Die Russische Orthodoxe Kirche im „System Putin“Zustimmung und Unruhe

Der Prozess gegen drei Frauen aus der Punkband „Pussy Riot“ hat die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Russischen Orthodoxie unter der Präsidentschaft von Wladimir Putin geworfen. Die Kirche profitiert vom „System Putin“ und unterstützt es ungeachtet von Widerständen auch in den eigenen Reihen. Ob sie damit gut beraten ist, wird sich zeigen.

Die Parlaments-(Duma-)Wahlen in Russland, der „Russischen Föderation“, vom 4. Dezember 2011 haben der regierenden Partei „Einiges Russland“, der Partei Wladimir Putins und Dmitrij Medwedjews, nicht zuletzt infolge massiver Wahlfälschungen den erwarteten Wahlsieg gebracht. Mit 49,3 Prozent lag „Einiges Russland“ zwar weit vor den nächstfolgenden Kommunisten (19,2 Prozent), doch wurden die Erwartungen der regierenden Partei entschieden verfehlt: 15 Prozent hatte „Einiges Russland“ gegenüber den letzten Parlamentswahlen (2007) verloren!

Die Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012 sahen, ebenfalls wie erwartet, Putin mit 63,6 Prozent der Wählerstimmen als Sieger. Im September 2011 hatten Präsident Medwedjew und Ministerpräsident Putin einen höchst fragwürdigen, von der Russischen Orthodoxen Kirche (künftig: ROK) begrüßten Ämtertausch verkündet, wonach Putin als Präsidentschaftskandidat antreten und im Falle eines Sieges den damaligen Präsidenten Medwedjew zum Ministerpräsidenten ernennen werde. Der alt-neue Präsident Putin kann nach einer Gesetzesänderung nun sechs Jahre lang amtieren und im Jahre 2018 nach seinen Amtsperioden 2000–2004, 2004 –2008 und 2012–2018 womöglich sogar noch ein viertes Mal (2018–2024) kandidieren.

Das Oberhaupt der ROK, Patriarch Kirill I., gratulierte Putin in einem Telegramm, in dem es unter anderem hieß: „Die große Mehrheit der russischen Wähler – darunter Priester, Bischöfe und viele Gläubige der ROK – hat Sie wieder zum nationalen Führer gewählt.“ Die Bürger hätten die positiven Entwicklungen im Lande gewürdigt, welche durch die Politik Putins möglich geworden wären. Die Wähler hätten sich mit der Wahl Putins für eine „stabile und konsequente Entwicklung Russlands“ entschieden; nun könne seine Politik „für Wahrheit, Frieden und Wohlstand“ fortgeführt werden. Im Übrigen, so Metropolit Ilarion, der „Außenminister“ der ROK, in einem Interview (15. März 2012), sei Putin der einzige Kandidat gewesen, den man „mit Fug und Recht als praktizierenden Orthodoxen“ bezeichnen könne – „Für uns Orthodoxe ist das sehr wichtig.“

Die feierliche (dritte) Amtseinführung von Wladimir Putin fand am 7. Mai 2012 mit dem von ihm selbst geschaffenen pompösen Ritual im Kreml statt. Danach empfing er in der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale des Kremls im Rahmen eines Fürbittgottesdienstes (moleben) den Segen des Patriarchen. Die Zeremonie, die Patriarch Alexij II. (1991–2008) bei der ersten Amtseinführung Putins als russischer Präsident im Jahre 2000 festgelegt hatte, findet jeweils im kleinen Kreise statt: Außer dem Präsidenten-Ehepaar und Patriarch Kirill waren auch diesmal nur wenige Bischöfe anwesend.

Die ROK als neutrale Institution?

