Seit einiger Zeit treten Kritiker der Kirche im Gestus des Verteidigers auf. Sie werfen der Kirche vor, sich zu wenig um ihre genuin religiösen Aufgaben zu kümmern. Wo sich die Kirche sozialer und politischer Fragen annimmt, da beginnt für die Wahrer des wahrhaft Katholischen bereits der Prozess der Selbstsäkularisierung. Anstatt in ihrer Verkündigung von jener Wahrheit Zeugnis zu geben, die über den Tag hinaus Bestand hat, will sie mit dem Geist der Zeit gleichauf sein und bemerkt nicht, dass sie ihm beständig nur hinterher läuft. Um gesellschaftlich akzeptiert zu sein, übernimmt sie säkulare Strukturen und Aktionsformen. Sie wird zur Kopie ihrer sozialen Umwelt.
Seit der Freiburger Rede von Benedikt XVI. gibt es für solche Vorhaltung ein neues Losungswort, das offenbar zugleich die Lösung andeutet: „Entweltlichung“. Allerdings zeigt die Debatte um diesen Begriff, dass er von vielen Beteiligten eher als Teil des Problems empfunden wird. Man hat sich beeilt mit Klarstellungen, was der Papst nicht gemeint haben kann: Abschaffung von Kirchensteuer und staatlichen Dotationen, Aufgabe des Status als Körperschaft öffentlichen Rechts. Kaum jemand will sich den Begriff zu eigen machen – weder die Deutsche Bischofskonferenz noch Zentralkomitee der der deutschen Katholiken und schon gar nicht der Deutsche Caritasverband.
Die progressiven, politisch und sozial engagierten Kreise befürchten, dass damit der Aufruf zum Rückzug aus der Sozial-, Bildungs- und Medienarbeit der Kirche verbunden ist. Wo und wie soll die Kirche in der modernen Welt dann noch antreffbar sein? Die konservativen Zirkel wissen, dass eine umfassende „Entweltlichung“ nicht ohne Statusverluste durchführbar ist. Sie wünschen sich aber eine Kirche, die Eindruck macht auf die Welt und ihr nicht den Rücken zukehrt. Wie will jemand aufschauen zu einer Größe, von der man nur die kalte Schulter erblickt? Nein, ein gewisses Maß an Weltzuwendung ist auch für sie unabdingbar.
Ein Grundthema der gesamten Christentumsgeschichte
Dass der Begriff „Entweltlichung“ niemandem behagt, ist jedoch auch irritierend. Denn eigentlich erweist er sich als anschlussfähig für nahezu jedes theologische Programm und jede kirchenpolitische Position. Kommt er nicht jenen religiösen Suchbewegungen entgegen, denen es um Mystik statt Politik und daher um die Transzendenz alles Endlichen und Vergänglichen geht? Spricht er nicht jenen aus dem Herzen, die einem franziskanischen Frömmigkeitsideal folgen? Erfüllt er nicht die prophetische Forderung eines Verzichtes auf Privilegien als Voraussetzung der von sozialkritischen Christen eingeklagten Solidarität mit den Unterprivilegierten?
Ist er nicht ein mögliches Synonym der „Option für die Armen“, nach der die Befreiungstheologie ruft? Bringt er nicht eine Selbstverpflichtung des Zweiten Vatikanischen Konzils in Erinnerung? Gehört es nicht zum Selbstverständnis der Kirche, in den Armen das Bild dessen zu erkennen, „der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war“(Lumen gentium Nr. 8)? Was stimmt denn nicht an der These des Papstes, dass eine „von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche (…) sich besser auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein“ kann?
Fraglos rührt der Appell, sich der Welt nicht anzugleichen (vgl. Röm 12,2; Jak 4,4) an ein Grundthema der gesamten Christentumsgeschichte. In höchstem Maße angebracht ist bis heute Skepsis gegenüber einer Kirchlichkeit, die in nicht geringem Umfang auf Konformität mit der Gesellschaft angelegt ist und auf Opportunitätsdenken beruht. Zu oft war die Kirche an Haupt und Gliedern ängstlich vor den Unterdrückern und schweigend vor den Ausbeutern, weil sie die Sorge um sich selbst, ihren Besitz und ihre Macht am Widerstand hinderte. Zu lange hat sie sich selbst ein macht- und herrschaftsförmiges Gebaren gegeben. Sich von solchen Verstrickungen zu befreien, müsste doch ein unstrittiges Anliegen und Ziel der allseits geforderten „Kirchenreform“ sein.
