HK: Herr Professor Hilpert, nach der Aufdeckung zahlreicher Fälle sexuellen Missbrauchs durch Kleriker und innerhalb kirchlicher Einrichtungen wurde von verschiedener Seite die Erwartung oder Hoffnung geäußert, jetzt würde es auch zu einer Neuausrichtung in der kirchlichen Sexualmoral kommen. Was konkret gab Anlass zu solcher Hoffnung?
Hilpert: Das Thema sexueller Missbrauch hat sich wie eine Kaskade entwickelt. Alle Versuche, es einzugrenzen, scheiterten. Einerseits entstand ein großer Vertrauensverlust gegenüber der Institution Kirche und ihren Repräsentanten, andererseits gab es eine tiefe Erschütterung auch im Binnenbereich. Beides generierte die Hoffnung, dass jetzt sozusagen das „Gesamtpaket“ Sexualität, Theologie, Kirche und kirchliche Verkündigung neu geschnürt werden kann. Natürlich konnte dies vom Selbstverständnis der Kirche her nie heißen, dass die überlieferte Lehre „eingestampft“ wird.
HK: Wie realistisch waren dann die Erwartungen auf ein grundlegendes Umdenken überhaupt?
Hilpert: Die realistischen Erwartungen bezogen sich vor allem auf zwei Aspekte: Dass erstens endlich die tatsächlichen Probleme im Themenbereich Sexualität-Kirche-Theologie bear-beitet werden. Denn hier hat es in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren einerseits sehr markante Einschärfungen tra-ditioneller Positionen gegeben, andererseits ist die geforderte Bearbeitung vieler vorhandener Probleme ausgefallen. Die zweite realistische Erwartung bezog sich auf den Gestus des ethischen Sprechens in diesem Bereich. In der Vergangenheit geschah hier ethische Orientierung primär mittels Verbotsnormen, die ihrerseits sehr konkret formuliert waren. Viele haben den Eindruck gewonnen, dass diese Orientierungen nicht wirklich hilfreich sind, und wünschen sich einen anderen Sprechmodus. Einen, der die Fragen der Menschen aufnimmt und Denkprozesse anregen kann, der die Adressaten dieses Sprechens mit ihren biografischen Erfahrungen und den im Leben bewährten Überzeugungen ernster nimmt. Und er sollte insgesamt stärker vom Gestus der Ermutigung und der Bestärkung von Verantwortung geprägt sein – weniger vom Gestus des Verbietens.
HK: Im Frühjahr 2010 hat sich die Arbeitsgemeinschaft deutscher Moraltheologen unter Ihrem Vorsitz in einer viel beachteten Erklärung verpflichtet, die „vielen ungelösten Fragen in Zusammenhang einer zukunftsfähigen Sexualethik“ entschlossen anzugehen. Sie verband dies mit der Erwartung, dass die zuständigen Bischöfe für eine Atmosphäre sorgen, in der diese Arbeit „offen, angstfrei und ermutigend“ angegangen werden kann. Herrscht heute eine solche Atmosphäre?
Hilpert: Im Gegensatz zu manchen früheren Erklärungen ist die erwähnte im kirchlichen Binnenraum durchaus beachtet worden. Wir hatten die Erklärung unter anderem auch an den Sonderbeauftragten der Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann, geschickt sowie an den Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch. Auch von dort haben wir das positive Echo erhalten, dass die in der Erklärung angesprochenen Themen ernst genommen und als der Diskussion bedürftig anerkannt werden. Man darf natürlich jetzt auch nicht den Fehler machen zu erwarten, dass es nur Hurra-Rufe und pure Zustimmung gibt. Aber es ist eine Situation entstanden, in der es auf Seiten der Bischöfe und der Verantwortlichen in der Kirche durchaus einige vielleicht leise, aber doch ermutigende und nachdenkliche Stimmen gibt, solche, die die offenkundigen Probleme nicht einfach nur schnell abhaken wollen. Hier darf man auch nicht nur auf das öffentliche Sprechen der Bischöfe achten.
