Luise Rinser in den Ambivalenzen ihres LebensVorbild oder Ärgernis?

In ihrem langen Leben hat Luise Rinser (1911 bis 2002) viel von sich reden gemacht, nicht nur als Schriftstellerin, sondern vor allem als durchaus umstrittene -öffentliche Person. Sie verfügte über die Fähigkeit zur Selbstinszenierung, konnte aber gleichzeitig in einem elementaren Sinn Lebenshilfe leisten. Ihr Weg war voller Ambivalenzen – das macht sie interessant.

 „Ich bin eine Störung“, so beschreibt sich die bucklige Klara in Luise Rinsers Roman „Der schwarze Esel“ (Frankfurt 1974), „ich bin das wahre subversive Element, das nicht die Zustände, sondern die Menschen verändern will“. Eine „Störung“, eine unangepasste, provozierende, ja widersprüchliche Persönlichkeit war auch Luise Rinser selbst. Sie mischte sich zeit ihres Lebens ein und wurde dabei vielen zum glaubwürdigen Vorbild, anderen dagegen zum fragwürdigen Ärgernis.

Luise Rinsers literarisches und gesellschaftspolitisches Engagement war ebenso eigenwillig wie unberechenbar. Sie unterstützte Willy Brandts Ostpolitik, demonstrierte mit Heinrich Böll und Günter Grass gegen den NATO-Doppelbeschluss und galt gar als „Sympathisantin“ der RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Sie wurde 1984 Kandidatin der Grünen für die Bundespräsidentenwahl und verehrte gleichzeitig den nordkoreanischen Diktator Kim Il Sung als gütige „Vaterfigur“.

Sie wandte sich schon in ihrer frühen Zeit als Aushilfslehrerin an verschiedenen oberbayerischen Schulen von einer autoritären, „patriarchalischen“ Pädagogik ab, suchte aber immer wieder nach Führerpersönlichkeiten, von denen sie nicht zuletzt spirituelle Begleitung und Vorbildlichkeit erwartete. Sie kämpfte für mehr Frauenrechte, nahm Themen der feministischen Avantgarde vorweg, trat für die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen (in seiner damaligen Form) ein und scharte zugleich eine Leser-Gemeinde um sich, die ihr gerade wegen ihrer erbaulich-gefühligen frühen Werke die Treue hielt – Werke, die abgeklärte Literaturkritiker wiederum als altbacken und trivial verurteilten.

Öffentliche Selbstinszenierung

Mit Heinrich Böll verband Luise Rinser, wie sie in ihrem Vortrag „‚Christliche Literatur‘ heute“ (1984) betonte, die dezidierte Abkehr von der „dogmatisch-juridischen Bezogenheit der Amtskirche“, aber im Gegensatz zu Böll trat sie nicht aus der Kirche aus. Ihr eigener spiritueller Weg führte sie zu einer mystischen Religiosität, die, so Rinser im zweiten Teil ihrer Autobiographie „Saturn auf der Sonne“ (Frankfurt 1994), die „Grenzen“ des Katholischen „nach allen Seiten, auf allen Ebenen, zu anderen Religionen hin sprengte“. Dennoch verleugnete sie ihre Herkunft aus dem katholischen Provinzmilieu Oberbayerns nicht und „ehrte und liebte“ im Katholizismus alles, „was in den Bereich der religiösen Urphänomene gehört“.

Luise Rinser war sich ihrer Widersprüchlichkeit durchaus selbst bewusst, aber sie fand einen anderen Namen dafür. Dem Vorwurf des Vaters, von dem sie in ihrem Tagebuch „Kriegsspielzeug“ (Frankfurt 1978) berichtet, sie sei „wankelmütig, ja charakterlos“, setzt Luise Rinser entgegen: „‚Wandelmutig‘, nicht wankelmütig war und bin ich.“ Dieser Gegensatz prägte das öffentliche Bild von Luise Rinser zu ihren Lebzeiten und wirkt bis heute nach. Dabei beruht Rinsers Wirkung insgesamt weniger auf ihrem literarischen Werk als vielmehr auf ihrer Persönlichkeit und ihrem öffentlichen Auftritt, der streitbar und umstritten war und ist.