Im Fürbittgebet des Patriarchen heißt es unter anderem: „Wir beten für den Präsidenten unseres russischen Landes, Wladimir. Mögen ihm die Himmel für seine Regierung und für gerechtes Richten Kraft und Weisheit verleihen, damit er Frieden und Ordnung in unserem Lande mehre und Feinde und Widersacher (…) in die Flucht schlage.“ Am Schluss der Feier segnete der Patriarch den Präsidenten mit einer altehrwürdigen Muttergottesikone, die er ihm mit persönlichen Worten überreichte: „Der größte Teil unseres Volkes hat Sie bewusst, überlegt und frei zum Präsidenten gewählt. (…) Wir beten heute vor allem darum, dass der Herr Ihnen und unserem Lande seine Gnade gewähren und Ihnen (…) Kraft, Weisheit und einen starken Geist schenken möge. (…) Die Legitimität eines Präsidenten beruht auf dem Vertrauen des Volkes – das besitzen Sie. (…) Allerdings kann die Stimme des Volkes von Stimmen gut organisierter Gruppen oder einzelner übertönt werden, die ihre Meinung zuweilen für die des Volkes ausgeben. Für den erfolgreichen Dienst eines Präsidenten ist es daher unabdingbar, dass dieser in der Lage ist, die Geister zu unterscheiden und die Stimme des Volkes zu vernehmen.“

Damit spielte er sicher auf die Massendemonstrationen gegen Putin und die Wahlmanipulationen an. Repräsentanten der ROK betonen stets: Die ROK sei eine neutrale Institution, in der alle politischen Strömungen unter den Russen eine Heimat finden sollten. Ob aber die persönlichen Worte des Patriarchen noch als unpolitisch zu werten sind, sei dahingestellt.

Die Wahlergebnisse sichern Präsident Putin und seiner Partei für die nächsten sechs Jahre ein komfortables Regieren. Aber die Wahlmanipulationen durch die Regierungspartei und ihre Anhänger haben die russische Gesellschaft an den Rand der Spaltung geführt. Aus Protest kam es zu Großdemonstrationen, gegen die die Regierung mit massivem Einsatz von Polizei- und Militäreinheiten vorging. Im Gegensatz zu früher sah sich die Führung der ROK angesichts der aufgeheizten Stimmung im Lande veranlasst, sich zu äußern. Am 18. Dezember stellte sich Patriarch Kirill vorsichtig hinter die Demonstranten: Der Streit zwischen Putin-Gegnern und -Befürwortern solle im Rahmen eines „zivilisierten Dialogs“ gelöst werden; die Behörden sollten den Bürgern mehr vertrauen, und die Regierung möge stärker auf die Gesellschaft hören und ihren Kurs korrigieren.

In seiner Predigt am Weihnachtsgottesdienst in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale am 7. Januar 2012, an dem auch Präsident Medwedjew teilnahm, rief der Patriarch alle Seiten zur Mäßigung auf; die politische Führung solle auf die Bürger zugehen, damit das Leben der Nation wieder friedlich verlaufen könne und die Gefahr einer Spaltung der Nation, ja sogar eines Bürgerkrieges, abgewendet werde.

Ein regierungskritischer Flügel im Kirchenvolk

Im Prinzip aber unterstützte die Führung der ROK die Wiederwahl Putins; ihre vorsichtige Kritik hatte nicht zuletzt taktische Gründe: Orthodoxe Repräsentanten nahmen die Stimmung in der Bevölkerung auf, um die ROK nicht dem Vorwurf blinder Regierungshörigkeit auszusetzen. Eine ernsthafte und grundsätzliche Distanzierung von der Regierung stellte diese „Kritik“ von kirchlicher Seite aber nicht dar. Die eigentliche Botschaft der ROK war: Orthodoxe beteiligen sich nicht an Protestaktionen. So erklärte der Patriarch kurz vor den Präsidentschaftswahlen: „Orthodoxe demonstrieren nicht, vielmehr beten sie in der Stille (dafür, dass Gott) unser Volk zur Einsicht und auf den Weg geistigen Wachstums (…), zur Entwicklung des nationalen Selbstbewusstseins (…) führen wird.“

