Ein Rückblick auf das 50-jährige Anwerbeabkommen mit der TürkeiWie lange sind Fremde fremd?

Mit dem vor 50 Jahren abgeschlossenen Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei begann eine Geschichte von Missverständnissen und Missstimmungen, deren Folgen bis heute nicht beseitigt sind. Seit den siebziger Jahren fordern die beiden großen Kirchen in Deutschland eine an den Bedürfnissen der Betroffenen orientierte Ausgestaltung der Ausländerpolitik als Integrationspolitik.

Dass der 30. Oktober 1961 Deutschland auf Dauer verändern sollte, ahnte damals – und lange Zeit danach – niemand. Es war der Tag, an dem das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei in Bad Godesberg unterzeichnet wurde. Es war der Anfang einer Vielzahl von Missverständnissen und Missstimmungen, die auch 50 Jahre danach nicht wirklich überwunden sind.

Wenn von Anwerbung die Rede ist, geht es um den Personenkreis, der in den ersten Jahrzehnten mit dem euphemistischen Begriff „Gastarbeiter“ umschrieben wurde. „Fremdarbeiter“ wäre passender gewesen, war aber durch die Verwendung im Nationalsozialismus diskreditiert. „Gast“-Arbeiter signalisierte aber eines sehr deutlich: die politisch gewollte Vorläufigkeit, also Nicht-Einwanderung. Deshalb waren auch verpflichtende Sprachkurse und Integrationsangebote vor oder kurz nach der Einreise (unter Beteiligung der Arbeitgeber wie beispielsweise in Schweden) ebenso wenig vorgesehen wie die Einreise mit Familien. Beherrscht war das Bild vom „ledig gehenden“ jungen Arbeitsmigranten (durchaus auch in der weiblichen Variante).

Die seinerzeit angeworbenen Türken wurden, wenn man von den mit Wegfall des Eisernen Vorhangs eingewanderten Spätaussiedlern absieht, zur größten Zuwanderergruppe: Derzeit leben mehr als 3 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, davon rund 1,6 Millionen türkische Staatsbürger in Deutschland. Nicht zuletzt ob ihrer Größe als Gruppe und ihrer überwiegend muslimischen Religionszugehörigkeit stehen sie stärker im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung als die kleineren Gruppen der Arbeitsmigranten; ob ihrer Größe und ihrer ökonomischen Bedeutung wegen haben sie auch ein größeres Angebot an Infrastruktur geschaffen beziehungsweise vorgefunden. Negativ konnotiert ist dies mit dem Begriff der „Parallelgesellschaft“, bei dem der Verdacht mangelnder beziehungsweise verminderter Integrationsbereitschaft oder -fähigkeit stets mitschwingt. Man denkt dabei unwillkürlich an deutsche Parallelgesellschaften im Ausland, von Siebenbürgen über die ehemalige Wolgarepublik bis neuerdings Mallorca, wo die deutschen Residenten beispielsweise eine eigene deutsche Partei gegründet haben.

Ungeklärt bleibt der dem Anwerben von „Gastarbeitern“ zugrunde liegende Begriff von Integration als einem von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft gemeinsam zu leistenden Prozess: Der Verdacht liegt zumindest nahe, dass sich hinter den aus den Reihen der Mehrheitsgesellschaft formulierten Integrationsansprüchen einseitige Assimilationserwartungen an die Zuwanderer verbergen. Dies verwundert nicht. Hat sich doch die Anwerbung weitgehend in Verhandlungen zwischen den jeweiligen Regierungen ohne breite gesellschaftliche Diskussion abgespielt. Das Volk war nicht gefragt und aufkommender Kritik wurde mit Verweis auf die auf Vorläufigkeit ausgelegte Gastarbeiterpolitik begegnet.

Als der seinerzeit im „Katholischen Büro“ in Bonn für diesen Bereich zuständige Referent Herbert Becher Ende der siebziger Jahre kritisch darauf hinwies, dass vor einer Anwerbung der kulturell und religiös noch deutlicher fremden Türken zunächst die erkennbaren Integrationsprobleme der einige Jahre früher angeworbenen Italiener hätten angegangen werden sollen, und Deutschland sich gerade durch diese Anwerbung quantitativ und qualitativ ein Dauerproblem eingehandelt habe, musste er sich den Vorwurf der „Humanitätsduselei“ gefallen lassen.