HK: Müssten sexualethische Fragen in dem auf vier Jahre angelegten Dialogprozess der Kirche in Deutschland nicht einen noch höheren Stellenwert erhalten?
Hilpert: Niemand sollte schon jetzt sagen, was bei diesem Dialogprozess herauskommt. Er bleibt ein Experiment, weil man mit diesem Instrument noch keine Erfahrung hat. Experimente sind selbstverständlich immer auch riskant. Ob es überhaupt handfeste Ergebnisse geben wird, kann heute noch niemand sagen. Aber den guten Willen zum Gespräch auf allen Seiten zu sehen und sich auch selbst entsprechend zu artikulieren, ist eine ganz wichtige Voraussetzung, um zu einer besseren Verständigung innerhalb der Kirche überhaupt und gerade bei dem sexualethischen Problemkomplex zu gelangen. Auch ist dieser nur ein Problemkomplex unter vielen angehäuften Problemen. Vielleicht nicht einmal der zentralste, aber auf jeden Fall einer, der viele Menschen bewegt oder bekümmert.
HK: Bundesweit reagierte man verwundert oder verärgert, als Ende Juni eine Tagung der Katholischen Akademie Rottenburg-Stuttgart zum Themenkomplex Sexualität-Theologie-Kirche vom zuständigen Bischof abgesagt wurde – Sie wären einer der Referenten gewesen. Ist diese Absage nicht symptomatisch für eine Atmosphäre, die eben nach wie vor nicht durch Offenheit und Angstfreiheit geprägt ist und in der so die angefallenen Probleme auch nicht bearbeitet werden können?
Hilpert: Ich war über diese Absage schon irritiert, besonders weil sie damit begründet wurde, der Dialogprozess sollte durch diese Tagung nicht zu Beginn belastet werden. Wenn man zuspitzen wollte, könnte man sagen: der Dialog sollte nicht durch einen Dialog über Sexualethik gestört werden! Ich hätte den Verantwortlichen sicher von einer Absage abgeraten. Symptomatisch ist sie wohl für die innerkirchliche Situation, die eben alles andere als angstfrei ist. Auch die Verantwortlichen und die Bischöfe selbst reagieren ängstlich auf Drohungen und Meinungsbildungsprozesse, die von interessierter Seite organisiert werden. In jedem Fall war die Absage der Tagung kein gutes Signal für den Dialogprozess in der Öffentlichkeit.
HK: Lassen sich unter den von den deutschen Moraltheologen benannten vielen ungelösten Fragen im Zusammenhang einer zukunftsfähigen Sexualethik diejenigen benennen, deren Bearbeitung ganz besonders wichtig wäre?
Hilpert: Die einzelnen Fragen sind ja alle nicht neu, sondern neu ist, dass man sie nun sozusagen in einem Korb sieht: Das im letzten Jahr bekannt gewordene Phänomen des sexuellen Missbrauchs ist nur ein Teil des gesamten Problemkomplexes von Gewalt und Macht innerhalb von Beziehungen überhaupt und insbesonde-re mit Anvertrauten. Das Thema reicht in die Seelsorge hinein, in die Erziehung, in die Familien. Diese Fragen haben aber bisher in der offiziellen kirchlichen Sexualethik nur eine Nebenrolle gespielt. Jetzt aber ist die Sensibilität innerkirchlich wie in der Öffentlichkeit durch die Vorkommnisse und deren Aufdeckung sprungartig gewachsen: Wir ahnen, welche Dimensionen dieses Problem hat, und zwar eben nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft. Wir erschrecken auch als Moraltheologen darüber, mit welcher weitgehenden Ahnungslosigkeit wir mit dieser Problematik in der Vergangenheit umgegangen sind.
HK: Welche Themen stehen abgesehen von diesem Problemkomplex Missbrauch noch auf der Agenda?
