Kardinal Reinhard Marx zur Lage der KircheKrise und Wende

Im katholischen Deutschland wird derzeit auf verschiedenen Ebenen über den künftigen Weg der Kirche diskutiert. Demnächst findet in Mannheim das erste bundesweite Treffen im innerkirchlichen Gesprächsprozess statt. Als Beitrag zur Diskussion veröffentlichen wir die folgenden Anmerkungen von Kardinal Reinhard Marx zur Situation der katholischen Kirche in Deutschland.

Wie geht es mit der katholischen Kirche weiter? Diese Frage beschäftigt viele, innerhalb und außerhalb der Kirche. Und dabei geht es um mehr als eine Institution, es geht um die Chancen und Möglichkeiten des christlichen Glaubens in einer offenen und pluralen Gesellschaft. In diesem Sinn hat die Frage nach dem Weg der Katholischen Kirche auch eine ökumenische Dimension.

Allerdings ergibt sich sehr schnell ein Problem, das zu einer Quelle vielfältiger Missverständnisse führt. Selbstverständnis der Kirche und Außenwahrnehmung klaffen auseinander, mehr noch: über das, was Kirche ist, was ihre zentrale Aufgabe und Sendung zu sein hat, gibt es auch unter Christen verschiedene Meinungen oder doch unterschiedliche Akzentsetzungen. So bleiben Diskussionen über die Reform der Kirche und die Erneuerung des Lebens der Christen sehr oft an der Oberfläche, weil Kirche nur gesehen wird als eine menschliche Gemeinschaft, die sich den Zeitumständen anzupassen hat, und die Erwartung an die Verantwortlichen ist, Kirche zu verändern als wäre sie ein Verein, dessen Satzung man in der Vereinsversammlung ändern kann. Die Diskussionen in der Öffentlichkeit kreisen dann fast nur um Themen wie Zölibat und Sexualmoral, als wäre bei Veränderungen in diesen Punkten die Kirche endlich auf dem Weg der Erneuerung. Die Kirche ist aber beides: menschliche Gemeinschaft und Leib Christi, Göttliches und Menschliches kommen zusammen in einer „komplexen Wirklichkeit“, so das Zweite Vatikanische Konzil (vgl. LG 8). Das muss als Voraussetzung und Rahmen jedes Gespräches über die Zukunft der Kirche im Blick bleiben.

Die Glaubwürdigkeit der Kirche hat Schaden genommen

Dies vorausgeschickt lege ich zehn persönliche Anmerkungen vor, die vielleicht auch für den Gesprächsweg der Kirche in unserem Land Hinweise sein können.

1. Seit Jahren ist das Thema „Krise der Kirche“ ein gängiger Topos. Eigentlich wird seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, besonders auch (vielleicht sogar ausschließlich) im westeuropäischen Kontext von Krisenphänomenen im Bereich der Kirche gesprochen. Das soziologisch fassbare veränderte Verhalten vieler Menschen im Blick auf die institutionelle Religion ist nicht zu übersehen. Dennoch hat sich die alte Säkularisierungsthese nicht bewahrheitet. Sie besagte, dass Gesellschaften im Zuge ihrer Modernisierung „religionsloser“ werden, dass sich in der Sonne der Aufklärung die Religion auflöst wie der Schnee. Diese Annahme hat sich nicht erfüllt: Religion bleibt präsent, wenn sich auch die Erwartungen an Form und Inhalt wandeln. Dennoch und vielleicht gerade deshalb bleibt die Erfahrung und Erkenntnis, dass insbesondere die katholische Kirche in einer Krise ist, obwohl die Erwartungen der Menschen im Bereich der Religion nicht verschwunden sind. Vielleicht zeigte sich das beim Tod Papst Johannes Pauls II. in der starken, weltweiten Resonanz, die einige vorschnell veranlasste, vom Ende der Krise zu sprechen.

