus opportunistischen Gründen taufen? Dafür spricht seine Notiz: „Mein Judentum verwehrt mir, wie die Sachen jetzt in der Welt stehen, den Eintritt in jedes Hoftheater. Nicht Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen.“ Doch Alma Schindler, die Mahler in Wien kennenlernte und 1902 heiratete, bestritt eine Konversion Mahlers aus rein strategischen Gründen. Mahler habe der jüdischen Religion und ihrem Kult nicht besonders nahe gestanden.

Dagegen ging er „an keiner Kirche vorbei, ohne hineinzugehen, er liebte Weihrauchgeruch, die gregorianischen Gesänge. Seine religiösen Gesänge, die II., die VIII., alle Choräle in den Symphonien sind echt empfunden – und nicht von außen hineingetragen.“ „Die katholische Mystik zog ihn an“ und „seine Liebe zur katholischen Mystik war vollkommen echt“.

Schon vor seiner Konversion faszinierte Mahler die Person des leidenden Christus.

Zum ersten Satz der in Hamburg geschriebenen Dritten Sinfonie schreibtMahler: „Christus auf dem Ölberg, der den Leidenskelch bis zur Neige leeren musste und – wollte. Wem dieser Kelch bestimmt ist, der kann und will ihn nicht zurückweisen, doch muss ihn zu Zeiten eine Todesangst überkommen, wenn er denkt, was ihm noch bevorsteht. Solch ein Gefühl habe ich im Hinblick auf diesen Satz und in der Voraussicht dessen, was ich deshalb werde leiden müssen, um gewiss nicht mehr zu erleben, dass er erkannt und anerkannt werden wird.“ In Wien führte Mahler mit Gerhard Hauptmann intensive Gespräche über Jesus Christus. Hauptmann war gerade mit der Abfassung seines Romans Der Narr in Christo Emmanuel Quint beschäftigt.

Auch wenn Mahler von Christus angezogen war und eine Neigung zum Katholizismus hatte, war er nicht religiös im dogmatisch-konfessionellen Sinne. Von Goethe, der „Sonne am Himmel seiner geistigen Welt“, übernahm er die Idee der Entelechie. Mahlers tiefem ethischen Ernst und unbedingtem Anspruch an das Leben entsprach sein Glaube an die Palingenese. Er polemisierte gegen den Materialismus seiner Zeit, für den es „keinen Gott gebe, sondern nur ‚Kraft‘ und ‚Stoff‘“ (Richard Wagner). Nach dem Zeugnis Bruno Walters, Mahlers Assistent in Hamburg, war Mahler ein zutiefst „metaphysischer“ Mensch: „Die Fragen nach Gott, nach dem Sinn und dem Ziel unserer Existenz und nach dem Warum des unsäglichen Leids in der ganzen Schöpfung umdüsterten seine Seele.“ Zugleich war Mahler von einem Mitleiden mit der Kreatur beseelt, das bis zur Erschütterung gehen konnte. Großen Einfluss auf sein Denken und sinfonisches Schaffen hatte der Dramatiker und Librettist Salomo Siegfried Lipiner. Durch ihn geriet Mahler schon in seiner Studienzeit unter den Einfluss Dostojewskis. Die Frage, wie ein Mensch glücklich sein könne, wenn nur ein einziges Kind zu Tode gequält wird, beschäftigte Mahler sein Leben lang.

Neben Gedichten aus Des Knaben Wunderhorn vertonte Mahler Gedichte aus den „Liedern eines fahrenden Gesellen“. Wie Schuberts Winterreise erzählen sie die Geschichte einer verschmähten Liebe mit tragischem Ausgang. Die ersten vier Sinfonien entstanden als Tetralogie zwischen 1884 und 1901.

Der Grundgedanke der Ersten Sinfonie ist die Idee der Transzendenz des Elends. In Anspielung auf ein Werk von Jean Paul trägt sie den Titel „Titan“. Nach den ersten beiden Sätzen folgt ein Trauermarsch auf das Elend und den Jammer der Welt. Das Finale beginnt als „der plötzliche Ausbruch eines im tiefsten verwundeten Herzens“. Anders als Goethes Werther schließt das Finale mit einer Apotheose. Bei der Aufführung in Weimar erhielt der Choralsatz den Titel „Dall’ Inferno al Paradiso“.