Hilpert: Die offizielle kirchliche Sexualethik ist sehr Ehe-zentriert und gibt damit nicht automatisch ausreichende Antworten auf den ganzen Fragenbereich der Gestaltung von Sexualität in Beziehungen, die nicht oder noch nicht Ehe sein wollen, aber Verantwortlichkeit bejahen und für gemeinsame Zukunft offen sind, und auch nicht auf das Phänomen des Scheiterns von Ehen. Sie wird von vielen Menschen als nicht hilfreich empfunden etwa bei ihrer Suche, in einer neuen Partnerschaft Beziehung dauerhafter und verbindlicher zu gestalten. Diese Problembereiche sind zwar schon seit Jahrzehnten bekannt, aber die dafür bereitgestellten Antworten beispielsweise im Katechismus der Katholischen Kirche werden von sehr vielen Menschen als nicht wirklich hilfreich bewertet. Insofern ist für die Moraltheologie jetzt die Stunde, an diesen Stellen weiterzudenken.
„Die Überlegenheit einer verbindlichen gleich-geschlechtlichen Lebensgemeinschaft auf Dauer“
HK: In der Außenwahrnehmung der Kirche, aber auch in ihrem Inneren gibt es an einem Punkt besonders viel Unverständnis für die traditionelle kirchliche Position: die theologisch-ethische Bewertung homosexueller Partnerschaften. Ist sie nicht eine der dringlichsten unter den „ungelösten“ Fragen?
Hilpert: Dass sie so dringlich ist, kann man bestreiten, aber symptomatisch ist sie in jedem Fall. Denn hier zeigt sich besonders deutlich eine Kluft: Zwischen dem gesellschaftlichen Ethos einerseits, das sich in den letzten 30 Jahren weltweit nach der Richtung entwickelt hat, dass homosexuell lebende Partner als erstes Achtung und Respektierung verdienen. Die Forderung nach Respektierung gleichgeschlechtlicher Orientierung und Lebensformen ist ein Phänomen, das vielleicht nicht die ganze Gesellschaft durchzieht, aber doch mit Sicherheit große Teile und über die ganze Welt hinweg. Auf der anderen Seite tritt vor diesem Hintergrund das Festhalten an der bisherigen kirchlichen Positionierung besonders schroff in Erscheinung. Häufig wird die kirchliche Position deshalb geradezu zum Kristallisationspunkt für das Unverständnis gegenüber einer früheren Sicht auf Homosexualität, die es nicht nur im kirchlichen Denken, sondern auch im Bereich von Medizin oder Pädagogik gegeben hat.
HK: Besteht berechtigte Hoffnung, dass sich die kirchliche Position gegenüber Homosexuellen und homosexuellen Partnerschaften in absehbarer Zeit doch noch ändert?
Hilpert: Die wenigsten, die die kirchliche Position heute so heftig kritisieren oder aber umgekehrt zäh verteidigen, kennen sie genau. Denn diese Position hat sich in den letzten zwanzig Jahren verändert, wenn auch still. Heute wird in der Kirche ganz offiziell anerkannt, dass es „nicht wenige“ Menschen gibt mit einer homosexuellen Disposition, die sie sich nicht selbst gewählt haben und für die sie deshalb auch nicht die Verantwortung tragen. Das ist ein sehr entscheidender Unterschied zur früheren Position, bei der man davon ausging, dass Homosexualität eine selbst gewählte Orientierung sei. Aber es wurde noch eine zweite gravierende Änderung in der kirchlichen Lehre vollzogen: Man nimmt heute wahr, dass homosexuell veranlagte Menschen beiderlei Geschlechts wegen ihrer sexuellen Disposition erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Diesen Diskriminierungs-Mechanismen entzieht man ganz offiziell jede Legitimation und betont ebenso, dass diese Menschen auch in der Kirche nicht diskriminiert und in ihrem Menschsein und ihrer Wahrnehmung nicht auf ihre sexuelle Orientierung reduziert werden dürfen.