So würdigt Albert von Schirnding in der „Süddeutschen Zeitung“ Luise Rinser anlässlich ihres Todes am 17. März 2002 als „Prophetin einer radikalen franziskanischen Liebe“. Der Schriftsteller Michael Kleeberg sieht weit weniger hehre Motive im Leben der „Liebes-Prophetin“ und mokiert sich in einem „Spiegel“-Beitrag im Vorfeld zu Rinsers 100. Geburtstag am 30. April 2011 über ihre „merkwürdigen, aus Erotik und geistigem Austausch gespeisten Beziehungen zum Dalai Lama und zu katholischen Geistlichen“, vor allem zu dem Benediktinerabt Johannes M. Hoeck und dem Theologen Karl Rahner.

Dass Luise Rinser im letzteren Fall nicht davor zurückschreckte, ihre Briefe an Karl Rahner zu veröffentlichen, bewerteten viele Kritiker als indiskrete „Enthüllung“ und Taktlosigkeit. Andere dagegen waren „begeistert“, so Franz Alt in seinem Rückblick auf Rinsers Werk anlässlich ihres 85. Geburtstags, „auf diese außergewöhnliche Weise hinter dem großen Theologen den Menschen und Mann Rahner kennenlernen zu können“. Luise Rinser selbst kokettierte mit ihrer Rolle als verführerische, attraktive Frau, die es – siehe ihre Autobiographie „Saturn auf der Sonne“ – „vermochte“, einen Ordensmann „vom ‚Tugendpfad‘ zu locken“.

Solche Äußerungen sind Teil einer (öffentlichen) Selbstinszenierung, mit der Luise Rinser ihr Image als „brave“ Katholikin und Erbauungsschriftstellerin durchbrach. „Aufräumen mit meiner falschen Imago!“, so lautet eine „Prämisse“ in ihrem Tagebuch „Baustelle“ (Frankfurt 1970). „Ich bin anders!“, beharrt Luise Rinser. „Ich gehöre nicht zu jenen, die Moral mit Religion verwechseln und Religion-haben mit Nicht-denken“. Mit den zeit- und kirchenkritischen Kommentaren und Erlebnisberichten in „Baustelle“ gelang es Rinser tatsächlich, ihr Bild in der Öffentlichkeit zu korrigieren.

 „Ich kann dieses ‚etwas Besonderes sein‘ überhaupt nicht leiden“, so Luise Rinser in einem ihrer letzten Interviews, das sie Anne Jüssen gab. „Ich habe mich nie ernst genommen.“ Und dennoch – es war Luise Rinser durchaus ernst mit ihrem Bild und Ansehen in der Öffentlichkeit. Selbst auf ihr wohlgesonnene Kritiker wirkte dies nicht selten befremdlich. So spricht etwa der Literaturkritiker Thomas Anz in seinem Nachruf auf Rinser von ihrer „bewundernswerten“, weil bedingungslos „praktizierten Nächstenliebe“, zeigt sich aber zugleich irritiert angesichts der Tatsache, dass sie ihre „guten Taten“ in aller Öffentlichkeit ausstellte.

Vielleicht ist dieses Heischen um Beifall und Aufmerksamkeit mit ein Grund dafür, dass Luise Rinser, die lange Jahre bei vielen Lesern, Zeitzeugen und Literaturkritikern den Ruf einer mutigen Widerstandskämpferin im Dritten Reich genoss, ihre Biographie schönte, um ihre Verstrickung in das NS-Regime zu verschleiern. Auch an diesem „wunden Punkt“ in ihrer Biographie zeigt sich erneut Widersprüchliches. So veröffentlichte Luise Rinser in der „Blut und Boden“-Zeitschrift „Herdfeuer“ unter anderem die Erzählung „Agnes“, einen Bericht über ein BDM-Führerinnen-Lager sowie ein Lobgedicht auf Adolf Hitler. Sie war, folgt man Ernst Klees „Kulturlexikon zum Dritten Reich“ (Frankfurt 2007), Mitglied in der NS-Frauenschaft und im NS-Lehrerbund und arbeitete für den NS-Filmregisseur Karl Ritter an einem Drehbuch für den geplanten Film „Schule der Mädchen“ über den Reichsarbeitsdienst.

Dennoch weigerte sie sich hartnäckig, in die NSDAP einzutreten, und zeigte sich in ihrem ersten Buch „Die gläsernen Ringe“ (Berlin 1941), in dem sie das „scharfe klare Gesetz des Geistes“ als Leitmotiv für ihr Leben vorstellte, als hellsichtige Kritikerin der dumpfen Rohheit des NS-Regimes. Ihre kritische Haltung war mit ausschlaggebend dafür, dass sie nach einer feigen Denunziation im Herbst 1944 verhaftet wurde und mehrere Monate im Frauengefängnis Traunstein verbringen musste.

