Was taugt die Forderung nach einem Euro-Islam?Anspruch und Wirklichkeit

Über die Notwendigkeit einer Integration der Muslime in Europa herrscht breite ­Einigung. Aber wie die muslimische Teilhabe am sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Gesamtsystem gestaltet werden kann, ist weiterhin eine gewaltige Herausforderung. Wie sinnvoll ist vor diesem Hintergrund die Forderung nach einem „Euro-Islam“?

 „Der Islam gehört zu Deutschland, er ist ein Teil von uns“. Dieser Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel vermittelt Muslimen hierzulande das Gefühl der Zugehörigkeit. Die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus versucht dabei, das Akzeptable und Tolerierbare auszufiltern. Der Islam als „unsrig“ und der Islamismus als verwerflich bleiben allerdings in solchen allgemeinen Bekundungen noch weitgehend unbestimmt. Die Grenzen sind in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung so verschwommen, dass das Kopftuch beispielsweise für das Bundesinnenministerium immer noch als Erscheinungsbild des Islamismus und Extremismus schlechthin zu gelten scheint, wie die geplante Plakataktion „vermisst“ unmissverständlich vor Augen geführt hat. Faktisch geht es ja auch bisher nicht um die politische und juristische Anerkennung kollektiver Identitäten und die Gleichberechtigung kultureller Lebensformen, sondern schlicht um den Tatbestand der Dauerhaftigkeit muslimischer Präsenz. Die Anerkennung der Muslime bedarf noch weiterer Schritte. 

Ob Europe’s Second Religion“ (Shireen T. Hunters) zu einem integralen Bestandteil hiesiger Gesellschaft geworden ist, bleibt eine Grundsatzfrage. Über die Notwendigkeit einer strukturellen Inklusion herrscht breite Einigung. Aber wie die muslimische Teilhabe am sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Gesamtsystem gestaltet werden soll und kann, ist weiterhin eine gewaltige Herausforderung. Zunächst aber ist zu klären, ob die „Islamisierung der Debatten“ (Nina Clara Tiesler, Muslime in Europa. Religion und Identitätspolitiken unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, Berlin 2006, 124 ff.) die Realität widerspiegelt, um der Frage nachgehen zu können, in welchem Ausmaß der Islam identitätsbestimmend ist, an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen darf und für ein Kollektiv eintreten kann.

Die Diskussionen über das Mohammed-Video und das Kölner Beschneidungs-Urteil haben erneut offengelegt, dass die Wertedebatte über die Verpflichtung auf eine Leitkultur in voller Schärfe anhält. 

Wo es über die bloße Existenz der muslimischen Migranten hinaus um volle Rechte und Pflichten geht, sind hinsichtlich der Verflechtung der neuen Staatsbürger und Gesellschaftsmitglieder mit ihrem zunächst „fremden“ kulturellen und religiösen Hintergrund die gegenseitigen Anforderungen wie die erwarteten Anpassungsleistungen groß. Es handelt sich dabei um einen vermeintlich essenziellen Gegensatz von zwei für unversöhnlich gehaltenen Entitäten, die noch den Begrifflichkeiten des Orients und des Okzidents verhaftet bleiben: Europa und der Islam. 

Die Vielschichtigkeit der islamischen Herausforderung 

Um das Unversöhnliche zu versöhnen, die Kompatibilität ­europäischer und islamischer Werte nachzuweisen und aus Migranten Einheimische zu machen, wird eine für beide Seiten akzeptable Lösung gesucht. Es wird propagiert, dass die Religion muslimischer Migranten europäische Züge ­erhalten soll, um diesen strukturellen Antagonismus zu überwinden. Muslime ­sollen eine Integrationsleistung erbringen, sich die politischen, gesellschaftlichen ­sowie kulturellen Errungenschaften der westlichen Moderne aneignen und internalisieren. Von der kulturellen Anpassung über die Loyalitätsbekundung zu rechtstaatlich-säkularen Strukturen bis zur Moschee-Architektur und zu zwischenmenschlichen Benimmregeln gibt es dabei eine Unmenge von Aufforderungen: Ein Reform-Islam soll den Weg der Europäisierung ebnen. Die Reformierung des Islam, die den europäischen Muslimen theologische, intellektuelle und alltagsrelevante Anpassungsleistungen abverlangt, soll sich schließlich in einem deutschen, französischen oder europäischen Islam niederschlagen.