In diese Situation hinein hat das Jahr 2010 mit der Diskussion über den sexuellen Missbrauch in der Kirche einen tiefen Einschnitt gebracht. Es war wirklich ein „annus horribilis“, das die Kirche erschüttert hat, wiederum besonders in der westlichen Welt. Auch wenn deutlich geworden ist, dass die Kirche keineswegs der Hauptschauplatz sexueller Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen gewesen ist, ist doch die Erkenntnis, dass solche Taten möglich gewesen sind – in einem Ausmaß, das die Gläubigen, auch die Priester und Bischöfe nicht für möglich gehalten haben – zutiefst verstörend. Papst Benedikt XVI. hat in seinem Interviewbuch und in seinen Ansprachen diese Erfahrung deutlich ausgesprochen. Die Aufarbeitung und die Erforschung, wie all das hat geschehen können, sowie der Aufbau einer glaubwürdigen und wirksamen Prävention wird Aufgabe der kommenden Jahre sein. Diese konkrete Krise hat aber die tiefere Krise noch einmal intensiv sichtbar gemacht, nämlich die große Verunsicherung vieler Christen, auch der Priester und Hauptamtlichen, im Blick auf Lehre und Praxis der Kirche. Im tiefen Sinne des Wortes hat die Glaubwürdigkeit der Kirche Schaden genommen. Wir müssen daran arbeiten, diesen Schaden zu heilen.

Schwarz-Weiß-Schablonen helfen nicht weiter

2. Ein erstes und wichtiges Ziel ist deshalb, dafür zu sorgen, dass Kirche wieder als positiver und sicherer Ort für Kinder und Jugendliche wahrgenommen wird. Erfreulich ist, dass viele Eltern und Verantwortliche der Versuchung widerstehen, die Priester, Ordensleute und Mitarbeiter der Kirche unter Generalverdacht zu stellen. Die Anmeldezahlen bei kirchlichen Schulen, das Engagement in der Jugendarbeit, die große Zahl von Ministranten belegt das. Aber unterschätzen wir nicht die unterschwellige Gefühlslage bei vielen Menschen! Eine konsequente Arbeit im Bereich der Prävention sowie die vertiefte pädagogische und religiöse Qualifizierung der Mitarbeiter sind von großer Bedeutung. Möglicherweise wird in der „Aufarbeitung“ der Vergangenheit dann auch deutlich, dass sich im Leben und Denken der Kirche – manchmal dem Trend der Zeit folgend – gewisse „Disziplinlosigkeiten“ ergeben haben, die überwunden werden müssen. Dabei geht es nicht um größere Strenge, sondern um eine pädagogische Qualität, die eine ganzheitliche und katholisch geprägte Bildung und Erziehung im Blick hat. Es geht deshalb wirklich um eine „Renaissance“ der katholischen Pädagogik. Bildung im umfassenden Sinn war immer ein besonderes Kennzeichen des Wirkens der Kirche, die wieder neu den Ruf ausgezeichneter Bildung vom Kindergarten bis zur Universität festigen muss. Bildung ist ein entscheidendes Zukunftsthema in einer offenen Gesellschaft. Hier müssten vom christlichen Menschenbild aus stärkere Impulse der Profilierung und der Innovation erkennbar werden. Allzu oft ist man in den vergangenen Jahrzehnten einfach dem gefolgt, was gerade modern erschien und hat sich auf dem Ruhm vergangener Jahre ausgeruht.

3. Eine im guten Sinne katholische Profilierung des Lebens und Denkens der Kirche bedeutet natürlich nicht, den Weg der einfachen Antworten zu gehen. Schwarz-Weiß-Schablonen helfen nicht weiter und die Versuchung, die Probleme in fertigen Schubladen abzulegen und populistisch zu vereinfachen, führt in die falsche Richtung. Das gilt übrigens nicht nur innerhalb der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft. Es ist nicht erstaunlich, dass in einer offenen und differenzierten Gesellschaft die Suche nach „Reduzierung der Komplexität“, nach Vereinfachung und Klarheit zu Abgrenzungsstrategien führt, die einen gewissen Mobilisierungsgrad erreichen können, aber letztlich den großen geistigen und gesellschaftlichen Herausforderungen aus dem Weg gehen, wie manche Töne in der Debatte um Integration und Zuwanderung zeigen. So gibt es auch einen „politischen Populismus“, der offensichtlich in manchen europäischen Ländern wachsenden Zuspruch erfährt, auch unter Christen.