Wohin die Kirchenleitung tendierte (und mit ihr offenkundig breite Teile des gläubigen Volkes), deutete Patriarch Kirill beispielsweise am 8. Februar 2012 an, als er Wladimir Putin lobte: „Die entscheidende Rolle (bei der Lösung unserer internen Konflikte) haben Sie, Wladimir Wladimirowitsch, persönlich gespielt!“ Derartiges Werben für Putin war fast auf der ganzen kirchlichen Linie zu beobachten. So erklärte im Vorfeld der Duma-Wahlen Erzpriester Wsewolod Tschaplin, als Vorsitzender der Synodalkommission für Kirche und Gesellschaft und als Sprecher des Kirchlichen Außenamtes einer der wichtigsten Funktionäre der ROK, die Wahl Putins zum Präsidenten Russlands werde „eine lange Periode der Stabilität“ einleiten. Und noch kurz vor der Präsidentschaftswahl verteidigte er am 27. Februar vehement das Recht der ROK, sich für die Wahl Putins einzusetzen – damit war er Vorwürfen in den Medien entgegengetreten, wonach Patriarch Kirill als Oberhaupt der ROK eindeutig für Putin Partei ergreife.

Die ROK profitiert von der staatlichen Unterstützung

Doch gibt es im Kirchenvolk auch einen intellektuellen regierungskritischen Flügel, der aber statistisch nicht einzuordnen ist. Dieser Flügel hatte die vorsichtige Kritik der ROK am Vorgehen der staatlichen Führung begrüßt – in der Hoffnung, dass sich hier ein grundsätzlicher Kurswechsel der Kirchenführung gegenüber dem System Putin andeute. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Orthodoxe Intellektuelle (darunter auch viele Geistliche wie Erzdiakon Andrej Kurajew, Professor an der Moskauer Geistlichen Akademie) stellten Putins „gelenkte Demokratie“ in Frage – vor allem über die Internetseite „Pravoslavie i mir“ (Orthodoxie und Welt). Dort erklärte Priester Georgij Mitrofanow, Professor an der Petersburger Geistlichen Akademie, die Proteste gegen die Wahlfälschungen hätten gezeigt, wie unzufrieden die Menschen mit den Zuständen im Lande und wie frustriert sie angesichts ihrer eigenen Machtlosigkeit sind.

Andere Priester konstatierten resigniert, viele Menschen erwarteten gar nichts mehr von dieser und der kommenden (Putin-)Führung; Kleinmut herrsche allenthalben; Menschenwürde und Wahrheit würden in Russland jetzt mit Füßen getreten; die Wahlen böten ein düsteres Beispiel für Lüge, Heuchelei, moralischen Verfall und Zynismus in Russland. Trotz vieler kritischer Stimmen besteht allerdings kein Zweifel daran, dass das Gros der orthodoxen Gläubigen der regierungsfreundlichen, namentlich Putin-hörigen Haltung der Kirchenführung folgt.

Dass es in der ROK so gegensätzliche Gruppierungen gibt, darf nicht verwundern. Nach eigenem Bekunden zählt sie derzeit fast 100 Millionen Glieder. Eine solche Institution stellt keinen homogenen Block dar, von einer Kirche kann keine Rede sein. Das bestätigen Zahlen, die im September 2011 (auch von orthodoxen Medien) veröffentlicht wurden. Danach bezeichneten sich 72 Prozent der erwachsenen ethnischen Russen als orthodox und nur 9 Prozent als ungläubig. Die alte Formel „russisch = orthodox“ sei wieder in Geltung – wer Russe ist, sei auch orthodox, selbst wenn er nicht getauft ist. Weniger als 10 Prozent der „Orthodoxen“ besuchten sonntags den Gottesdienst; die übrigen nähmen höchstens Ostern und Weihnachten an der Liturgie teil. 93 Prozent derer, die sich „orthodox“ nennen, hätten überhaupt keinen Bezug zum Gemeindeleben.