Ein Hymnus ohne Worte an die göttliche Gnade

Wegen ihrer Anbindung an verschiedene Wunderhornlieder hat man die zweite bis vierte Sinfonie Mahlers als Wunderhorn-Sinfonien zusammengefasst. In dem von Mahler verfassten Programm zur Aufführung der Zweiten Sinfonie heißt es: „Zugleich ist es die große Frage: Warum hast du gelebt? Ist das alles nur ein großer, furchtbarer Spaß? Was ist dieses Leben – und dieser Tod? Gibt es für uns eine Fortdauer? Ist dies alles nur ein wüster Traum, oder hat dieses Leben und dieser Tod einen Sinn?“ Der Kopfsatz der Auferstehungs-Sinfonie trägt Züge eines Trauermarsches.

Mahler gesteht, er habe sich beim Komponieren des Satzes selbst tot auf einer Bahre gesehen. Das „Dies Irae-Thema“ wird aus der gregorianischen Sequenz der lateinischen Totenmesse entwickelt. Die Idee zum Finale kam Mahler während der Trauerfeier für Hans von Bülow, bei der ein Choral auf Klopstocks Gedicht „Aufersteh’n“ gesungen wurde.

Mahler komponierte die christliche Eschatologie freilich nicht so, wie sie durch die kirchliche Tradition vorgegeben ist. Er neigte nicht nur zur Wiedergeburtslehre, sondern auch zur Apokatastasistheorie. Mahler widersprach der Vorstellung vom Jüngsten Gericht, „wie Glaube und Kirche sie sich über dieses Leben hinaus schufen“. „Der große Appell ertönt: Die Gräber springen auf, und nun kommt nichts von all dem Erwarteten; kein himmlisches Gericht, keine Begnadeten und keine Verdammten; kein Guter, kein Böser, kein Richter! Alles hat aufgehört zu sein. Und leise und schlicht hebt es an: ‚Aufersteh’n, ja aufersteh’n’“. Es herrscht die allgegenwärtige göttliche Liebe. Das erlösende Wort „Sterben werd’ ich, um zu leben“ entnimmt Mahler 1 Kor 15,36: „Das, was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt.“ Gegenüber dem Schlusssatz bildet das Urlicht mit dem Lied „O Röschen rot“ ein kindlichfrommes Bekenntnis der Seele zum ewigen Leben. „Das ‚Urlicht‘ ist das Fragen und Ringen der Seele um Gott und um die eigene göttliche Existenz über dieses Leben hinaus.“ „Dazu brauchte ich die Stimme und den schlichten Ausdruck eines Kindes, wie ich mir ja, von dem Schlag des Glöckleins an, die Seele im Himmel denke, wo sie im Puppenstand als Kind wiederbeginnen muss.“ Mahlers Dritte Sinfonie ist durchdrungen vom Gedanken einer Aufstufung der Welt, von der unbeseelten Materie über die Blumen, die Tiere, den Menschen und die Engel bis zur göttlichen Liebe als der höchsten Wirklichkeit. Unter dem Gott Pan, der für den kosmischen Charakter der Sinfonie steht, läutert sich die wilde Natur bis zur Welt des Geistes.

Das Mitternachtslied aus Nietzsches Also sprach Zarathustra steht für das Wort, das in der Aufstufung des Lebens mit dem Menschen Ereignis wird.

Beim Adagio handelt es sich um einen Hymnus ohne Worte auf die göttliche Gnade, die kein Geschöpf verloren gehen lässt. Wie der Schlusssatz der Zweiten kommt auch im Finale der Dritten Mahlers Hoffnung auf Allversöhnung zum Ausdruck.

Vergänglichkeit, Verzweiflung und Versöhnung

Die Keimzelle der Vierten Sinfonie bildet eine musikalische Humoreske über das himmlische Schlaraffenland auf das Wunderhorngedicht Das himmlische Leben. Ursprünglich als Lied komponiert, war die Humoreske zeitweise als Finale der Dritten vorgesehen. In der Vierten wird sie mit dem Totentanz des zweiten Satzes als ihrem Gegenpol kombiniert. Mahler charakterisiert die Vierte als Musik über die „Heiterkeit einer höheren, uns fremden Welt“. Er nennt sie eine „Schelmerei, verbunden mit dem tiefsten Mystizismus“, die unterstreicht: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehen.“ Das Jahr 1901 bedeutete für Mahler einen tiefen Einschnitt. Im Februar erlitt er einen Blutsturz, den er beinahe nicht überlebt hätte. Die Nähe des eigenen Todes rief die Erinnerung an die im Kindesalter verstorbenen Geschwister wach. Mahler fühlte sich damals stark zum romantischen Dichter Friedrich Rückert hingezogen, in dem er einen Geistesverwandten erkannte. Rückert hatte kurz hintereinander zwei Kinder durch Krankheit verloren. Unter dem Eindruck ihres Todes schrieb er seine Kindertotenlieder, „die größte Totenklage der Weltliteratur“ (Hans Wollschläger). Die Melodie des vierten Liedes Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen! (eines der Ergreifendsten, das Mahler geschrieben hat) war ihm so wichtig, dass er sie im Finale seiner Neunten Sinfonie wiederaufnahm.