Aber auch auf der anderen Seite machen die Anpassungsanforderungen vor den politischen und institutionellen Strukturen des etablierten Systems keinen Halt: Werden die säkularen Strukturen in Europa neu ausgehandelt, nicht zuletzt angesichts der Präsenz von Muslimen? Muss das deutsche Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht werden, um der Pluralität der Religionen Rechnung zu tragen? Namhafte Wissenschaftler und Intellektuelle betonen immer wieder zum Ärger der Kulturkonservativen wie auch der breiten Massen, dass nicht nur der Islam sich verändert, sondern Europa ebenso durch den Islam sich wandelt. Auch die alteingesessene Bevölkerung selbst muss sich mit ihrer Identität als Europäer beziehungsweise Bewohner der jeweiligen Länder neu beschäftigen (Nezar AlSayyad, Muslim Europe or Euro-Islam. On the Discourses of Identity and Culture, in: AlSayyad und Manuel Castells [Hg.], Muslim Europe or Euro-Islam. Politics, culture, and citizenship in the age of globalization, Lanham 2002, 9).

Die Option eines europäischen Islam ist vor diesem Hintergrund deshalb zum Schlüsselbegriff der Problematik und ihrer Lösung avanciert, weil er einerseits europäischen Muslimen eine ausreichende Grundlage für die Bewahrung ihrer individuellen und kollektiven Identität zu schaffen scheint und andererseits die sozio-kulturellen und rechtlich-politischen Strukturen der Aufnahmegesellschaften nicht überzustrapazieren droht. Die Konzeption eines Europa-kompatiblen Islam scheint ebenso in dem vom Politikwissenschaftler Bassam Tibi vorgeschlagenen Neologismus „Euro-Islam“ auf, der sich seit zwei Jahrzehnten explizit oder implizit als Lösungsansatz anbietet. 

Jenseits der Frage nach der Kohärenz des Konzepts stehen somit drei Begriffe zur Verfügung, zwischen denen im akademischen Islam-Diskurs zwar nicht trennscharf unterschieden wird, die dennoch eine heuristische Funktion für die Formulierung der islamischen Präsenz in Europa übernehmen können. 

Der Diaspora-Islam benennt das, was nicht von Dauer sein und überwunden werden soll. Er beschreibt den noch muslimischen Fremden in dessen Verankerung in Herkunftstraditionen und -kulturen. Andere Begrifflichkeiten wie die „Parallelgesellschaft“ oder das „muslimische Getto“ als soziologische Äquivalente oder der Scharia-Islam als Umschreibung (Bassam Tibi) bieten sich an, weil sie das zu Überwindende zum Ausdruck bringen wollen. 

Der europäische Islam beziehungsweise der Euro-Islam sind als Gegenbilder zum Diaspora-Islam anzusehen. „Europäischer Islam“ ist dabei ein wertneutraler Ausdruck für die Veranschaulichung der beobachtbaren Wandlungsprozesse und gebräuchlicher als „Euro-Islam“, der sich zu einem terminus technicus mit einem überwiegend normativen Gehalt avanciert hat und hauptsächlich eine Vorstellung über die Zukunft ist. Auf eine kurze Formel gebracht: Der Diaspora-Islam orientiert sich an der Vergangenheit, der europäische Islam an der Gegenwart und der Euro-Islam an der Zukunft.

Die starke normative Aufladung des Begriffs „Euro-Islam“ ist allerdings zugleich seine analytische und empirische Schwäche. Die Operationalisierbarkeit des Begriffs scheint kaum gegeben zu sein, so dass ernsthafte Zweifel entstehen, ob er überhaupt geeignet ist, um das spannungsvolle Beziehungsgeflecht zwischen Europa und dem Islam in einem neuen sozialgeschichtlichen Kontext zu beschreiben. Lassen sich mit ihm überhaupt die wesentlichen Fragestellungen kategorisch erfassen, um der vielfältigen Lebenswirklichkeit der Muslime wie ihrer Integration einen normativen Orientierungsrahmen zu liefern und auf diese Weise eine zukunftsträchtige, europäisch-westliche Erscheinung des Islam zu konstruieren?