Eine Statistik von April 2012 ergänzt das Bild: 73 Prozent der Bevölkerung Russlands schätzten das Wirken der ROK als positiv ein, und immerhin 64 Prozent vertrauten der ROK. Nachdenklich stimmt, dass lediglich 56 Prozent der Bevölkerung Patriarch Kirill Vertrauen entgegenbringen. Dem umtriebigen, in allen Medien präsenten und Putin eng verbundenen Oberhaupt der ROK stehen also 44 Prozent der Bevölkerung Russlands skeptisch gegenüber. Dazu dürften Negativschlagzeilen über seinen aufwendigen Lebensstil und über seine immensen Reichtümer in „Novaja gazeta“ und „portal-credo.ru“ im Februar 2012 beigetragen haben.

Die Proteste gegen die Wahlfälschungen haben sich gegen das „System Putin“ gerichtet, für das „gelenkte Demokratie“ und Korruption charakteristisch sind. In diesem System hat aber auch die ROK einen zentralen Platz. Nachdem Präsident Boris Jelzin im August 1999 Wladimir Putin zum Ministerpräsidenten berufen hatte, „outete“ sich dieser plötzlich als orthodoxer Gläubiger; anlässlich seiner Ernennung zum „Geschäftsführenden Präsidenten“ am 31. Dezember 1999 empfing Putin den Segen von Patriarch Alexij II. Putin hatte das enorme Wählerpotenzial der Orthodoxen Kirche erkannt.

Um sich diese gewogen zu machen, verbreiteten die gelenkten Medien ständig Photos von Kirchenbesuchen Putins; wiederholt zeigte er sich mit dem Patriarchen am Sitz der Kirchenleitung (dem Daniil-Kloster) sowie im Präsidentenpalais; er veranlasste die Rückerstattung Zehntausender einst verstaatlichter orthodoxer Kirchen und Klöster an die ROK. Heute werden Bischöfe häufig von Ehrenkompanien des Militärs eskortiert, Staatsgebäude, Waffensysteme (auch atomare) von Geistlichen gesegnet. Repräsentanten der ROK weisen (gerade vor Wahlen) darauf hin, dass die Kirche allein Putin ihren glänzenden Wiederaufstieg aus dem Nichts zu verdanken habe.

Nachdem sich die Sowjetideologie als obsolet erwiesen hatte, ersetzte sie Putin durch die bewährte Ideologie des Zarenreiches: einen „Großrussischen Patriotismus mit orthodoxem Kern“. Putin versteht seine „Russische Föderation“ als Rechtsnachfolgerin des Zarenreiches. Als Bindeglied zwischen beiden sieht er die Orthodoxie, die ihm damit als Legitimation seines Führungsanspruchs dient. Die ROK wurde zu einer wichtigen Stütze des Staates – nicht nur bei Wahlen, sondern beispielsweise auf dem sozialen Sektor, indem die ROK staatliche Defizite durch ihre sozialen Einrichtungen kompensieren soll; der Staat übernimmt – deklamatorisch – moralische Wertvorstellungen der ROK sowie deren antimodernistische und antiwestliche Positionen, etwa vehemente Ablehnung westlich-dekadenter „Errungenschaften“: einerseits der sittlicher Verderbtheit, andererseits der Meinungsfreiheit, der offenen Gesellschaft.

Die ROK profitiert von der Unterstützung durch den Staat – so werden ihr seit einiger Zeit einst verstaatlichte Immobilien zurückerstattet; ein viele Religionsgemeinschaften berücksichtigender schulischer Religionsunterricht steht seit 1. September 2012 in ganz Russland auf dem Stundenplan, von dem aber vor allem die ROK profitiert. Die meisten Orthodoxen sind dankbar für das Wohlwollen, das Putins Regierungspartei „Einiges Russland“ der ROK entgegenbringt. Und der hohe Klerus genießt die glanzvolle Präsenz in der Öffentlichkeit, die ihm das „System Putin“ ermöglicht; er ist nicht daran interessiert, dass sich daran etwas ändert. Doch auch das „System Putin“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die meisten Russen (wiewohl erklärtermaßen orthodox) kaum für ihre Kirche interessieren.