Becher aber sollte Recht behalten. Ein an Dynamik rasch zunehmender Integrationsprozess innerhalb Europas (mit dem EU-Beitritt der Anwerbestaaten Portugal, Spanien und Griechenland), der Statusverbesserungen und kontinuierliche Ausweitungen der Freizügigkeit für die Angehörigen der EU-Mitgliedstaaten mit sich brachte, führte zwangsläufig zu zwei unterschiedlichen Statusgruppen unter den ehemaligen „Gastarbeitern“: die weitgehend rechtsangeglichenen „EU-Bürger“ und die von diesem Prozess nur wenig umfassten „Drittstaatsangehörigen“ mit den Türken als der größten Population. Dieses Phänomen der „hinkenden“ Gleichberechtigung von „Drittstaatern“ beziehungsweise der Türken war ein wesentliches Integrationshindernis und schuf eine „Sondergruppe“ unter den Einwanderern.

Unter dem Eindruck des Mauerbaus und der damit erzwungenen Unterbrechung des Zuzugs von Menschen aus der DDR brauchte die deutsche Wirtschaft ein neues Reservoir für die Anwerbung dringend benötigter Arbeitskräfte. Nach den Anwerbeverträgen mit Italien (1955) sowie Spanien und Griechenland (1960) war die Türkei der vierte Staat, mit dem ein Abkommen getroffen wurde, um türkische (möglichst unverheiratete) Arbeitskräfte auf Zeit (gedacht war an zwei Jahre) nach Deutschland zu holen. Verbunden mit einer Reihe von weiteren Regelungen, die den Betroffenen keinen Raum für ihre Zukunftsplanung ließen: ein Ausländerrecht, das seine Wurzeln in der Ausländerpolizeiverordnung von 1939 hatte und von Interessen des Aufnahmelandes („Belange der Bundesrepublik Deutschland“) und der Aufrechterhaltung der Rückkehrbereitschaft geprägt war.

Üblich war die Erteilung einer an die Passgültigkeit gekoppelten Aufenthaltserlaubnis für ein, höchstens zwei Jahre. Bei Verlängerung wurden alle Voraussetzungen neu geprüft, als stünde wiederum eine Neu-Einreise bevor. Wer Fristen versäumte, musste unter Umständen mit einer Aufenthaltsbeendigung rechnen. Hinzu kam ein Arbeitserlaubnisrecht, das den Angeworbenen auf einen bestimmten Arbeitsplatz festlegte; drohte ein Arbeitsplatzverlust, drohte zugleich eine erzwungene Aufenthaltsbeendigung.

Das ganze System war eben gerade nicht auf Integration oder gar Verwurzelung der Einwanderer ausgerichtet. Das so genannte Rotationsmodell (befristeter Aufenthalt zum Zweck befristeter Arbeit) hatte jedoch einen wesentlichen Geburtsfehler: Es lag nicht im Interesse der deutschen Industrie, die aus ländlichen Gebieten Süd- und Südosteuropas stammenden Arbeitskräfte ohne Sprachkenntnisse (Deutschkurse waren damals kein Thema, diese Diskussion kam erst 40 Jahre später auf) aufwendig für hochkomplexe Fertigungsprozesse auszubilden, um sie nach Erreichen dieses Zieles wieder ziehen zu lassen und die ganze Prozedur von vorne zu beginnen.

Die Lebenslüge: Deutschland ist kein Einwanderungsland

Die jahrzehntelang aufrechterhaltene migrationspolitische Lebenslüge, nach der „Deutschland kein Einwanderungsland“ ist, zeitigte Folgen, die bis heute andauern. Bis weit in die achtziger Jahre hinein dominierte das Prinzip „auf Zeit“: für die Herkunftsstaaten, die hiesige Aufnahmegesellschaft und insbesondere für die Betroffenen selbst, die sich nicht nach Deutschland hatten anwerben lassen, um dauerhaft zu bleiben und einzuwandern. Allerdings waren schon früh Anzeichen eines dennoch beginnenden Einwanderungsprozesses erkennbar. Hierauf hatten die Veranstalter des Augsburger ökumenischen Pfingsttreffens bereits im Jahr 1971 hingewiesen und die Bundesrepublik Deutschland – Jahre bevor dies auch die Gewerkschaften taten – zum faktischen Einwanderungsland erklärt.