Stilisierung zum Opfer des NS-Terrors

Ihre Rolle als kompromisslose Nazigegnerin überhöhte Luise Rinser jedoch und stilisierte sich einseitig zum Opfer des NS-Terrors. So verwies sie in ihren autobiographischen Werken immer wieder auf das Publikationsverbot, das in der NS-Zeit gegen sie verhängt wurde. Aber Rinser verschwieg dabei, dass sie in der „Kölnischen Zeitung“ ungehindert weiter publizieren konnte. Ihrer beschönigenden „Dramaturgie“, die das Bild einer resoluten Antifaschistin beschwor, entspricht, so Michael Kleeberg im „Spiegel“, dass sie sich als Witwe eines in der Strafkompanie gefallenen Widerständlers und politisch Verfolgten präsentierte. In Wirklichkeit aber war Rinsers erster Ehemann Horst Günther Schnell kein Regimegegner und Luise Rinser nicht seine Witwe (Schnell fiel im Februar 1943), sondern eine geschiedene Frau, die lange vor der offiziellen Scheidung im Jahr 1942 wusste, dass ihre Ehe am Ende war.

Dass das von Luise Rinser selbst gezeichnete Bild einer Märtyrerin und Widerstandskämpferin im Dritten Reich in Frage zu stellen ist, bestätigt auch ihr Biograph José Sánchez de Murillo in einem Interview mit Karin Fischer. Zentrale Aussagen in Rinsers bekanntem „Gefängnistagebuch“ (München 1946) über ihre Haftzeit in Traunstein, so räumt Sánchez ein, halten der Überprüfung nicht stand. So behauptet Luise Rinser im Vorwort zur Neuauflage ihres „Gefängnistagebuchs“, dass „am Volksgerichtshof Berlin unter dem berüchtigten Freisler ein Prozess“ gegen sie lief und zwar wegen „Hochverrats“. Es drohte „auf Grund des vorliegenden Materials“, so Luise Rinser, die Todesstrafe. Auch hier dramatisiert Rinser ihre Opferrolle: Sie war nicht wegen Hochverrats angeklagt und der Prozess unter Roland Freisler fand nie statt. Luise Rinser war jedoch in Traunstein Verhältnissen ausgesetzt, die für sie – siehe das Vorwort zum „Gefängnistagebuch“ – zur „Wende“ ihres Lebens wurden. Diese Lebenswende zeigte sich vor allem in einer neu gewonnenen Offenheit für die soziale Not des Menschen, in dem „Aufbrechen einer ganz neuen realistischen Liebe zum Menschen, wie er ist, nicht wie er sein sollte“.

Im Rückblick auf diese „Wende“ betont Luise Rinser, dass man „um der Zukunft willen“ die „dunkle Vergangenheit wieder (ins) Bewusstsein heben“ müsse: „Man muss den Mut haben, seine Vergangenheit anzuschauen, auch wenn sie einem nicht gefällt.“ Rinsers Kritiker sprechen ihr diesen Mut ab. Richtig ist: Luise Rinser stand nicht zu ihrer eigenen „dunklen Vergangenheit“ in der NS-Zeit und sie war in dieser Hinsicht, wie José Sánchez de Murillo kritisch anmerkt, mit Sicherheit „kein Vorbild“. Aber war damit das ganze Leben der Schriftstellerin, die Heinrich Böll als „Gewissen Deutschlands“ würdigte, eine Lebenslüge? War sie tatsächlich, wie Kleeberg unterstellt, nur eine zwiespältige „Mythomanin“ mit Hang zum Narzissmus?

Dieses vorschnelle und pauschale Urteil blendet bemerkenswerte Eigentümlichkeiten des Lebens und der literarischen Leistung von Luise Rinser aus. Sie schielte mit ihrem Werk nicht auf die Aufnahme in den „Kanon“ von Literaturpäpsten. Sie war dafür bereit, sich nicht nur der Nöte und Anliegen der Leser anzunehmen, sondern auch ihre eigenen Selbst- und Glaubenszweifel mit Lesern zu teilen, denen ihre Werke zur Lebenshilfe wurden. „Ich schreibe immer persönliche Bekenntnisse“, so Rinser in ihrem Tagebuch „Im Dunkeln singen“ (Frankfurt 1985). „Alles, was ich schreibe, ist ‚sofferto‘ (erfahren, erlitten), wie man in Italien sagt.“ Die Leser nahmen ihr das ab, weil sie spürten, dass hier eine Frau lebte, was sie schrieb.