Die Provokation der Frauen-Punkband „Pussy Riot“

Eine aus fünf Frauen bestehende Punk-Rockband, „Pussy Riot“, hat mit einer provokativen „Performance“ die Diskussion um die Rolle der ROK in Putins Russland neu entfacht. Die Gruppe hatte schon zuvor mit spektakulären Aktionen gegen die erneute Kandidatur Putins für das Präsidentenamt protestiert, wurde aber kaum beachtet. In ihren frechen Texten beschimpften sie Putin als Diktator und prangerten die unheilige Allianz von Staat und ROK an. Am Dienstag, dem 21. Februar, knapp zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen, erreichte „Pussy Riot“ mit einer viele Orthodoxe verletzenden Aktion weltweite Aufmerksamkeit.

Die maskierten Frauen bauten sich in der zu dieser Zeit leeren Moskauer Christus-Erlöser-Kirche, der Kathedrale des Patriarchen, vor der Ikonostase auf und trugen einen Song vor, der in einem „Gebet“ an die Gottesmutter gipfelte: Sie möge doch Putin verjagen. Das Video, das bald im Internet auftauchte, war offenkundig früher an anderem Ort aufgenommen worden; unklar ist, ob der Text des in der Kathedrale gesungenen „Punk-Gebets“ der gleiche war wie der auf dem Video. Dort jedenfalls hieß es unter anderem: „Gottesmutter, verjage Putin! / Der KGB-Chef lässt Protestierende einsperren. / (…) / Die Kirche huldigt dem verfaulten Führer. / Der Patriarch glaubt an Putin. / Der Hund würde besser an Gott glauben. / Gottesmutter, verjage Putin!“

Nach 40 Sekunden wurden die Frauen von Sicherheitskräften abgedrängt und drei von ihnen in Untersuchungshaft genommen. Der Auftritt in der leeren Kirche war kaum bemerkt worden. Trotzdem wurde der Vorfall zum Politikum, das die russische Bevölkerung erregte – und in mindestens zwei Lager spaltete. Eine hochemotionale, scharfmacherische Berichterstattung kirchlicher und säkularer (regierungsnaher) Medien schürte Empörung und heizte die Angelegenheit auf.

Mit Schlagworten wie Blasphemie, Gotteslästerung, Kirchenschändung, Beleidigung der Orthodoxie usw. forderten Sprecher der ROK eine gnadenlose Bestrafung der Frauen – auch mit Hinweis auf islamische Länder, wo diese Frauen einen solchen Auftritt gar nicht überlebt hätten. Der Patriarch bezeichnete die Aktion als „Verhöhnung eines Heiligtums“, andere Geistliche bezeichneten die drei Frauen als „Ausgeburt der Hölle“ und als „Gesandte des Satans“. Erzpriester Tschaplin wurde gleichsam zur Symbolfigur dieser Position. Er erklärte, jener „blasphemische Auftritt“ stelle ein „extremistisches politisches Statement“ dar, in dem „zum Hass gegen die Orthodoxie aufgerufen“ worden wäre; diese Aktion sei „Teil eines gewaltigen Komplotts, ein Generalangriff auf die russische Orthodoxie, auf die man mit aller Härte reagieren“ müsse. Orthodoxe Massenorganisationen wie der „Bund orthodoxer Bürger“, das „Weltweite Russische Volkskonzil“ und andere riefen zur Verteidigung des Patriarchats auf und verkündeten auf Plakaten: „Es gibt kein Russland ohne Orthodoxie!“, „Für Gotteslästerung ins Gefängnis!“ Am Sonntag, dem 18. März, wurde in einem in mehreren Moskauer Kirchen verlesenen Aufruf die harte Bestrafung der Frauen gefordert.