Dieses Treffen war damit Geburtsstunde einer migrationspolitischen Grundhaltung der Kirchen. Unbeirrt trugen sie in den Folgejahren die mit dem Faktum „Einwanderung“ gegebenen Folgerungen und Forderungen allen Bundesregierungen vor. Insbesondere die Gemeinsame Synode der Bistümer Deutschlands Anfang der siebziger Jahre in Würzburg setzte sich für eine andere, auch an den Bedürfnissen der Betroffenen orientierten Ausgestaltung der Ausländerpolitik als Integrationspolitik ein.

Der bis heute im Grundsatz geltende Anwerbestopp für Nicht-EU-Angehörige von 1973 sorgte dafür, dass Rückkehrpläne vielfach aufgeschoben wurden: Wenn man als Drittstaatsangehöriger erst einmal „draußen“ war, kam man nicht mehr „rein“. Dies machte sich insbesondere bei den großen Gruppen, den Türken und den Jugoslawen bemerkbar. Verstärkte Familiengründungen unter den relativ jungen „Gastarbeitern“ waren eine Folge, die mit Kinder- und Ehegattennachzug einherging. Ehegattennachzug und Asyl waren die einzig verbliebenen Zugangswege nach Deutschland.

Deswegen gab es ab dem Jahr 1980 Bestrebungen (ausgelöst vom damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth und dem Berliner Innensenator Heinrich Lummer) mit Verweis auf so genannte „Scheinehen“ eine dreijährige Wartezeit beim Ehegattennachzug einzuführen. Diese Initiative hatte allerdings keinen Erfolg, sie wurde durch das Bundesverfassungsgericht gestoppt.

Und noch ein weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkter Aspekt von Zuwanderung veränderte sich mit dem Anwerbestopp: Die Anwerbestaaten waren überwiegend keine Demokratien im westlichen Verständnis (Portugal, Spanien und zeitweise Griechenland waren Diktaturen), in der Türkei mussten insbesondere politisch aktive Kurden mit Sanktionen rechnen. Deswegen gingen viele – unbemerkt als „Gastarbeiter“ – nach Westeuropa, um der politischen Verfolgung auszuweichen, ohne dass Folgen für die zurückbleibenden Familien zu befürchten waren. Das erklärt auch, warum sich einige türkische (besser: kurdische) Lehrer bei der Müllabfuhr fanden. Mit Ende der Anwerbung begann deshalb die Zahl der Asylsuchenden zu steigen, unter denen sich auch zunehmend Menschen fanden, die darin den einzigen Weg aus Armut und Perspektivlosigkeit sahen.

Eine weitere, zunächst unbemerkte, Zuwanderergruppe stellten Christen aus der Türkei dar. Unter dem Eindruck der Ermordung eines großen Teils der armenischen Christen während des Ersten Weltkrieges sahen sich auch die anderen christlichen Denominationen zunehmenden Schwierigkeiten in der Ausübung ihrer Religion, Sprache und Kultur ausgesetzt. Und sie gerieten in den Kurdengebieten zwischen die Fronten von Militär und PKK. Dies betraf unter anderem die chaldäischen Christen im Gebiet um den Berg Cudi, deren Dörfer in den achtziger Jahren in der Schusslinie der kämpfenden Parteien lagen. Sie wanderten nach Westen und von dort weiter nach Westeuropa.

Auch für den Exodus der im Tur Abdin (einer Gegend südöstlich von Dyarbakir) ansässigen syrisch-orthodoxen Christen, einer altorientalischen Kirche, deren Geschichte bis ins 3. Jahrhundert reicht, war die westeuropäische Arbeitskräfte-Anwerbung der Auslöser. Als die Anwerbestaaten die Grenzen dicht machten, folgten die Zurückgebliebenen über das Flüchtlingsrecht und den Familiennachzug. Der Autor sah sich 1986 während einer Studienreise seitens eines hochrangigen Kirchenvertreters mit dem Vorwurf konfrontiert, die Flüchtlingspolitik des Westens mit seinen liberalen Zugangsmöglichkeiten sei – unter nachhaltiger Beteiligung der christlichen Kirchen – schuld am Untergang der ältesten christlichen Kirche in ihrem angestammten Gebiet; bis heute haben die Syrisch-Orthodoxen das Aramäisch, die Sprache Jesu also, als Kirchensprache erhalten. Für diesen offiziell verbotenen Sprachgebrauch hatten die „Süriyani“, wie sie genannt werden, vielfache Pressionen seitens der Regierung zu erleiden – bis hin zu Gefängnisstrafen für die Kirchenoberen noch in den achtziger Jahren.