Woran liegt es also, dass ein Begriff, mit dem jeder in der Kirche etwas anfangen könnte, von nahezu allen gemieden wird? Ein Grund mag sein, dass der Papst in seiner Rede den Topos der „Entweltlichung“ zwar mehrfach hervorhebt und betont, aber nicht verdeutlicht, was er damit meint. Er führt eine höchst deutungsbedürftige Kategorie zur Interpretation des klärungsbedürftigen Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft ein. Wer sich in den Text vertieft, findet allenfalls Abgrenzungen von Missverständnissen: „Entweltlichung“ meint weder Weltflucht, noch Weltverneinung. Sie legitimiert kein Nachlassen im diakonischen Engagement und taugt nicht als Legitimation für den Versuch, die Welt schlecht zu machen, um mit der eigenen Weltfremdheit gut dazustehen. Sie steht vielmehr für die Konsequenzen, die sich ergeben aus der Kritik an einer Kirche, die sich in der Gesellschaft selbstgenügsam eingerichtet hat und „sich den Maßstäben der Welt angleicht“.
Worin diese Konsequenzen aber bestehen, wird nicht näher ausgeführt. Es findet sich kein Beispiel für eine Kirche, die sich „gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt“. Ist die Kirche aufgerufen zur Selbstenteignung ihres Grund- und Kunstbesitzes, ihrer finanziellen Ressourcen, ihrer konkordatär abgesicherten Rechtsansprüche? Das Dementi auf solche Rückfragen kam umgehend von allen Hierarchieebenen. Für Klarheit sorgten sie jedoch nicht. Was als Aufruf zu einem neuen Aufbruch, zu einer neuen Kursbestimmung, zu einer neuen Vergewisserung des Verhältnisses von Kirche und Moderne gedacht war, erweist sich als problemverschärfender Lösungsvorschlag.
Angesichts dieser Situation könnte man bei der These Zuflucht nehmen, dass sich die Bedeutung eines Begriffs aus seinem Gebrauch ergibt. Über einen klärungsbedürftigen Begriff kann man sich Klarheit verschaffen, wenn man seine Verwendung analysiert. Dann wäre zum Beispiel der Umgang mit dem bis dato kircheneigenen Medienunternehmen „Weltbild“ höchst aufschlussreich (vgl. dieses Heft, 4 f.). Hier ist deutlich geworden: Die Kirche duldet keine „res mixta“, die einen Schatten auf die Glaubwürdigkeit ihrer Verkündiger werfen oder ihre moralische Integrität beschmutzen könnte. Angesichts der inkriminierten Verquickung von Erotik und Profit, von Esoterik und Rendite wurde darum der Verkauf des Unternehmens beschlossen. Lieber steht man am Ende mit leeren als mit verschmutzten Händen da. Vielleicht erfüllt sich nun bei den Beteiligten sogar die Prognose des Papstes: Eine entweltlichte Kirche „kann ihre Berufung zum Dienst der Anbetung Gottes und zum Dienst des Nächsten wieder unbefangener leben.“
Aber taugt dieser Einzelfall als Regelfall? Gilt fortan die Maxime: Um in der Kirche mit sauberen Händen dazustehen, ist es hinnehmbar, dass man vor der Welt mit leeren Händen dasteht? Eine solche Ableitung ist gewiss ebenso kurzschlüssig wie ungeeignet als Vorbild für den Umgang mit anderen prekären Beziehungen zwischen Kirche und Welt. Es steht viel mehr auf dem Spiel als eine Unternehmensbeteiligung, die sich als Belastung für Ansehen und Zeugnis der Kirche erwiesen hat (oder dazu stilisiert wurde).