Beginnend mit der Fünften Sinfonie kommt es bei Mahler zur Steigerung der Polyphonie – bis hin zu Ansätzen moderner Collagetechnik. Den Prozess, den die Fünfte vom düsteren Beginn des Trauermarsches über das berühmte Adagietto bis zum beschwingten Rondo-Finale durchläuft, hat man treffend als musikalisch-poetische Umformung der Redewendung per aspera ad astra gedeutet. Wie in der Dritten geht es auch hier um die Transformation von Sterben, Tod und Trauer. Theodor W. Adorno meinte, im ersten Satz einen Trauermarsch erkennen zu können, der vom Schlachtfeld ins Massengrab führt, gleichsam eine Antizipation der kommenden Kriege und Pogrome.Demgegenüber wirke die Choralapotheose des Finales wie eine „erpresste Versöhnung“.

Auch wenn Mahler eine Ahnung vom Untergang der europäischen Zivilisation gehabt haben dürfte, darf man bei der Fünften nicht die biografische Krise des Jahres 1901 außer Acht lassen. Neben dem Trauermarsch der Fünften komponierte Mahler zwei weitere Todesgesänge (Um Mitternacht; Der Tamboursg’sell). Als er 1902 das beschwingte Finale der Fünften schrieb, war er in einer Hochstimmung: Kurz zuvor hatte er Alma Schindler in Wien geheiratet. Das dramatische Ereignis im Februar 1901 könnte bei Mahler den Wunsch hervorgerufen haben, eine Familie zu gründen, um seine Todesgedanken, die ihn seit der Kindheit begleiteten, abzuwehren.

Drei Jahre nach der Eheschließung vollendet Mahler seine Sechste Sinfonie. Mit ihrem düsteren Finale bildet sie das Gegenstück zur Fünften. Ganz anders der Schlusssatz der Siebten, bei der Glocken als Klangrequisit der musica angelica ertönen. Alma nennt Mahlers Sechste sein „allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein“. Bei der Generalprobe zur Uraufführung in Köln war Mahler so erschüttert, dass er ganz aufgelöst und weinend durchs Zimmer lief. Bei der Erstaufführung in Wien am Neujahrstag 1907 wurde die Sechste mit Zustimmung Mahlers unter dem Titel „Die Tragische“ angekündigt, so als ob er geahnt hätte, was das neue Jahr für ihn bringen würde. Die drei Hammerschläge im Finale beschreiben Alma zufolge Mahlers „Untergang, oder, wie er später sagte, den seines Helden“.

Alma sieht in ihnen den Hinweis auf die Schicksalsschläge, die Mahler im annus terribilis fällten: Am 12. Juli 1907 stirbt Mahlers älteste Tochter Maria Anna, genannt Putzi, viereinhalbjährig an Diphterie. Kurz danach erfährt Mahler von seiner fatalen Herzdiagnose. Nach fortgesetzten antisemitischen Kampagnen reicht er in Wien seine Demission ein. Schon zuvor hatte er Kontakte zur Metropolitan Opera in New York aufgenommen, die im Juni zum Vertragsabschluss führten. Dass Mahler sein Leben sozusagen „anticipando musiziert“ habe, dies belegen für Alma neben der Sechsten auch die Kindertotenlieder.

Der schöpferische Geist und der Eros

Die Achte Sinfonie, die Mahler für sein bedeutendstes Werk hielt, ist aufs Engste mit seiner Frau verbunden. Alma verehrte den Dirigenten Mahler, konnte aber mit seiner Musik wenig anfangen. Von ihrem Mann, der ganz in der Musik aufging, fühlte sie sich schon bald vernachlässigt. Zudem hatte Mahler seiner Frau verboten zu komponieren. In Alma suchte er keine Kollegin, sondern eine treue Gefährtin. Die Sommermonate vor der Uraufführung der Achten sollten die dunkelsten in Mahlers Leben werden.