Diese Pressionen und ein Siedlungsdruck durch die sesshaft werdenden ehemals nomadisierenden Kurden bewirkten einen Exodus nach Deutschland, Schweden und die Niederlande mit der Folge, dass von etwa 300 000 Süriyani in Europa, etwa 100 000 in Deutschland leben. Im Tur Abdin blieben lediglich etwa 2500 syrisch-orthodoxe Christen, darunter vorwiegend Ältere. Im Anfangsstadium der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei gab es zwar Versuche der Wiederansiedlung. Diese können jedoch mit wenigen Ausnahmen generell als gescheitert gelten. Die Gruppe der syrisch-orthodoxen Einwanderer in Deutschland ist dabei weitgehend integriert. Inzwischen entstanden auch dauerhafte Seelsorgestrukturen einschließlich von Kirchbauten, eine eigene Hierarchie hat sich etabliert.

Familiennachzug war ursprünglich nicht gewollt

Der ursprünglich politisch nicht gewollte Familiennachzug gewann in der Folge des gescheiterten Rotationsmodells und des Anwerbestopps eine zunehmende Dynamik. Speziell der Kindernachzug wurde 1978 durch die Einführung eines auf 25 Prozent reduzierten „Auslandkindergeldes“ für die Betroffenen zum weiteren Anlass, ihre bei Verwandten im Ausland lebenden Kinder nach Deutschland zu holen. Hier allerdings gab es mannigfaltige Versuche des Gesetzgebers, diese Entwicklung zu regulieren: zum einen durch die permanenten Diskussionen um eine Absenkung des Nachzugsalters mit Verweis auf die Notwendigkeit des möglichst frühen Schulbesuchs und Spracherwerbs; zum anderen durch Vorschriften in Bezug auf einen Mindest-Wohnraum, die gerade in Ballungsgebieten die betroffenen Familien vor nahezu unlösbare Probleme stellte; der Wohnungsmarkt gab die geforderte Wohnungsgröße einfach nicht her und Ausländer gerieten vielfach mit kinderreichen einheimischen Familien in Konkurrenz um bezahlbaren Wohnraum. Hinzu kamen gezielte Programme zur Rückkehrförderung in der ersten Hälfte der achtziger Jahre.

Wenn sich die Kirchen in der damals so genannten ausländerpolitischen Debatte zugunsten der Betroffenen zu Wort meldeten, ging es um die Themen Rechtssicherheit als Grundlage für eine verlässliche Lebensplanung und Absicherung des Integrationsgeschehens. Es ging aber auch um die Einheit der Familie (ein besonderes Anliegen beispielsweise der Spanier-Seelsorger mit ihrem Delegaten José Sánchez in den siebziger Jahren, später auch von Kardinal Joseph Höffner), um Bildung (insbesondere für die zweite Generation), um die Ausübung von Religion und Religionsunterricht sowie um Vermeidung von Benachteiligungen, die sich aus der weiteren politischen Integration der EU-Mitgliedstaaten ergaben, jedoch keinesfalls zwingende Konsequenz waren.

Es ist erstaunlich und wohl in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig, wie sich vor allem die Spitzen der katholischen Hierarchie in Deutschland in die migrationspolitischen Diskurse der siebziger und achtziger Jahre einschalteten – oftmals gegen den Widerstand in den eigenen Reihen. Es gab damals das geflügelte Wort: „Die Hirten haben die Herde links überholt.“

Bei diesen ausländerpolitischen Interventionen ging es immer auch und besonders um den rechtlichen Status und die Lebenssituation der zugewanderten Türken als Drittstaatsangehörige. So wurde aus Mitteln des Deutschen Caritasverbandes im Jahr 1985 eine Verfassungsbeschwerde nachhaltig unterstützt, mittels derer die dreijährige Wartezeit im Ehegattennachzug in Berlin und Baden-Württemberg zu Fall gebracht werden konnte. Seit der Würzburger Synode Anfang der siebziger Jahre setzen sich die Kirchen für ein verbessertes Daueraufenthaltsrecht sowie für eine erleichterte Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatenzugehörigkeit ein. Letzteres ist im EU-Bereich auf Gegenseitigkeit inzwischen geregelt, würde aber insbesondere den Drittstaatsangehörigen erhebliche Sicherheiten im Integrationsprozess bieten.