Probleme dieser Art und die Weise ihrer Lösung verstellen den Blick auf Fragen von grundsätzlicher Bedeutung: Wie bestimmt die Kirche in Zukunft Nähe und Distanz zur Gesellschaft? Definiert sie ihre Identität künftig über die Markierung einer Differenz zur „Welt“? Ist von der Kirche wirklich eine „Inkulturation“ in die säkulare Welt oder nicht viel eher kritische Ungleichzeitigkeit und selbstbewusste Ungleichförmigkeit verlangt? Ist die vom Zweiten Vatikanischen Konzil eröffnete Perspektive eines dialogischen Verhältnisses von Kirche und Welt zu verabschieden, weil sie ihrerseits eine problematische Problemlösung darstellt? Ist das konziliare Konzept christlicher Zeitgenossenschaft obsolet, weil zu sehr „weltbejahend“?
Die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (GS) fordert in der Tat dazu auf, bei aller notwendigen Sozialkritik in der Welt nicht bloß alles Negative und alles Negative nicht bloß in der Welt wahrzunehmen. Vielmehr gilt es auch anzuerkennen, „was an Gutem in der heutigen gesellschaftlichen Dynamik vorhanden ist“, und mit Achtung zu blicken „auf alles Wahre, Gute und Gerechte, das sich die Menschheit in den verschiedenen Institutionen geschaffen hat und immer neu schafft“ (Nr. 42).
Diese Anerkennung lebt im und vom Dialog mit allen Menschen guten Willens, mit den Angehörigen anderer Religionen und Konfessionen. Dabei gelten nach außen wie nach innen dieselben Regeln des Hörens aufeinander und des Lernens voneinander: „Anerkennung aller rechtmäßiger Verschiedenheit, gegenseitige Hochachtung, (…) im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem die Liebe“ (Nr. 92). Eine solche „Sympathie“ für die Welt ist auch geboten, wenn es für Theologie und Kirche darum geht, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten, so dass sie in einer der jeweiligen Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben kann“ (Nr. 4).
Wer die Kirche allein für das Zeitlose und Überzeitliche zuständig sieht, halbiert ihren Auftrag. Sie hat sich den existenziellen und sozialen Fragen zu stellen, die sich hier und jetzt ergeben. Dabei wird eine doppelte Fokussierung der Verkündigung verlangt. Sie soll auf zeitgemäße Weise dem Evangelium gerecht werden und sie soll auf evangeliumsgemäße Weise sich den Themen der Zeit stellen. Man darf also die Botschaft des Evangeliums nicht trennen von der Zeit, in der sie jeweils zu vertreten ist. Und diese Zeit ist nicht von vornherein der Opponent oder Widerpart des Evangeliums.
Lässt sich das Evangelium in „Reinkultur“ abseits der modernen Welt verkünden?
Gleichwohl mehren sich die kritischen Stimmen, die eine dialogische Weltzugewandtheit in Verbindung mit einem „Aggiornamento“ der Kirche für ein zum Scheitern verurteiltes Projekt halten: Wird eine Kirche, die sich auf die moderne Welt einlässt, nicht an ihren Krisen und Pathologien teilhaben und ihnen am Ende erliegen? Ist es überhaupt noch sinnvoll, sich auf eine Gesellschaft einzulassen, die sich geistes- und sozialgeschichtlich am Ende der Moderne verortet und vielfach selbst „am Ende“ ist?
Nicht wenige Kirchenkritiker, die das Katholische verteidigen wollen, treten für „neue“ Grenzziehungen zwischen dem Religiösen und dem Säkularen ein. Die Aufgabe, auf zeitgemäße Weise der Botschaft Jesu gerecht zu werden, ist für sie sekundär. Dass die Kirche auf evangeliumsgemäße Weise den Erfordernissen der Zeit entsprechen muss, halten sie für zweitrangig. Als Begründung verweisen sie auf einen zentralen Passus in der Freiburger Rede des Papstes, für den die Welt nicht maßgeblich für die Bezeugung des Evangeliums sein kann: „Durch die Ansprüche und Sachzwänge der Welt aber wird dies Zeugnis immer wieder verdunkelt, werden die Beziehungen entfremdet und wird die Botschaft relativiert.“
Folgt daraus, dass die Suche nach zeitgemäßen Aktions- und Sozialformen, in denen das Evangelium gesellschaftlich antreffbar wird, kontraproduktiv ist? Besteht die Alternative darin, das Evangelium in „Reinkultur“ abseits der modernen Welt zu verkünden, anstatt es in diese Zeit zu „inkulturieren“? Sollte man, um einer Selbstsäkularisierung der Kirche zu entgehen, darum auf eine Re-Sakralisierung der Kirche, ihres Handelns und ihres Erscheinungsbildes setzen?