So wie der heilige Franziskus in ihrem Roman „Bruder Feuer“ (Stuttgart 1975) auftrat, so wollte Luise Rinser selbst sein: „mitten im Leben“ stehend, „voller Mitleid und Tatkraft“. Entsprechend ließ sie, wenn sie schrieb – siehe ihre Erzählung „Septembertag“ (Frankfurt 1964) „‚die Welt‘ nicht draußen vor der Tür, um drinnen allein, auf spirituelle Weise, glücklich zu sein“. Sie nahm vielmehr „entschlossen die Unruhe der Welt mit hinein“. Rinser blieb sich dabei nicht gleich, sie wagte immer wieder Neuanfänge, Neuaufbrüche und war so bis zuletzt wandlungsfähig und „wandelmutig“.

Luise Rinser mag ihre Rolle als Märtyrerin und Widerständlerin im Dritten Reich „dramatisiert“ haben, aber sie wusste auch um ihre eigene Verführbarkeit und Schwäche. Dass sie an einem NS-Propagandafilm mitgearbeitet und dafür Honorar genommen hatte, sah sie, wie sie im ersten Teil ihrer Autobiographie „Den Wolf umarmen“ (Frankfurt 1981) bekannte, als „Verrat“ an sich selbst. Ihre Gefängniszeit verstand sie bemerkenswerter Weise auch „als Buße für diesen Verrat“.

Luise Rinser mag auf andere selbstbezogen und geltungssüchtig gewirkt haben. Aber diese vermeintlich so starke, selbstbewusste öffentliche Frau litt seit ihrer Kindheit an Selbstzweifeln, Depressionen, Ängsten und durchlebte Phasen tiefer Erschöpfung und innerer Leere – bis hin zu Selbstmordgedanken. Sie war als Kind einem streng katholischen Elternhaus ausgesetzt, in dem sie nicht ja zu sich selbst sagen durfte. Die Eltern, denen man in ihrer eigenen Jugend Zuwendung und Anerkennung vorenthalten hatte, bogen sich ihr einziges Kind zurecht und nahmen in Kauf, dass es dabei fast zerbrach. Luise Rinser litt unter der fehlenden Wärme der Mutter, deren „Gefühl in ihrem Gehirn“ saß, ebenso wie unter der Strenge ihres schwermütigen Vaters.

In Luise Rinsers Kindheitsgeschichte einer Auflehnung gegen lieblose Autorität, die sich in egoistischer Strenge und Repression erschöpft, konnten sich viele, vor allem jugendliche Leser wiederfinden, die die Fesseln elterlicher Autorität aufsprengen und mit ihrer Kindheit abrechnen wollten. Doch Rinsers Auto-biographie ist letztlich weder eine gnadenlose Abrechnung noch ein verbitterter Rückblick auf eine düstere Kindheit. Die gefühllose, berechnende Mutter, die alles auf dem Weg der Vernunft angeht, ist eine Frau der praktischen Tat mit „Zivilcourage“. Der „saturnische“ Vater, der seine körperliche Verkrüppelung nicht annehmen kann, ist ein hingebungsvoller Musiker, der zudem „auf seine stille Art“ außerordentlichen Mut zeigt und sich für einen von der NS verfolgten Priester einsetzt.

Dass Luise Rinser sich kurz vor seinem Tod mit dem Vater versöhnt, dass sie diesen Wolf am Ende doch umarmen kann, entspricht einem Grundmuster ihres Lebens und Schreibens. Dieses Grundmuster prägt sich früh durch ihre Aufenthalte im Kloster Wessobrunn aus und bestimmt bereits ihr erstes Werk „Die gläsernen Ringe“. Wessobrunn, so Rinser im Vorwort zu ihrer Erzählung „Jan Lobel aus Warschau“ (Kassel 1948), „verdanke ich die frühe Aufgeschlossenheit für das Gegen- und Zusammenspiel des scheinbar Widersprüchlichen: von Leidenschaft und kühler geistiger Zucht, von Magie und Verstand, von Rebellion und Gehorsam, kurzum von dem, was man Natur, und dem, was man Geist nennt“.