Für die Kirche ist vielmehr der Weg einer geistlichen und auch lehrmäßigen „Verdeutlichung“ der katholischen Glaubenswahrheiten und der katholischen Lebensweise notwendig. Wer sich in einer offenen, differenzierten und ständig diskutierenden Gesellschaft mit seinen Positionen behaupten, ja, sogar andere überzeugen will, muss sich hineinbegeben in die Debatte und sich mit den anderen Positionen intensiv vertraut machen. Auch da geht es um einen Wettbewerb, den Wettbewerb der Ideen. Unerreichtes Vorbild ist für mich in dieser Hinsicht G. K. Chesterton, etwa in seinen Büchern „Ketzer“ und „Orthodoxie“. Bei ihm sieht man vor allem: Aus einer katholischen Gewissheit zu argumentieren muss nicht kleinkariert, verbissen und vor allem nicht humorlos daher kommen. Wie gut wäre es, auch heute solche fröhliche Apologeten zu haben.

4. Über die Apologetik hinaus geht es aber um mehr: um Neuevangelisierung. Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. haben diese Herausforderung zur Neuevangelisierung besonders im Blick auf Europa und die westliche Zivilisation insgesamt gesehen. Ein neuer Rat für die Neuevangelisierung wurde in Rom geschaffen, besonders für die einstmals durchgängig christlich geprägten Länder, die einem tief greifenden Prozess der Wandlung ihres Verhältnisses besonders zum Christentum unterworfen sind. Eine Kirche, die nicht evangelisiert, die sich nicht engagiert einsetzt für eine Neugewinnung von Menschen und eine Erneuerung derer, die in ihrem Glauben müde geworden sind, hätte ihr eigenes Wesen und ihre Sendung verraten. Sie hätte das Zutrauen zum eigenen Glauben verloren. Und deshalb ist die Diskussion um eine Neuevangelisierung nicht nur eine Debatte über Methoden und Medienpräsenz, sondern zutiefst verbunden mit einer Erneuerung des Glaubens in der Kirche selbst.

Zur Mission gehört aber auch, sich einzulassen auf die jeweilige Kultur und Zeit, denn: Was nicht angenommen wird, kann nicht gerettet werden! Natürlich kann es nicht um einfache Anpassung an Zeitströmungen gehen, aber die Kirche ist eben kein „Anachronismus“, der neben der Zeit herläuft. Insofern ist sie immer lehrende und lernende Kirche. Nur dann kann sie in Kommunikation treten mit Menschen aller Schichten, Altersstufen und „Milieus“. Das bedeutet: Die Verkündigung des Glaubens muss auf Augenhöhe mit der gegenwärtigen Kultur und Zeit erfolgen. Benedikt XVI. hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der Glaube nicht reduziert werden darf auf Gefühle und persönliche Ergriffenheit. Er braucht die Reflexion und die allen Menschen zugängliche Vernunft, um sowohl im persönlichen Leben Bestand zu haben, wie auch in einer modernen Gesellschaft als ernst zu nehmende Alternative öffentlich präsent zu sein. Wie in der gesamten Missionsgeschichte der Kirche gilt es deshalb, immer neue „Anschlüsse“ zu ermöglichen und zu suchen. Der wichtigste „Ort“ der Evangelisierung und auch der Neuevangelisierung ist und bleibt die Familie. Wenn in der Lebenspraxis der Familie erlebbar wird, dass der Glaube die Lebensqualität vertieft und stärkt, dann bleibt das für viele Menschen ein Lebensschatz, eine Lebensquelle.

5. Eine wirklich evangelisierende Kirche in unserem Land hat eine wichtige Voraussetzung. Sie muss sich gemeinschaftlich und individuell neu vergewissern, was katholischer Glaube und katholisches Leben ist. Natürlich kann man auf den Katechismus der katholischen Kirche verweisen, aber damit ist es nicht getan. Es geht darum, das Leben möglichst vieler katholischer Christen wieder im Glauben so zu verankern, dass dieser Glaube für sie nicht zunächst ein Problem, sondern eine Quelle der Freude, ja des Glücks ist.