Entsprechende Bestrebungen sind längst im Gange und weder an Zahl noch an Wirkung gering. Wer nach römischen Belegen sucht, findet sie in den Dekreten zur Wiederzulassung der Tridentinischen Messe oder zur Revision der liturgischen Bücher, die auch in den jeweiligen Landessprachen den Sound des Sakralen vernehmbar machen sollen. Immer seltener trifft man auf ein Amtsverständnis, das den Ort des Priesters inmitten des Volkes Gottes sieht und ihn (gemäß 2 Kor 1,24) nicht als Herren über seinen Glauben, sondern als Helfer zu seiner Freude am Glauben versteht. Im Trend liegt vielmehr die Betonung eines hierarchischen Gegenübers von Klerikern und „Laien“.
Gemeinsam ist diesen Bestrebungen, dass sie eine Asymmetrie sowohl im Außenverhältnis als auch im Innenverhältnis der Kirche herausstellen. Gegenüber der säkularen Welt soll die Andersheit, Unangepasstheit, Ungleichförmigkeit der Kirche unterstrichen werden. Im Innenverhältnis soll sie anziehend für Menschen sein, die doppelt unangepasst sein wollen: gegenüber der säkularen Welt und gegenüber Kirchenmitgliedern, die sich dem Säkularen zu sehr geöffnet haben. Zur Rechtfertigung beruft man sich auf den Ratschlag prominenter Soziologen, die der Kirche empfehlen, in eine Welt, die sich als Ideal die „totale Symmetrisierung von allen“ auf die Fahne geschrieben hat, eine „Idee des Asymmetrischen“ (Armin Nassehi) hineinzubringen. Einher geht damit die Pflege von „Alleinstellungsmerkmalen“ und die Konzentration auf den „Markenkern“ der katholischen Kirche: rituelle Lebensbegleitung, spirituelle Sinnstiftung und sakramentale Heilsvermittlung – und natürlich der Zölibat der Priester als die „Welt“ am meisten provozierendes Zeichen ihrer Asymmetrie.
Ist diese Umsetzung der Unterscheidung von sakraler und säkularer Sphäre der rechte Weg, um nach außen unmissverständlich zu zeigen, wofür die Kirche steht? Wird auf diese Weise die Identität der Kirche gesichert? Klar ist, dass es hierbei zunächst um die Bestärkung einer Identität „nach innen“ geht. Sie soll gefestigt werden durch die Markierung einer Differenz nach außen. Vielleicht versucht man auf diese Weise eine Tugend aus der Not zu machen, die mit dem Ende der „Volkskirche“ kommen wird. Dass dieses Ende naht und die Kirche zu einer sozialen Randgröße machen wird, ist statistisch voraussagbar. Worin Identität und Relevanz der dann verbleibenden „Restkirche“ bestehen, weckt erhebliche Besorgnis. Vorsorglich konzentriert man sich auf das „Eigentliche“ des Kircheseins, das nicht Gegenstand von Statistiken sein kann.
Auf das missionarische und liturgische Zeugnis der Kirche kann sich die „Entweltlichung“ doch eigentlich nur positiv auswirken. Denn es wird deutlicher, klarer, entschiedener und vor allem kompromisslos ausfallen, wenn sie zur Welt auf Distanz geht!? Es ist aber keineswegs ausgemacht, dass ein solches Manöver am Ende die Kirche nicht kompromittieren wird. Problematischer als der Rückgang ihres äußeren Bestandes ist ihre drohende innere Verkümmerung. Dass sie kleiner wird, muss man beklagen – dass sie dabei selbstbezogen wird, ist das größere Übel.