Während sich am 22. April unter der Leitung von Patriarch Kirill vor der Christus-Erlöser-Kathedrale eine Prozession von 65 000 Gläubigen formierte, die gegen „Pussy Riot“ und gegen weitere gegen die ROK gerichtete Vandalenakte (etwa Zerstörungen von Ikonen) protestierte, richteten etwa 2000 Personen einen Offenen Brief an den Patriarchen, in dem sie die Einstellung des Verfahrens forderten: „Wir glauben, dass dieser Prozess unser Gerichtssystem diskreditiert und das Vertrauen in die Institutionen Russlands schwächt.“

Im Gegensatz dazu suchte Erzdiakon Kurajew den Auftritt von „Pussy Riot“ als karnevalistischen Scherz herunterzuspielen und plädierte für Milde sowie für die Freilassung der inhaftierten Frauen. Auch viele jüngere Geistliche und Laien, die wie Kurajew diese Aktion entschieden missbilligten, sprachen sich für Milde aus: Das „Punk-Gebet“ sei nicht als Lästerung der Gottesmutter und nicht als blasphemischen Akt unter Strafverfolgung zu stellen – es habe sich doch letztlich nur um eine Ordnungswidrigkeit gehandelt; zweifelsohne hätten die Frauen die religiösen Gefühle der Gläubigen grob verletzt, doch seien sie nicht handgreiflich geworden. Der betagte Erzpriester Pavel Adelheim wies darauf hin, dass die Ordnung der Kirche „seit jeher von Propheten und Narren in Christo gestört worden“ sei; und: „Christus selbst hat Sünderinnen stets vergeben.“ Er mahnte, „im Volk wachse Protest gegen Staatsmacht und Kirchenelite, die eng miteinander verwoben“ seien.

Putin hat die Kraftprobe gewonnen

Anklage wurde nicht von der ROK als Institution erhoben, sondern von neun kirchlichen Mitarbeitern (von einem Priester, Kerzenverkäuferinnen und Kirchenwächtern), die das Spektakel in der Kathedrale „traumatisiert“ habe. Die Klage wurde mit Hinweis auf § 213 des russischen Strafgesetzbuches begründet: „grober Verstoß gegen die öffentliche Ordnung“ („Hooliganismus“ beziehungsweise „Rowdytum“), der mit bis zu sieben Jahren Arbeitslager geahndet werden kann. Nachdem die drei Frauen ein halbes Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatten, wurde nach drei Verhandlungswochen am 17. August das Urteil verkündet: zwei Jahre Straflager allgemeinen Regimes. Die Angeklagten haben am 27. August Berufung eingelegt. Bei der Berufungsverhandlung am 10. Oktober wurde die Strafe für eine der Frauen zur Bewährung ausgesetzt.

In ihrem Song hatte „Pussy Riot“ das „System Putin“ frontal angegriffen und die ROK als instrumentalisierte Quasi-Staatskirche an den Pranger gestellt; das war Majestätsbeleidigung. Deshalb reagierten Staat und ROK so erbittert. Beim Prozess gegen die drei Frauen war es nur scheinbar um den anstößigen Auftritt in der Christus-Erlöser-Kathedrale, keineswegs um „Rowdytum“ und „Störung der öffentlichen Ordnung“ gegangen. Ein Vertreter der Anklage hatte während des Prozesses in „Moskovskie novosti“ erklärt, diese Frauen seien „Agentinnen einer weltweiten Organisation von Extremisten, die einen Krieg gegen die Russische Kirche führten“.