Vom Zentrum her aufs Ganze schauen

In einen solchen Kontext gehört das Bemühen um Gesprächsforen, geistliche Prozesse, Pilgerwege, auch synodale Foren und Dialogbemühungen, wie sie in den letzten Jahren immer wieder stattgefunden haben. Diese Gespräche und Dialoge dürfen aber nie zu einer Kopie politischer Veranstaltungen werden, wo die eine Seite von der anderen etwas fordert und Mehrheiten sich siegreich durchsetzen. Wenn die Kirche von Synoden spricht, geht es immer um den Gedanken der Communio, das heißt der Einmütigkeit, nicht nur der gerade Versammelten, sondern der Communio mit der Kirche aller Zeiten. Denn die ganze Glaubensgeschichte der Kirche gehört mit in das Bemühen der Selbstvergewisserung hinein, und die Einheit mit dem Bischof und dem Papst zur Substanz des katholischen Glaubens. Aber der Weg der Verständigung, des Hörens, des Lernens, des Austauschens ist nicht einseitig von „oben“ nach „unten“ zu gestalten, sondern ein geistlicher Kommunikationsprozess. Wir müssen also lernen, in der Kirche offen und geistlich auch über den Glauben miteinander zu sprechen. Da gibt es nicht nur auf der einen Seite Hörende, auf der anderen Seite Lehrende!

Und es wäre wichtig, vom Zentrum her aufs Ganze zu schauen. Sowohl für die Gläubigen, wie auch für viele Beobachter der Kirche wird zu wenig sichtbar, was eigentlich die Mitte des Glaubens ist. Für manche erscheint das katholische Leben wie eine Ansammlung von Merkwürdigkeiten und abwegigen Ideen. Es gibt auch ein falsches Verständnis des Begriffs der Hierarchie der Wahrheiten. Manche Elemente der Glaubenslehre dürfen nicht einfach zur Seite geschoben werden. Es geht vielmehr um das richtige Verständnis, von der Mitte, vom Zentrum her auf das Ganze zu schauen. Wer an der Peripherie stehen bleibt, stößt eben nicht vor zum „Glanz der Wahrheit“. Wenn Kondome und Zölibat die Schwerpunkte der Diskussion ausmachen, kann etwas nicht richtig gelaufen sein in der geistlichen Kommunikation.

Gott ist nicht unser Eigentum

6. Im Zentrum allen Lebens der Kirche steht der Glaube an den Dreifaltigen Gott, der durch die Kirche öffentlich bezeugt wird. Den Weg zu finden in die Gemeinschaft mit diesem unbegreiflich liebenden Gott, der sich offenbart und schenkt als Vater, Sohn und Heiliger Geist, ist das größte Abenteuer des menschlichen Geistes und Lebens. Die zentrale Aufgabe der Kirche ist, Wege für alle Menschen aufzuschließen und zu eröffnen, Gott zu finden beziehungsweise noch besser, sich von ihm finden zu lassen. Die sakramentale Struktur, die gerade die katholische Kirche so sehr und zu Recht betont, unterstreicht die absolute Priorität Gottes. Dieser Gott ist nicht unser Eigentum, denn auch als Kirche stehen wir anbetend und schweigend und staunend vor ihm. Aber wir können zeigen, dass der Unbegreifliche begreifbar geworden ist in Jesus Christus. Deswegen ist der Kern des katholischen Lebens die Feier der Heiligen Messe. In ihr wird am deutlichsten, was Kirche ist, in welcher Gestalt und Ordnung sie lebt und wie der geheimnisvolle Gott an uns handelt in der Gemeinschaft des Volkes Gottes. Deswegen hat Papst Benedikt XVI. Recht, wenn er schon als Professor und Kardinal gesagt hat, dass die Zukunft der Kirche, ihr Geschick, sich an der Liturgie entscheidet. Einfacher: Wie wir die Messe feiern, macht deutlich, was und wie wir glauben. Darin zeigt sich der Kern des katholischen Glaubens und Lebens. Deswegen bleibt auch wichtig, am „kultischen Charakter“ der Heiligen Messe festzuhalten, ja, diesen Charakter neu zu entfalten. Denn nur wenn der Himmel wirklich die Erde berührt, ist das Wesen des Christentums verstanden und erfahren. In der Kraft des Heiligen Geistes gehen wir durch die Tür Christus hinein in die unendliche Liebe, die Jesus seinen Vater genannt hat, und zwar wirklich hier und jetzt!