Eine Kirche, welche zur Welt auf Abstand geht, steht in der Versuchung, sich in einen dogmatischen Rigorismus und liturgischen Ästhetizismus zu flüchten. Auf diesem Weg hofft man vielleicht, den gegenüber dem Säkularen verlorenen Glanz im Sakralen wiederzufinden. Politisch, sozial und kulturell ist ein solches Kirchentum aber belanglos. Es ähnelt einer Thermoskanne aus Edelstahl, „die nach innen wärmt und nach außen kalt bleibt“ (Heinz Zahrnt). Ihre glatt polierte Außenseite lädt zwar dazu ein, sich darin zu spiegeln. Wer sich aber als „Außenstehender“ auf diese Weise ein Bild von sich und seiner Welt machen will, blickt in ein Zerrbild.
Das Evangelium erzählt keinen geschichtslosen Mythos
Wer die „Entweltlichung“ der Kirche als Norm für den Weg der Kirche in die Zukunft fordert, muss sich zudem sagen lassen, dass diese normative Vorgabe bereits eingelöst wurde – allerdings in einer Weise und in einem Ausmaß, die der Kirche nicht zugutekommen. Aus der Alltags- und Lebenswelt vieler Menschen ist die Kirche längst verschwunden. Sie haben die Mitgliedschaft in einer Kirche gekündigt, die nicht mehr jene Geschichte fortschreibt, die damit beginnt, dass Gott sich der Nöte und Hoffnungen der Menschen annimmt. Das Evangelium erzählt ja keinen geschichtslosen Mythos und entwirft auch nicht ein bloß weltjenseitiges Heilsideal. Es ist vielmehr Konsequenz eines Geschehens, in dem der Heilswille Gottes im Widerstreit von Leben und Tod, von Freiheit und Unterdrückung, von Macht und Ohnmacht erfahrbar geworden ist. Als Konsequenz dieses Geschehens jenseits frommer Innerlichkeit und diesseits weltflüchtiger Jenseitigkeit ist das Evangelium selbst wiederum folgenreich – auch in jenen Feldern, die scheinbar abseits des Religiösen liegen. Eine Kirche, die nicht mehr zeigen kann, welche Konsequenzen christliches Handeln im Kontext des Politischen und Ökonomischen hat, wenn es auf evangeliumsgemäße Weise sach- und zeitgemäß ist, ist für viele Zeitgenossen „aus der Welt“.
Evangeliumsgemäß ist nicht, sich aus der Welt zu stehlen, sich über sie zu erheben oder sich ihr gegenüberzustellen, sondern in der Welt für die Welt engagiert zu bleiben, sich von ihren Nöten anrühren lassen und sich ihrer Freuden mitzufreuen: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. (…) Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ (GS, Nr. 1). Für die Kirche gilt es, immer wieder neue Zeichen dieser Verbundenheit zu setzen und selbst zum Zeitzeichen zu werden.
Die Kirche ist das Zeichen der Nähe Gottes in der Welt für die Welt. Eine Kirche, die in der Welt nur auf sich selbst verweist, kann kein Zeichen für die Zuwendung Gottes zur Welt sein. Aber ihr Dasein für die Welt entpflichtet nicht davon, Kirche zu sein. Eine Kirche, die in der Welt nicht mehr Kirche sein will, kann als solche auch nicht mehr für die Welt da sein. Nicht die Anpassung, sondern die Resonanzfähigkeit der Kirche für eine sich dramatisch verändernde Welt ist heute angezeigt.
Wenn nicht Anpassung verlangt wird, dann braucht man auch nicht zu befürchten, dass die Weltzugewandtheit der Kirche ihre Identität entstellen könnte. Zwar hat sich die Maxime weithin durchgesetzt: Nur durch die Markierung von Differenzen lassen sich Originalität und Unverwechselbarkeit sichern. Und ebenso gängig ist die Anwendung dieser Maxime auf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft, Katholiken und Protestanten, Christen und Muslime. Sie haben ihre jeweilige Identität daran festzumachen, was sie jeweils voneinander unterscheidbar macht. Erst danach kommt zur Sprache, was sie miteinander verbindet. Aber ist es entscheidend christlich, das Verhältnis zu anderen über Unterschiede zu definieren? Ist das Unterscheiden überhaupt geeignet, treffsicher das für die Kirche Entscheidende zu erfassen?