Im Mittelpunkt der Urteilsbegründung standen denn auch Termini wie Kirchenschändung, Gotteslästerung, Entweihung einer Kirche usw. Prozessbeobachter meinten, es habe sich um einen politischen Prozess gehandelt, in dem die Gruppe wegen ihres Protestes gegen das „System Putin“ mit seiner engen Verflechtung von Staat und ROK abgeurteilt worden sei. In diesem Sinne äußerte sich auch Erzdiakon Kurajew nach der Urteilsverkündigung. Man hatte den Eindruck, nicht die Staatsanwaltschaft sei in diesem Ankläger gewesen, sondern der Oberste Kirchenrat der ROK.

Nach der Urteilsverkündigung gab der Oberste Kirchenrat der ROK eine Erklärung ab, in der er um Milde für die drei Frauen bat: „Ohne die Rechtmäßigkeit des Urteils zu bezweifeln, wenden wir uns mit der Bitte an die staatlichen Organe, im Rahmen der Gesetze Barmherzigkeit mit den Verurteilten walten zu lassen.“ Hätte die ROK im Verlaufe des Prozesses mit Nachdruck eine solche Erklärung abgegeben, hätte das vielleicht einen Einfluss auf das Urteil gehabt – hinterher nützt sie den verurteilten drei Frauen wohl kaum. Der Oberste Kirchenrat unterließ es aber nicht, in seiner Erklärung abermals zu betonen, dass es sich beim Auftritt der Frauen in der Christus-Erlöser-Kirche um „Gotteslästerung und ein Sakrileg, um gezielte Beleidigung von Heiligtümern und um grobe Feindseligkeit gegenüber Millionen von Gläubigen und ihren Gefühlen“ gehandelt habe. Gotteslästerung könne die Kirche nicht dulden. Aber Mitleid mit den Frauen sei angebracht, deshalb bitte der Kirchenrat um Milde.

Putin ist beim Antritt seiner dritten Präsidentschaft auf Konfrontation mit jenen großstädtisch-säkularen, überwiegend intellektuellen Kreisen gegangen, die an den Massendemonstrationen gegen die Wahlfälschungen beteiligt waren. Das „System Putin“ benutzte den Prozess gegen „Pussy Riot“, um mit seinen Gegnern abzurechnen. Putin setzt voll und ganz auf die konservativ-patriarchalen und orthodoxen Kreise in Kleinstädten und in ländlichen Gebieten, die seine „gelenkte Demokratie“ und die Bestrafung der aufmüpfigen Frauen begrüßen. Umfragen geben ihm recht: Rund 70 Prozent der Bürger Russlands seien mit der Verurteilung der drei Frauen einverstanden. Putin hat die Kraftprobe mit seinen Kritikern, die durch den Prozess gegen „Pussy Riot“ ausgelöst worden war, gewonnen. In der Bevölkerung, also auch unter Orthodoxen, wird die Kritik am „System Putin“ mehrheitlich abgelehnt.

Erzdiakon Kurajew und andere unangepasste Geistliche waren der Meinung, die ROK hätte die provokante Aktion der Frauengruppe ignorieren und mit christlicher Liebe reagieren sollen. Sie hatten kaum eine Chance sich durchzusetzen. Die Aufrufe hochstehender Repräsentanten der Kirche, die Frauen hart zu bestrafen, vermitteln das Bild einer rachsüchtigen und mit dem Staat verflochtenen Kirche, die nicht bereit ist zu vergeben. Immer mehr Gläubige scheinen den innerkirchlichen Entwicklungen des Jahres 2012 ratlos gegenüberzustehen, Unruhe hat viele erfasst. Mit ihrem Eintreten für Putin im Wahlkampf und mit ihrer harten Haltung im Falle „Pussy Riot“ hat die Russische Kirche einen Teil ihrer Intellektuellen verprellt, vielleicht sogar verloren. Ihre, in den Augen der meisten russischen Orthodoxen dissidenten Überlegungen werden der ROK auf Dauer fehlen.

Anzeige: Geschichte der Päpste seit 1800. Von Jörg Ernesti

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