Drei Jahre waren seit dem annus terribilis vergangen. In einem seiner erschütterndsten Briefe schreibt Mahler, er habe damals gleichsam vor dem Nichts gestanden.

Seitdem litt Mahler an Verlustängsten und Schwermut. Daneben plagten ihn immer öfter schwere Migräneattacken. Die unglückliche Alma wurde immer depressiver und verfiel dem Alkohol. Wegen ihrer kranken Nerven suchte sie mehrmals Sanatorien auf. In Tobelbad lernte sie im Sommer 1910 Walter Gropius kennen. Als dieser seine Liebesbeziehung zu Alma gegenüber Mahler bekannt machte, stürzte ihn dies in seine bisher schwerste Krise. Bis zur Selbsterniedrigung bettelte er um die Liebe Almas, doch ohne Erfolg.

Seine letzte Hoffnung setzte Mahler in Sigmund Freud, den er am 26. August 1910 im holländischen Leiden traf (wundervoll verfilmt von Percy Adlon und Felix Adlon in Mahler auf der Coach, 2010). Das mehrstündige psychoanalytische Gespräch stabilisierte Mahler soweit, dass er in der Lage war, Anfang September zu den letzten Vorbereitungen für die Uraufführung der Achten nach München zu reisen. Doch Mahlers Zustand blieb äußerst prekär. Dies zeigen die erschütternden Briefe an Alma aus München.

Sie geben Aufschluss über Mahlers psychische Verfassung: „Es war immer latent in mir, dieser Hang zu Dir – Freud hat ganz recht – Du warst mir immer das Licht und der Zentralpunkt! Freilich das innere Licht, welches mir über Alles aufgegangen und das selige Bewusstsein – durch keine Hemmungen mehr getrübt – steigert alle meine Empfindungen ins Unendliche.

Aber welche Qual und welcher Schmerz, dass du es nicht mehr erwidern kannst. Aber so wahr als Liebe wieder Liebe erwecken muss, und Treue wieder Treue finden wird (…) so wahr will ich mir wieder Alles zurückerobern, das Herz, das einst mein war, und das doch nur mit dem meinigen vereint zu Gott und der Seligkeit finden kann.“ „Almschili – wenn du damals von mir gegangen wärst, so wäre ich einfach ausgelöscht, wie eine Fackel ohne Luft.“

Abschied oder die Trilogie des Todes

Wie Wagners Parsifal ist Mahlers Achte eines der bedeutendsten Denkmäler der Kunstreligion. Doch während Wagner auf Gralsenthüllung, Taufe und Abendmahlsritual zurückgreift, bindet Mahler in großer Kühnheit den Pfingsthymnus Veni Creator Spiritus und die Anachoretenszene am Ende von Goethes Faust II zusammen. Was mit der Bitte um den Schöpfergeist beginnt, endet mit der Liebeshymne des Chorus mysticus: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“ Bei Goethe durch die jungfräuliche Mater gloriosa personifiziert, sieht Mahler im Ewig-Weiblichen das, was „uns mit mystischer Gewalt“ affiziert und in die „andere Welt“ der „höh’ren Sphären leitet“. Der Christ nennt diesen Zustand die „ewige Seligkeit“.

Von seinem Bühnenbildner Alfred Roller wurde Mahler gefragt, „warum er eigentlich keine Messe schreibe“. Mahler schien tief betroffen undantwortete: „Glauben Sie, dass ich das vermöchte? Nun, warum nicht? Doch nein. Da kommt das Credo vor.“ Danach begann er das lateinische Glaubensbekenntnis herzusagen und erklärte: „Nein, das vermag ich doch nicht.“ Nach einer Probe zur Achten sagte er zu Roller: „Sehen Sie, das ist meine Messe.“

Nirgendwo steht der Tod so im Zentrum wie in den letzten drei Werken Mahlers, die man auch seine „Trilogie des Todes“ nennt. Im annus terribilis war Mahler in den Besitz von Hans Betghes Gedichtsammlung Die chinesische Flöte gekommen. Für sein sinfonisches Werk Das Lied von der Erde wählte er daraus einige Gedichte aus. Grundthema der Liedsinfonie sind die Liebe zur Natur und zum Leben und die Nichtigkeit aller Dinge, vor allem des Menschen. Text und Klangfarbe der Sinfonie sind zutiefst melancholisch. Der letzte Satz trägt den Titel „Der Abschied“. Er ist eine der bestürzendsten Kompositionen Mahlers.