So kritisieren beide Kirchen auch das sogenannte Optionsmodell als Beispiel unzulässiger Ungleichbehandlung: der automatische Erwerb also der deutschen Staatsangehörigkeit für ein hier geborenes ausländisches Kind (mindestens ein Elternteil muss ein Daueraufenthaltsrecht besitzen) mit der Verpflichtung, zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr entweder für die deutsche oder die ausländische Staatsangehörigkeit zu optieren.

Da auch diese Regelung in der Ablehnung von Mehrstaatigkeit ausschließlich gegenüber Nicht-EU-Staatsangehörigen gründet, ist wiederum die Gruppe der zugewanderten Türken am stärksten betroffen. Sie müssen es als besondere Zurücksetzung empfinden, da sie sich einer Regelung unterworfen sehen, die für mehr als 50 Prozent der Betroffenen nicht mehr zutrifft – vor allem, weil Mehrstaatigkeit aufgrund bilateraler Verträge im EU-Bereich hingenommen wird. Es wird sich zeigen, ob diese Ungleichbehandlung erst wieder durch die Rechtsprechung „geheilt“ wird. Ebenfalls EU-weit geregelt ist das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger in allen Mitgliedstaaten durch den im Mai 1999 geschlossenen Vertrag von Amsterdam, der die Unionsbürgerschaft eingeführt hat.

Statusrechte driften weiter auseinander

So driften die Statusrechte im Rahmen einer fortschreitenden EU-Integration und der damit verbundenen Unionsbürgerschaft weiter auseinander: der Nachweis von Sprachkenntnissen beim Familiennachzug, Gesinnungsprüfungen bei der Einbürgerung, keine Hinnahme von Mehrstaatigkeit, keine Partizipation auf der Ebene des Kommunalwahlrechts. All dies sind Einschränkungen, die insbesondere die Gruppe der Türken treffen. Daran kann auch das im Assoziierungsabkommen zwischen der Türkei und seinerzeit der „EWG“ von 1980 verankerte Verschlechterungsverbot für die in der EU lebenden türkischen Arbeitnehmer und ihre Familien nichts Wesentliches ändern.

Hier bestünde in der Tat ein breites Feld für die Einlösung der immer wieder vor allem von deutscher Seite propagierten aber nie mit neuen Inhalten gefüllten „Privilegierten Partnerschaft“ der EU mit der Türkei. Dass sich hier nichts bewegt und im Gegenteil die Kluft zwischen EU-Ausländern und Drittstaatern sich vertieft, ist ein weithin verkanntes, dramatisches Integrationshindernis im Hinblick auf die in unserem Land bereits aufwachsende vierte Generation. Sie muss diese eklatante Ungleichheit als fortdauernde Verweigerung seitens der deutschen Politik und Gesellschaft verstehen.

Berichte über Tausende (auch hierzu gibt es bezeichnenderweise bis heute keine validen Erhebungen) von jungen Türkinnen und Türken, die nach erfolgreich abgeschlossener (Hochschul-)Ausbildung dem Land, in dem sie aufgewachsen sind, den Rücken kehren, um sich in das Herkunftsland ihrer Großeltern aufzumachen, konfrontiert uns mit der Frage: Wie lange bleibt der Fremde in unserem Land fremd? Und hat es nicht auch und gerade mit der Politik der vergangenen Jahrzehnte zu tun, dass manche Zuwanderergruppen länger Fremde bleiben (sollen)?

Wenn der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bei seinen Deutschland-Besuchen die deutsche Integrationspolitik als menschenrechtsverletzend, weil assimilierend brandmarkt, wird das jedoch auch nicht zu größerer Nachdenklichkeit führen, sondern vorhandene Gräben vertiefen. Die Kritiker der „Parallelgesellschaft“ werden sich bestätigt sehen ebenso wie die Türken selbst, die am europäischen Integrationsprozess nicht teilhaben. Es wird Wasser auf die Mühlen all derer leiten, die gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei skeptisch sind: Denn noch immer gibt es beispielsweise Ethnien in der Türkei, deren Sprachgebrauch sanktioniert ist, ganz zu schweigen von religiösen beziehungweise christlichen Minderheiten, die allen Beteuerungen zum Trotz bis heute unter massiven Einschränkungen zu leiden haben: in der Wahrnehmung ihrer Eigentumsrechte, in der Verwaltung eigener Schulen und insbesondere in der Ausbildung und Anstellung ihrer Geistlichen. Gerade bei Letzterem zeigt sich eine deutliche Schieflage im Hinblick auf die Entsendung von beim türkischen Staat angestellten Imamen nach Deutschland.