HK: Homosexuelle Menschen fühlen sich dennoch nach wie vor in der Kirche diskriminiert …
Hilpert: Die beiden neuen Entwicklungen in der kirchlichen Lehre bleiben verbunden mit der Forderung, dass homosexuell orientierte Menschen ihre Homosexualität nicht leben dürfen und sie gar – so der Katechismus – alle in globo berufen sind zu Keuschheit und Enthaltsamkeit. Das ist die Spannung innerhalb der kirchlichen Position, die manche als Widerspruch, manche als Inkonsequenz empfinden. Ob das Lehramt in seinem zukünftigen offiziellen Sprechen diese dritte Markierung einmal zurücknehmen beziehungsweise abschwächen wird, weiß niemand. Wir kennen immerhin in der moraltheologischen Tradition zwei bemerkenswerte Figuren, die auch hier greifen könnten: Zum einen die Figur der „Überforderung“, nach der eine moralische Verpflichtung dort aufhört, wo das subjektive Können erschöpft ist. Die Fachleute sagen uns, und das deckt sich mit der Alltagsbeobachtung, dass nicht jeder Homosexuelle auf Dauer enthaltsam leben kann. Die zweite moraltheologische Argumentations-Figur hat der Papst selbst in seinem Interviewbuch „Licht der Welt“ ins Spiel gebracht, in der so viel beachteten Passage über den Gebrauch von Kondomen. Das Bemerkenswerte war nicht die Aussage zum Kondom, sondern der Hinweis auf den ersten Schritt zur Moralisierung, die Figur der Gradualität: Demnach kann es Schritte auf dem Weg zum moralischen Ideal geben und nicht nur eine Entweder-oder-Logik. Vielleicht wäre es schon viel, wenn in diesem Sinn die Überlegenheit einer verbindlichen gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft auf Dauer und mit Anerkennung von Pflichten im Vergleich zu einer völlig unverbindlichen Lebensgestaltung im subkulturellen Milieu offiziell anerkannt würde.
HK: Gilt denn für die kirchliche Sexualmoral insgesamt, dass selbst mit der Kirche hoch identifizierte Gläubige solche Entwicklungen und Veränderungen kaum mehr wahrnehmen, vermutlich weil sie diese als Ganze für sich und die Fragen ihres Lebens abgeschrieben haben?
Hilpert: Das Risiko besteht ohne Zweifel, und diese Situation kommt ja auch nicht aus heiterem Himmel. Wenn wir theologiegeschichtlich zurückblicken, lässt sich die Bruchstelle ziemlich genau erkennen bei der Veröffentlichung der Enzyklika „Humanae vitae“ beziehungsweise bei der Reaktion, die diese im kirchlichen Raum weltweit erfahren hat. Der entsprechende Konflikt ist bis heute nicht wirklich erledigt und bleibt für viele der Punkt, an dem die kirchliche Position zur Sexualität ihre Glaubwürdigkeit verloren hat oder zumindest in ihr stark beschädigt wurde.
HK: Provokant gefragt: Warum sollen sich die Gläubigen nicht einfach mit dieser Situation abfinden? Nach dem Motto: Schade, aber offenkundig nicht zu ändern …
Hilpert: Das ist sehr ambivalent. Zum einen geht es bei der Sexualität um einen wichtigen Lebensbereich, bei dem jeder das lebenspraktische Experiment auf die Theorie machen kann beziehungsweise machen muss. Wenn es hier einen Konflikt gibt, ist dieser auch unweigerlich zu spüren. Zum anderen wirkt sich diese tiefe Kluft zwischen kirchenoffizieller Position und dem, was ein Großteil der Gläubigen denkt und praktiziert, auf das kirchliche Sprechen insgesamt aus. Die Erfahrung, dass die kirchliche Position zum Thema Sexualität für viele lebenspraktisch nicht wirklich hilfreich, nicht orientierend ist, bleibt nicht ohne Wirkung auf die Erwartungen gegenüber dem autoritativen Sprechen der Kirche überhaupt. Das aber ist schade, denn die Ablehnung trifft dann viele anderen Bereiche und Angebote zur Orientierung.
HK: Lässt sich eine zentrale Perspektive, so etwas wie ein Leitmotiv benennen, das eine zukunftsfähige Sexualethik auszeichnen soll?