Luise Rinser thematisiert das „Widersprüchliche“ nicht um seiner selbst willen. Sie hält die Spannung zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Sinnlosigkeit und Sinn aus, sie durchlebt sie selbst in dunklen Zeiten der Verzweiflung und Gottverlassenheit. Aber auch in der tiefsten Nacht der Gottesferne vertraut Luise Rinser letztlich darauf, dass der Mensch, wie sie in ihrer Erzählung „Septembertag“ schreibt, einer „verlorenen, sich mit sich selbst quälenden Welt“ nicht einfach sinnlos ausgeliefert ist.

Dieses Vertrauen erwächst aus dem Glauben an eine „Harmonie der Welt“, die, so die Autobiographie „Den Wolf umarmen“, den „Sinn jedes einzelnen Lebens“ begründet. Er erschließt sich in einer mystischen „Lehre“, die für Luise Rinser unmittelbar erfahrbar ist: in einer „Epiphanie“, einer Sinn- und Einheitserfahrung, „die den Bogen (spannt) zwischen den Widersprüchen, die sich als fruchtbare, notwendige Polaritäten erweisen“. „Den Wolf umarmen“ bedeutet von hier aus, das Leben in all seinen Polaritäten anzunehmen – auch in seinen Äußerungen des Bösen, Dunklen und Abgründigen.

Literatur als Hilfe zum Leben

Die Spannung zwischen Polaritäten bestimmt den Lebensweg Luise Rinsers und den vieler ihrer literarischen Figuren. In dem Roman „Die vollkommene Freude“ (Frankfurt 1962) verschenkt die Studentin Marie-Catherine ihre Liebe an einen Mann, der durch Zynismus, Dekadenz und Unduldsamkeit sein eigenes Leben und das seiner Mitmenschen verdunkelt. Marie-Catherines Versuch, mit ihrer bedingungslosen Hingabe diesen Mann von seinem Hass gegen sich selbst zu befreien, scheint zu scheitern. Doch am Ende wird offenbar, dass Marie-Catherine mit ihrer schenkenden Liebe alle im Innersten berührt und verwandelt hat. In dem Maße, in dem sie auf ihr privates Glück verzichtet und ihr Schicksal annimmt, wird ihre Freude vollkommen.

Die Spannung zwischen Selbstentäußerung und Selbstbestimmung prägt auch das Leben von Luise Rinsers wohl bekanntester literarischer Heldin, in der viele Leser bezeichnenderweise die Autorin wiedererkannten. So präsentiert sie in ihrem ersten „Nina“-Roman „Mitte des Lebens“ (Frankfurt 1950) eine unkonventionelle, rebellische Heldin, die alle Vorgaben der Frauenemanzipation einzulösen scheint, und unterstellt ebendiese selbstbewusste, emanzipierte Heldin im Fortsetzungsroman „Abenteuer der Tugend“ (Frankfurt 1957) dem objektiven (religiösen) Gesetz der selbstlosen Entsagung und des Gehorsams. Die Geschichte dieser eigenwilligen, freiheitsliebenden Frau, die sich der leidenschaftlichen Liebe eines Arztes entzieht, mit ihrer ersten Ehe scheitert, sich für politisch Verfolgte im Dritten Reich einsetzt, inhaftiert wird und gegen vorherrschende bürgerliche Konventionen zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit und anerkannten Schriftstellerin reift – diese wechselvolle Lebensgeschichte ist zugleich die Geschichte einer Selbstfindung, mit der sich viele Leser identifizieren konnten.

Dass Luise Rinser ihre Nina-Heldin in „Abenteuer der Tugend“ einer „Läuterung“ unterwarf, in der Nina gerade durch ihre selbstlose Hingabe an einen begnadeten, aber süchtigen Opernsänger zu einer erfüllten „Ordnung“ des Lebens findet, trug maßgeblich zu ihrem Ruf als katholische Erbauungs- und Frauenschriftstellerin bei. Was Rinser tatsächlich anstrebte, war jedoch weniger Erbauung als vielmehr konkrete Lebenshilfe.