7. Die Feier der Heiligen Eucharistie ist immer auch eine „missa mundi“, eine „statio orbis“, wie es wohl zum ersten Mal auf dem Eucharistischen Weltkongress 1960 in München formuliert wurde. Nur die katholische Kirche hat sich in dieser Intensität auf den Weg gemacht, Weltkirche zu werden, Einheit und Vielfalt miteinander zu verbinden, in der einen Feier der Eucharistie überall auf der Welt Communio, Gemeinschaft untereinander und mit dem Dreifaltigen Gott zu bezeugen. Das ist in gewisser Weise ein „soziologisches Abenteuer“. Denn der Professor in Oxford und die Slumbewohnerin in Rio, die Postbeamtin in München und der indische Computerspezialist haben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun, aber die Kirche bekennt und verkündet: Von Gott her sind wir durch den Heiligen Geist in Christus miteinander verbunden und bilden so eine neue Wirklichkeit! Immer deutlicher wird, was das Zweite Vatikanische Konzil meint, wenn es die Kirche bezeichnet als Sakrament der Einheit zwischen Gott und den Menschen und der Menschen untereinander. Die katholische Kirche hat die große Chance, in einer global immer intensiver zusammenwachsenden Welt dieses wirksame Zeichen der Einheit zu sein. Aber diese sakramentale Wirklichkeit ist Gabe und Aufgabe zugleich. Sie ist von Gott her geschenkt, aber die Kirche muss sich auch organisatorisch und strukturell neu auf die Herausforderung einlassen. Da ist noch viel zu tun. Das Petrusamt hat hier eine besondere Bedeutung und den Auftrag, die Vielfalt in Einheit zusammenzuführen, aber auch dem Vielfältigen in einer gewissen „Subsidiarität“ Raum zu lassen. Mit geistlichem Mut und mit Offenheit für das, was uns der Herr an Wegen zeigen wird, kann gerade die katholische Kirche für die Zukunft der ganzen Menschheit ein wirksames, im theologischen Sinne sakramentales Zeichen dafür sein, dass die Einheit der Menschheitsfamilie nicht nur eine Idee ist, sondern wirklich erfahrbar werden kann, dass es die „eine Menschheitsfamilie“ wirklich gibt.

8. Was im Bereich der globalen Welt als Aufgabe der Kirche vor Augen steht, muss auch in unserem Land, also in einer offenen, pluralen Gesellschaft gelten: Einheit in der Vielfalt im Leben der Kirche. Es geht darum, die sakramentale Struktur sichtbar und erfahrbar zu machen durch „geistliche Netzwerke“, zu denen lebendige Pfarreien, aber auch andere Orte des spirituellen Lebens wie geistliche Gemeinschaften, Exerzitienhäuser, Klöster gehören, die differenzierte Wege ermöglichen, die heute in einer modernen Gesellschaft zu gehen sind. Immer muss diese Netzwerkstruktur verbunden sein mit der bischöflichen Struktur und mit dem Nachfolger des heiligen Petrus. Es geht darum, „geistliche Biotope“ aufzubauen, nicht Nischen zu schaffen für das Überleben, sondern Orte, die zur Quelle werden für neues Leben. Deshalb muss die Diskussion um Kirchenschließungen möglichst schnell beendet werden. Es geht nicht darum, Kirchen zu schließen, sondern zu öffnen. Der Satz von Kardinal Jean-Marie Lustiger müsste in all seiner Provokation in den Köpfen und Herzen sein: Das Christentum in Europa steckt noch in den Kinderschuhen, seine große Zeit liegt noch vor uns! Eine Kirche, die der Überzeugung wäre, ihre große Zeit liege hinter ihr und sie habe jetzt nur noch das Schlimmste zu verhüten und Restbestände der großen Vergangenheit zu bewahren, hätte geistig kapituliert und wäre damit auch als Kultur prägende Kraft am Ende. Im Gegenteil, die Kraft muss neu entwickelt werden, auch die gegenwärtige Kultur, das Denken, die politische Wirklichkeit, die Wirtschaft, die Kunst aus dem Geist des Evangeliums neu prägen zu können. In der Verkündigung und Praxis der Katholischen Soziallehre zeigt sich zum Beispiel, wie auch heute solches Engagement wirksam werden kann. Das gilt auch in den Debatten über eine ganzheitliche Sicht der Würde des menschlichen Lebens. Dann wäre die Kirche Kämpferin für eine „neue humanistische Synthese“ (Benedikt XVI.), ja für eine neue Fortschrittsidee!