Hilpert: Inhaltlich müssen wir uns noch einmal neu darüber vergewissern, was Sexualität bedeutet und was ihre Funktionen sind. Die starke Fixierung auf den Zeugungszweck, die ja schon im Vorfeld des Zweiten Vatikanums und noch einmal im Zuge der Erarbeitung von „Gaudium et spes“ sowie in der ganzen Folgezeit immer wieder diskutiert wurde, ist einfach zu eng. Diese Fixierung entspricht auch nicht dem, was wir von wissenschaftlicher Seite über die Sexualität und ihre Funktion wissen.
HK: Wie würde sich ein offeneres, nicht so auf die Zeugung fixiertes Verständnis von Sexualität auf die Bearbeitung der vielen ungelösten Fragen einer zukunftsfähigen Sexualethik konkret auswirken?
Hilpert: Ein erstes Stichwort wäre hier die Multifunktionalität der Sexualität: Es müssen nicht immer alle Ziele intentional gleichzeitig angestrebt sein, das überfordert die Sexualität. Ein zweites Stichwort hat schon das Zweite Vatikanum der ganzen Ehe-Lehre mit auf den Weg gegeben, aber es betrifft den Umgang mit der Sexualität insgesamt und richtet sich auf alle menschlichen Beziehungen: nämlich die Personalisierung. Sexualität muss künftig viel stärker gesehen werden als Ausdrucksform, als Medium dessen, was im Neuen Testament Liebe genannt wird. Herkömmlich stand sie allenfalls für eine körperliche Sonderform dieser Liebe. Und schließlich sollten wir nicht so über Sexualität und ihre Gestaltung reden, als ob es nur um einzelne isolierte Akte ginge. Anders als in der Vergangenheit muss heute das Nachdenken über Sexualität diese viel stärker in ihrer Rolle für, in ihrer Einbettung in Beziehungen verstehen. Es sollte also nicht über einzelne detaillierte sexuelle Handlungen gesprochen werden, sondern über die Qualität und Anforderungen von Beziehungen. So kommt dann auch die symbolische Bedeutung der Sexualität unter Menschen in den Blick.
„Festhalten an den Grundvisionen, die auch die traditionelle Lehre transportieren will“
HK: Geht es damit nicht doch um so etwas wie eine Totalrevision der traditionellen Lehre? Oder umgekehrt: Was ließe sich von der traditionellen Sexuallehre retten?
Hilpert: Von „retten“ möchte ich nicht sprechen. Es geht um das Festhalten an den Grundvisionen, die auch die traditionelle Lehre transportieren will: Zuerst die, dass man sich auf eine Beziehung mit einem Partner einlassen kann, ohne die Angst zu haben, sich aufgeben zu müssen, sich zu verlieren; und dass man sich ermächtigt fühlen darf zu einer Verbundenheit und Verbindlichkeit, die nicht zeitlich begrenzt ist. Die zweite dieser Grundvisionen betrifft das Grundvertrauen, dass auch wenn beide Akteure in ihrer emotionalen Möglichkeit begrenzt sind, sie doch ihre Beziehung so verlebendigen können, dass mit Enttäuschung, mit Verletzung umgegangen werden kann und diese überwindbar sind. Und schließlich: Die Hoffnung, dass man gemeinsam so stark ist, etwas Neues, etwas Dauerhaftes beginnen zu können, dass ein gemeinsames, wie man heute oft etwas technisch sagt, „Projekt“ realisiert werden kann, das mehr ist als das Gefühl, das die Partner momentan füreinander haben. Das mag eine Familie sein oder etwas anderes, was man gemeinsam aus der Beziehung heraus schafft. Diese drei Visionen oder Hoffnungen finden wir im Übrigen auch in sehr vielen Such-bewegungen wieder, die sich von der Sexualmoral der Kirche distanzieren. Aber es ist entscheidend, dass diese Grundvisionen positiv übergebracht werden als Möglichkeitsgestalt von Freiheit und nicht in Form von detaillierten Verboten.
HK: Wie könnte sich die Kirche dennoch gegenüber solchen Suchbewegungen wieder ins Spiel bringen?