Wer die Rede vom „unterscheidend“ Christlichen gebraucht und mit der Logik des Unterscheidens das „entscheidend“ Katholische bestimmen will, kann der Identitätssicherung der Kirche unversehens einen Bärendienst erweisen. Denn zur Logik des Unterscheidens gehört das Dissoziieren, das Abtrennen und Sich-Absetzen. Das Verschiedene und Andere ist dabei dasjenige, was der oder die Andere mit dem Eigenen nicht teilt und damit nicht gemein hat. Wer in und durch den Vorgang des Ausschließens seine Identität wahren will, erweist sich sehr bald auch als Vertreter einer Ideologie. Denn Ideologien bestehen zum großen Teil aus der Absicht, ihre Anhänger durch die Bestimmung von Unterschieden zu anderen besser dastehen zu lassen.
Der Ideologiefalle können Christen am ehesten dadurch entgehen, dass sie das entscheidend Christliche als dasjenige identifizieren, das alle Menschen verbindet, eint und sie einander gleich macht. Eben dies ist der Heilswille Gottes, der jeden Menschen zum Adressaten einer unbedingten Zuwendung macht. Dazu gehört ebenso die Gottebenbildlichkeit aller Menschen und die Mitgeschöpflichkeit alles Lebendigen. Die Gottebenbildlichkeit jedes Menschen begründet Gleichheit, Wert und Würde jeder menschlichen Person. Sie ist unüberbietbar und nicht relativierbar. Daran hat die Kirche Maß zu nehmen, wenn sie nach Maßstäben sucht für ihr Engagement als Kirche in der Welt für die Welt. Es ist diese Orientierung am alle Menschen Verbindenden, das die Kirche zum Einsatz für Menschenrechte und ein globales Gemeinwohl motiviert. Dies macht das entscheidend Christliche im sozialen und politischen Kontext aus. Und die Orientierung daran macht die Kirche unterscheidbar von sozialen und religiösen Bewegungen, die nur partikulare Eigeninteressen vertreten oder sich der Lobbyarbeit hingeben. Erst wenn sich die Kirche von diesen Handlungsmustern unterscheidet, ist sie „katholisch“.
Wer nur auf die Bestimmung von Unterschieden aus ist, macht das, was in der heutigen Gesellschaft alle tun, um sich zu profilieren. Und wer das macht, was alle anderen auch tun, hat schon aufgehört, sich von allen anderen zu unterscheiden. Wenn sich alle auf dieselbe Weise unterscheiden, sind sie alle auf dieselbe Weise anders – und damit einander fast schon zum Verwechseln ähnlich. Wenn die Kirche dieser Logik folgt, praktiziert sie genau das, was der Papst kritisiert: Sie gleicht sich den Maßstäben der Welt an. Sie übernimmt die Orientierung an innerweltlichen Unterschieden und Unterscheidungen.
Es ist aber entscheidend für Christen, dass sie sich auf andere Weise profilieren. Entscheidend für die Kirche in der Welt ist, an einem anderen Unterschied Maß zu nehmen und anders mit innerweltlichen Unterschieden umzugehen. Nur so setzt sie in dieser Zeit selbst ein Zeichen, das nicht von dieser Welt ist. Dieses Zeichen verweist darauf, dass es einen Unterschied gibt, aus dem eine Gemeinsamkeit erwächst. Die Kirche hat zu bezeugen, dass die Verschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf die Gleichheit und Ebenbürtigkeit aller Geschöpfe begründet. Darum ist jeder Unterschied zwischen Menschen umgriffen von einer je größeren Gemeinsamkeit. Sich in der Welt mit der Herausstellung dieses allen Menschen Gemeinsamen zu profilieren, ist die Aufgabe der Kirche. Mit diesem Zeugnis durchbricht sie die Logik der Welt, in der aus Unterschieden Diskriminierungen erwachsen. Asymmetrien gibt es genug in dieser Welt. Sie braucht keine zusätzliche kirchliche Variante.