Dass Mahler am Ende seines Lebens mit Gott gerungen hat, zeigt ein Brief aus New York an Bruno Walter aus dem Jahr 1909: „Ich brachte vorgestern hier meine Erste! Wie es scheint, ohne besondere Resonanz. Dagegen war ich mit diesem Jugendwurf recht zufrieden. Sonderbar geht es mir mit allen diesen Werken, wenn ich sie dirigiere. Es kristallisiert sich eine brennend schmerzliche Empfindung: Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild auswirft. So was wie der Trauermarsch und der darauf ausbrechende Sturm scheint mir wie eine brennende Anklage an den Schöpfer.“ Dazu passt eine andere Notiz Mahlers: „Ein großartiges Bild für den Schaffenden ist Jakob, der mit Gott ringt, bis er ihn segnet. Wenn die Juden nichts als das erfunden hätten, müssten sie kolossale Leute gewesen sein. – Mich will Gott auch nicht segnen; nur im fürchterlichen Kampf ums Werden meiner Werke ringe ich es ihm ab.“

Die „sprachlose“ Neunte Symphonie, posthum 1912 uraufgeführt, entstand über mehrere Jahre und wurde in den letzten beiden Lebensjahren Mahlers vollendet. Der erste Satz ist das „Allerherrlichste, was Mahler geschrieben hat“, „Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, im Frieden auf ihr zu leben“, doch ganz „auf Todesahnung gestellt“ (Alban Berg). Der Satz hebt mit dem „Todesrhythmus“ (Michael Gielen) eines stolpernden, extrasystolisch schlagenden Herzens an. Im Finale der Neunten, in dem Mahler Passagen aus dem Lied von der Erde und dem vierten Kindertotenlied verarbeitet hat, ist sein ganzes „Arsenal von Traurigkeitsvokabeln“ (Heinrich Eggebrecht) ausgebreitet.

Mit der unvollendet gebliebenen Zehnten Symphonie begann Mahler unmittelbar vor der schweren Ehekrise im Sommer 1910. Die Einträge in die Partiturentwürfe zeigen eine Person am Rande der geistigen Dissoziation. Am Schluss des Particells zum dritten Satz notiert Mahler in Anspielung auf die letzten Worte Jesu am Kreuz: „Tod! Ver[kündigung]!

Erbarmen!! O Gott! O Gott! Warum hast du mich verlassen. – Dein Wille geschehe!“ Wie bei der Entstehung der Dritten identifiziert sich Mahler mit dem leidenden Christus und seiner Gottverlassenheit. Auf der Titelseite des Particells zum vierten Satz schreibt Mahler: „Der Teufel tanzt es mit mir! Wahnsinn, faß mich an, Verfluchten! vernichte mich, daß ich vergesse, daß ich bin! daß ich aufhöre zu sein, daß ich ver[gehe]“.

Auf der letzten Seite befindet sich die Eintragung: „Du allein weißt, was es bedeutet. Ach! Ach! Ach! Leb’ wohl mein Saitenspiel. Leb wol / leb wol / Leb wol / Leb wol / Ach Ach.“ Mit Saitenspiel meint Mahler wohl nicht nur Alma, sondern auch seine Musik. Der letzte Eintrag lautet: „für dich leben! für dich sterben! Almschi“.

Gustav Mahler war ein Mensch voller Sehnsucht. „Die Musik muss immer ein Sehnen enthalten, ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus.“ Sehnsucht und Unsterblichkeit – diese beiden Stichworte können über dem ruhelosen und aufopfernden künstlerischen Leben Mahlers stehen. Es ist das Leben eines musikalischen Genies und eines Mystikers des Leidens. Von seiner vierten Amerikareise zurückgekehrt, stirbt Mahler, schwer herzkrank, am 18. Mai 1911 in einem Wiener Sanatorium. Begraben ist er auf dem Friedhof in Grinzing, unmittelbar neben seiner geliebten Tochter Putzi. Auf dem Grabstein steht nicht mehr als sein Name: „Die mich suchen, wissen, wer ich war, und die anderen brauchen es nicht zu wissen.“

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