Hilpert: Indem sie diese im menschlichen Wesen grundgelegte Sehnsucht in der Gesellschaft wachhält, zu ihr ermutigt, wohl wissend, dass man ihr nur annäherungsweise und in endlicher Weise genügen kann. Die Kirche kann aber auch diese Vision in vielen Gemeinschaften exemplarisch vorleben, vielleicht aber auch praktisch zu ihrer Realisierung Hilfen geben, etwa in den von ihr unterhaltenen Beratungs-stellen.
HK: An welcher Stelle aber muss die kirchliche Sexualethik dann wirklich neu gedacht werden?
Hilpert: Man kann nicht erwarten, dass jetzt eine Linie gezogen wird, hinter der es alles zu revidieren gilt. Aber sicher muss sich die Art des Sprechens ändern, die Art der Wahrnehmung, die Art der Kommunikation; und der Umgang mit dem Scheitern beziehungsweise mit den Menschen, die Scheitern ertragen müssen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Beziehungen heute unter viel schwierigeren Außenbedingungen gelebt werden müssen, strapaziöser und komplexer sind als in früheren Zeiten. So sind heute beispielsweise viele junge Leute gezwungen, ihre Beziehungen als Fernbeziehungen aufrechtzuerhalten. Und in der stressigen Leistungsgesellschaft erwarten die meisten von ihrer Beziehung, dass sie sozusagen eine Gegenwelt der Privatheit, der individuellen Gestaltung und des gemeinsamen Glücks schafft. Auch funktioniert das Arrangement zwischen den Geschlechtern heute nicht mehr ohne weiteres; auf die Geschlechtertypologien früherer Generationen kann man nicht mehr zurückgreifen, ein Großteil dieses Arrangements muss erst neu ausgehandelt werden – bis in die Alltäglichkeiten des gemeinsamen Haushaltes hinein.
HK: Von Seiten der Kirche und ihrer Verantwortlichen wird immer wieder vor einer Banalisierung der Sexualität in der liberalen Gesellschaft gewarnt. Zu Recht?
Hilpert: Das Stichwort Banalität lässt sich zweifach verstehen. „Banalität“ kann der Abgrenzungsbegriff sein zu denen, die nicht willens sind, sich um die kirchlichen Standards und offiziellen Positionen zu kümmern. Dann steht diese Warnung vor der Banalisierung für eine Kulturkritik aus kirchlicher Perspektive. Das aber kehrt sozusagen die Rechtfertigungslast um. Die kirchliche Position ist dann die richtige. „Banalität“ kann aber auch dafür stehen, dass in unserer Gesellschaft Sexualität häufig nur auf den Geschlechtsakt, die Befriedigung des Triebs reduziert wird und die ganze emotionale und geistige „Arbeit“, die mit einer Beziehung verbunden ist, ausgeblendet wird, als könne man auf sie als Mensch ohne weiteres verzichten. Hierfür gibt es viele Beispiele in unserer Gesellschaft, die diese Analyse unterstützen: von der Prostitution und Pornografie und besonders der im Netz frei verfügbaren Kinderpornografie angefangen über Sextourismus und Menschenhandel bis hin zur alltäglich geschehenden Gewalttätigkeit im Bereich von Sexualität und zu den zahllosen Grenzverletzungen. Derartige Phänomene der Banalisierung im Sinn von Verdinglichung und Verrohung gibt es also unbestritten. Und deshalb bleibt die richtige Gestaltung der Sexualität ein wichtiger Bereich der Lebensführung und ein wichtiges Thema der Ethik.
HK: Leistet, wie immer wieder etwa mit Blick auf die 68er Jahre behauptet wird, eine zu liberale Gesellschaft diesen Phänomenen Vorschub?
Hilpert: Jedenfalls kann man sicher nicht sagen, dass durch die Deregulierung der engen Moralmaßstäbe der fünfziger und sechziger Jahre sozusagen eine glückliche Gesellschaft entstanden ist, die die Sexualität frei auslebt und es dabei gleichzeitig geschafft hat, die Gewalt und die Verletzungen aus diesem Bereich zu verbannen. Das war ja einmal eine Vision der 68er Jahre, die seinerzeit auch eine gewisse Plausibilität hatte. Die berechtigte Kritik daran darf aber keinen falschen kulturkritischen Zungenschlag erhalten.