In Zeiten, in denen Medien wie Fernsehen und Internet Lebenshilfe-Funktionen übernehmen und zu (quasireligiösen) „Sinn-Agenturen“ avanciert sind, lohnt ein neuer Blick auf -Luise Rinsers Konzept von Literatur als Lebenshilfe. Es geht ihr nicht um „passiven Kunst-Genuss“, wie sie in ihrem Tagebuch „Baustelle“ betont. Rinser will mit ihren Werken etwas in Gang setzen und den Leser dazu anleiten und inspirieren, selbst aktiv zu werden und „mitfühlend“ zu handeln. Sie will also gerade kein „Literat“ sein, „der sich mit Wörtern gegen das Elend der Menschheit und des Menschseins abschirmt“. Ihr Vorbild für dieses Literaturverständnis ist der „Anti-Literat“ Jesus, der, so das Tagebuch „Baustelle“, „nur erzählt hat, um etwas zu bewirken“ und der „nicht imponieren, sondern erkennen und leben helfen wollte“.

Literatur, die in diesem Sinne Hilfe zum Leben sein will, leistet etwas, das heute in den massenmedial vermittelten Lebenshilfe-Angeboten gleichsam auf der Strecke bleibt. Sie zielt auf praktisch-soziales Handeln, das Luise Rinser auf eine – siehe „Den Wolf umarmen“ – „strenge Ethik“ bezieht: die „Mitverantwortung“ des Einzelnen „für alles, was geschieht auf dieser Erde“. Diese „Mitverantwortung“ ist keine Sollseinsforderung, sie entspricht vielmehr Jesu „Gebot der Liebe“. Liebe aber, so Luise Rinser in ihrem letzten Tagebuch „Kunst des Schattenspiels“ (Frankfurt 1997), „ist nicht Selbst-Genuss“, sie ist nicht „ichbezogen“, sondern vielmehr „Hingabe an Größeres“. Diese gerade „nicht an Äußerlichkeiten gebundene“ Liebe, so ist Rinser überzeugt, „gibt dem Leben seinen frag-losen Sinn“ – einen „Sinn“, den man nicht suchen, sondern „leben“ muss.

Die heute vor allem massenmedial transportierte Lebenshilfe, der man dieser Tage nicht selten eine religiöse Dignität zuspricht, macht Sinnsuchern lediglich „ich-bezogene“ Angebote, die den Sinn gerade nicht leben helfen. Diese bedürfnisorientierte Nachfrage nach Religion verurteilt Luise Rinser als eine „Verzweckung“ des Religiösen. „Ich glaube nicht“, so lässt sie ihre Heldin Nina in „Abenteuer der Tugend“ verkünden, „dass man Religion benutzen darf wie eine neue Medizin oder eine aparte Heilmethode.“ Wer sich Religion für seine Bedürfnisse „zurechtbiegt“, verliert, „was eben ihr Wesen ausmacht“: „Religion muss ganz und gar gelebt werden, nicht nur mit allen ihren ethischen Forderungen, sondern im absoluten Glauben an ihren Wahrheitskern.“

Liebe, die den Menschen verwandelt

Das „Wozu“ des Lebens, das, was Leben eigentlich ist, erfährt man nur, wenn man es auf etwas bezieht, das außerhalb des Ichs und seiner Bedürfnisse liegt. Das Ich kommt zu sich selbst, es erfährt Sinn, indem es liebt. „Der Sinn“, so Luise Rinser in „Kunst des Schattenspiels“, „ist Liebe“ – Liebe, nicht „Verliebtheit“, aber auch nicht „Leidenschaft“. „Liebe“ ist für Rinser „etwas anderes, sie ist einfach eine Aufgabe, die täglich neu gestellt wird“. „Eine Aufgabe übernehmen“, um sie mit Hingabe zu erfüllen, bedeutet, so ist Marie-Catherine in „Die vollkommene Freude“ überzeugt, „genau so viel wie ‚lieben‘“. Liebe ist letztlich „das allein: den anderen lieben, weil er Gottes ist, weil Gott in ihm ist“.

Dieser Liebe kommt eine lebensumstürzende Macht zu. Sie ergreift, sie verwandelt den Menschen. „Das ist das Wunder“, so der Franziskanerpater in „Die vollkommene Freude“, „um dessentwillen es sich lohnt zu leben“.