Der christliche Glaube ist auch anspruchsvoll

9. Dabei ist natürlich in besonderer Weise auch die Theologie gefordert. Glaube ohne Denken wäre eben nicht nachhaltig und würde zu schnell auf Gefühl und Erfahrung reduziert. Aber andererseits steht die Theologie in der Gefahr, das Leben aus dem Blick zu verlieren. Die Theologie gehört wieder in die Mitte der Kirche. Und so sehr sie natürlich wissenschaftlichen Ansprüchen bei der Ausbildung der Theologen und in der Forschung genügen muss, hat sie die Verpflichtung, die Brücke zu schlagen zum Leben der Gläubigen und der ganzen Gesellschaft. Anders wird eine wirklich theologisch verantwortbare Erneuerung der Verkündigung und der Katechese nicht gelingen. Die Theologie muss diese Diskrepanz überwinden und helfen, den Horizont zu weiten, Gefühl und Denken, Glaube und Vernunft zusammen zu sehen, damit sich in der Katechese Wege wirklich erschließen können und von der Mitte des Glaubens, vom Christusereignis her, deutlich wird, was das eigentlich heißt: Erlösung! Etwas pointiert: Es muss vermieden werden, dass eine links oder rechts gedrehte „Kleinschriftenideologie“ oder eine „moralinverengte Allerweltsbotschaft“ die Lust am Glauben bei Vielen vertreibt, oder auch dass die Theologie in einer Sonderwelt neben der Kirche lebt. Ich bin überzeugt: Nur eine Katechese und auch eine Neuevangelisierung mit theologischem Fundament kann zukunftsfähig sein. Ja, es stimmt, dass der Glaube letztlich einfach ist und jedem offen steht, aber der christliche Glaube ist auch anspruchsvoll und erst so wirklich existenziell.

10. Papst Johannes XXIII. sprach vom „aggiornamento“ vom „Heutigwerden“ des Glaubens. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in seinen großen Dokumenten diesen Weg eingeschlagen. In seiner berühmten Eröffnungsansprache hat Johannes XXIII. darauf hingewiesen, dass es nicht darum geht, den Glauben zu verändern oder an den Zeitgeist anzupassen, sondern aus der großen theologischen und geistlichen Tradition des katholischen Glaubens der heutigen Welt und den heutigen Menschen überzeugend darzulegen und durch das Leben zu bezeugen, dass der katholische Glaube in gewisser Weise eine geistliche „Fortschrittsidee“ ist, ein „Qualitätssprung“ des Denkens und Lebens. Die Kirche sollte sich nicht darstellen als die große Nein-Sagerin, sondern als Zeugin des Ja-Wortes Gottes. Nicht die geistige Defensive hat das erste Wort, sondern die Offensive, verbunden mit der Hoffnung, dass das Evangelium die unüberbietbar größte Aufklärung und Befreiung ist, auch für die Zukunft. Deswegen passt am wenigsten zur Verkündigung des katholischen Glaubens die Angst und das sich Einmauern in der Enge. Deshalb gehören Lehre und Leben zusammen. Den katholischen Glauben kann man nur verstehen, wenn er auch in Lebenszeugnissen sichtbar wird. Deswegen sind lebendige Pfarreien, überzeugende Orden, geistliche Gemeinschaften und aus dem Geist der Katholischen Soziallehre inspirierte soziale Bewegungen so wichtig. Und vor allem dürfen wir dankbar sein für die Verkündigung, die uns der Heilige Vater immer wieder schenkt und die auch sichtbar wird in seinen Werken, die jetzt gesammelt erscheinen. Diese Theologie ist weit und tief und eröffnet die Möglichkeit, im Denken, Handeln und Leben den Weg der Kirche mit Zuversicht in das 21. Jahrhundert hinein zu gehen.

Der Weg der Kirche kann nicht der Weg der „Restauration“ oder der blinden Anpassung sein, sondern nur der Weg der Erneuerung, der „Renaissance“. Wir werden (hoffentlich) auch in Zukunft in einer offenen, vielfältigen und differenzierten Gesellschaft leben. Es geht nicht darum, Menschen vor einer solchen Gesellschaft zu bewahren, sondern sie als Christen zu befähigen, stark und überzeugend mit der Unübersichtlichkeit der Welt umzugehen, sozusagen im Glauben einen klaren Kopf zu behalten, den Überblick, die wirkliche Aufklärung zu finden. Der Glaube ist das Licht der Vernunft.

Die Krise der Kirche kann wie jede Krise auch ein Wendepunkt sein. Es gilt, die „Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums“ zu deuten. Dann können sich Wege öffnen für eine wirkliche Neu-Evangelisierung, und die Kirche erneuert sich, indem sie tut, wozu sie gesandt ist, mit gelassener Zuversicht und ohne Angst.

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