Die Kirchen in Deutschland hatten schon sehr früh und lange vor den Gewerkschaften beharrlich auf einen Daueraufenthalt und die damit verbundene Verwurzelung eines erheblichen Teils der Zuwanderer gedrängt. Regelmäßig wandten sich die Vorsitzenden der Bischofskonferenz beziehungsweise der Ratsvorsitzende der EKD sowie die beiden Präsidenten von Caritas und Diakonie an die Politik, um eine Umkehr von der mit „Aufrechterhaltung der Rückkehrbereitschaft“ zu beschreibenden Politik zu erreichen. Themen waren der prekäre aufenthaltsrechtliche Status, die Einschränkungen im Familiennachzug und insbesondere die Integration der zweiten Generation. Mit Blick auf den Jahrestag des Anwerbeabkommens war in den Medien wieder von der „Verlorenen Generation“ zu lesen.

Just mit diesem Begriff hatte der Deutsche Caritasverband vor 45 Jahren eine Stellungnahme überschrieben, in dem auf die Dramatik der Bildungsbenachteiligung von „Gastarbeiter“-Kindern hingewiesen wurde. Im Herbst 1982, als nach einem „Frühling der Integrationskonzepte“ wieder der Begrenzungsgedanke mit einhergehender Rückkehrförderung in den Vordergrund getreten war, kritisierte dies Herbert Becher mit dem bemerkenswerten Satz: „Wer die Grenzen schließen will, muss aus NATO und EWG austreten.“ Es war allen klar, was mit „NATO“ gemeint war: der NATO-Partner Türkei.

Die Kirchen sind auch als Arbeitgeber gefordert

Die Kirchen haben sich beispielsweise auch wiederholt zur Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in das deutsche Schulsystem geäußert: Bereits im Gemeinsamen Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht aus dem Jahr 1997 erwähnt, wird in dem so genannten Integrationspapier der deutschen Bischöfe im Jahr 2004 ausgeführt: „Unter Würdigung der bestehenden staatskirchenrechtlichen Probleme wird das Bemühen um angemessene Lösungen ausdrücklich begrüßt. Ein solcher Unterricht in deutscher Sprache unter staatlicher Schulaufsicht würde am Ort des gemeinsamen Unterrichtens und Lernens ganz neue Möglichkeiten des Dialogs und der Begegnung sowohl in den Lehrerzimmern als auch in den Klassenräumen eröffnen.“

Beeinträchtigt wird diese entschiedene Haltung der Kirchen nur durch ihre Beschäftigungspraxis: Das bischöfliche Integrationspapier formuliert im Kapitel „Kirche als Arbeitgeber – Beiträge zur Integration“ differenziert, indem es einerseits für ein klares christliches Profil der kirchlichen Einrichtungen angesichts einer religiös diffusen Grundbefindlichkeit unserer Gesellschaft plädiert und deshalb die Beschäftigung nicht-christlicher Mitarbeiter grundsätzlich verneint. Allerdings wird die Einstellung nicht-christlicher Mitarbeiter vor allem im pflegerischen Bereich gerade dort, wo Muslime als Patienten Aufnahme finden, unter Verweis auf eine kultursensible Pflege und Begleitung als möglicher Gewinn für eine katholische Einrichtung bezeichnet.

Hier ist noch viel zu tun: Solange unter Verweis auf bestehende Regelungen die Beschäftigung von muslimischem Reinigungspersonal nur über Zeitarbeitsfirmen möglich ist und die Anstellung von türkischstämmigen Ärzten oder Psychotherapeuten in großen Allgemeinkrankenhäusern und Geriatrie-Einrichtungen generell verweigert wird, ist zu fragen, ob hier die Kirche ihren eigenen Ansprüchen gerecht wird oder ob sie gerade wenn es ernst wird, ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt.

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