In ihrem aus Begegnungen mit dem Dalai Lama entstandenen Buch „Mitgefühl als Weg zum Frieden“ (München 1995) traut Luise Rinser den modernen Massenmedien gerade diese Fähigkeit zur Veränderung nicht zu. Die Massenmedien, so Rinser, „berichten täglich von den Leiden der Menschen auf unserer Erde“. Aber mit ihrer zumeist sensationalistischen Berichterstattung, die das „Negative“ und „Anormale“ in den Mittelpunkt stellt, „erwecken sie höchstens flüchtiges Mitleid für die Opfer“, nicht aber „Mitgefühl“ und erst recht nicht ein „Bewusstsein der Mit-Verantwortung“. Die Lebenshilfe-Leistung der Massenmedien ist im Wesentlichen eine Entlastungsleistung, in der der Rezipient zwar emotional Anteil am Schicksal anderer nimmt, jedoch letztlich erleichtert ist, dass er dieses Schicksal eben nicht teilen muss. Die Medien fordern Engagement für Leidende appellativ ein, aber es ist ein (zumeist finanzielles) Engagement, in dem man etwas für die Betroffenen tut und nichts mit ihnen. Das massenmedial beförderte „flüchtige Mitleid“ und Engagement, so Luise Rinsers Fazit, ist damit „weit entfernt vom wahren Mitgefühl, das fremden Schmerz so fühlt, als sei es der eigene“.

Die empathische Anteilnahme an der Not des Mitmenschen hat nichts mit jenem billigen, gefühligen Mitleidspathos zu tun, das einem lediglich ein schlechtes Gewissen macht. „Wahres Mitgefühl“ entspricht vielmehr, so Rinser in „Den Wolf umarmen“, einem „hochspirituellen Sozialismus“, der sich durch „tätige Sorge für den Menschen“ auszeichnet. Sozialismus in diesem Sinn bedeutet: „so lange hungern, bis kein Kind der Welt mehr verhungert, so lange auf Entbehrliches verzichten, bis alle das Unentbehrliche haben, so lange ungetröstet sein, bis alle getröstet sind“.

Für Luise Rinser hat sich ein solcher Sozialismus zu bewähren in einer veränderungsbedürftigen Welt, in der sich nur dann etwas ändert, wenn jeder Einzelne – aus seiner Verantwortung für das Weltganze heraus – konkret, liebend und „tätig“ am Leid des Nächsten Anteil nimmt.

Das „gute Handeln“, das „Sei gut“, so Luise Rinser in einem Interview mit Selma Polat, ist keine moraline Botschaft. „Auf das Beispiel, das Vorbild kommt es an. Die ausstrahlende Liebe, die heilbringend ist, ist entscheidend.“ Sie ist, wie Karl Rahner in seinem Aufsatz „Von der Größe und dem Elend des christlichen Schriftstellers“ (1971) betont, auch entscheidend für das Werk Luise Rinsers. Es wolle dem Menschen „helfen heil zu werden“. Dies geschieht nach Karl Rahners Auffassung nicht aus einer „erbaulichen Absicht“ heraus. Das, was in Rinsers Werk „absichtslos“ „wirkt“, ist vor allem eine literarisierte Vorbilderfahrung, in der aufleuchte, „wie der Mensch sein müsse und könne, der heil ist“.

 „Das ‚Nichts‘“, so Luise Rinser in „Kunst des Schattenspiels“, „wird ‚Alles‘, indem man es liebt“. Und doch bleibt der „unerfüllbare Anspruch“: „Nie habe ich (…) genug Liebe.“ Diese Erfahrung der eigenen Unvollkommenheit, der „unerfüllbare Anspruch“, ist letztlich das Wissen darum, dass der Mensch aus eigener Kraft nicht alles „heil machen“ kann. „Schwer ist mir’s geworden zu lernen“, so schreibt sie in ihrer Erzählung „Septembertag“, „dass auch ich nicht erlösen, nicht ordnen kann, was hier auf Erden nicht erlöst und geordnet werden soll, und dass vieles bereits geordnet ist, was ich für Unordnung halte“. Zum Vertrauen darauf, dass es eine solche „Ordnung“ gibt, dass der Welt ein Sinn geschenkt ist, gehört auch das Warten auf eine endgültige „Erfüllung“ der Zeit (Mk 1, 15). „So bleibe ich denn“, sagt Rinsers Mirjam am Schluss des gleichnamigen Romans (Frankfurt 1983), „und bin nichts mehr als das Warten auf das Friedensreich.“ Wir könnten tätig und liebend „Mitarbeiter Gottes“ an seinem Reich sein (2 Kor 6, 1), aber wir können es nicht selbst vollenden. „Wir alle“, so Luise Rinser in „Kunst des Schattenspiels“, „‚liegen in Wehen‘ (Röm 8, 22) und sind einander gegeben als Gefährten beim Warten.“

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