Die analytische Unschärfe der Begrifflichkeiten lässt sich schon an der oft gestellten Frage festmachen, ob der „Euro–­Islam“ die Realität oder eine Zukunftsvision darstellt. Bassam Tibis Intention wie auch die verbreitete Rezeption in der europäischen Öffentlichkeit sind vor dem Hintergrund der Islamkritik zu verstehen. Tibi selbst formuliert den Euro-Islam als die Antwort auf den Islamismus, auf den Scharia-, Diaspora- oder Dschihad-Islam, wie er ihn nennt. Gegenwärtig kann vom Euro-Islam keine Rede sein; die Gegenwart ist durch den Islamismus dominiert, die Zukunft soll dem Euro-Islam gehören. 

Andere geben sich jedoch mit solchen antagonistischen Dichotomien, in denen der Islamismus überbetont wird, nicht zufrieden und möchten den europäischen Islam nicht nur einer Zukunftsvision überlassen. Dazu gehören bereits entstandene oder gerade entstehende euro-islamische Erscheinungen ganz unterschiedlicher Art. 

Nicht den Islamismus überbetonen

Der französische Philosoph Abdennour Bidar spricht von einer demokratischen Wandlung des Islam in Europa und der Präsenz eines individuell kreierten „self islam“ und fordert, von diesem Wandel endlich Kenntnis zu nehmen. Das Zentrum für Türkeistudien in Essen untermauerte bereits vor Jahren empirisch eine allmähliche Entwicklung eines Euro-Islam. Der Berliner Islamwissenschaftler Peter Heine will gerade an den Dachverbänden bestehender muslimischer Organisationen ein Zeichen für die Entwicklung eines europäischen Islam erkennen. Die Rede ist von der „Euro-Islam-Architektur“ der neuen Moscheen des Abendlandes (Christian Welzbacher), die auch für den Sozial- und Kulturwissenschaftler Claus Leggewie nicht nur ein symbolisches Zeichen des Euro-Islam darstellen. 

Steckt im Euro-Islam mehr Europa als Islam?

Der Euro-Islam findet seinen Niederschlag in Abhandlungen über den islamischen Religionsunterricht für Kinder, die „nunmehr in der zweiten oder bereits dritten Generation eine neue Kultur- und Religionsausprägung als ‚Euro-Islam‘ ­verkörpern und selbst mit und neu definieren“ (Martin Bröking-Bortfeldt, Politische Gerechtigkeit. Macht und Herrschafts­formen, in: Rainer Lachmann u. a. [Hg.], Ethische Schlüsselprobleme. Lebensweltlich – Theologisch – Didaktisch, Göttingen 2006, 173). Inspiriert durch den Gedanken eines Euro-Islam fragen junge Muslime nach der Vereinbarkeit des Islam mit der westlichen Welt: „Wie können Unterschiede eine Quelle für den Fortschritt anstelle von Separation bieten?“ (www.projects.aegee.org/euroislam, vgl. auch www.euro-islam.info).

Nicht wenige Islamforscher sind demgegenüber nicht erst angesichts der Behauptung eines gegenwärtigen europäischen Islam skeptischer, sondern bereits ob der Möglichkeit, geschweige denn Notwendigkeit eines Euro-Islam. Der französische Islam-Experte Gilles Kepel weist auf gegenwärtige Bruchlinien zwischen den Kulturen und die gelegentlich aufflammenden Unruhen hin, blickt allerdings optimistisch in die Zukunft und konstatiert, dass der Trend in Richtung kultureller Integration der Muslime gehe und es auf dem Kontinent über kurz oder lang einen Euro-Islam geben werde. Weniger optimistisch zeigt sich Ursula Spuler-Stegemann gegenüber Spekulationen über eine mögliche Neudefinition des islamischen Verständnisses. Trotz aller Hoffnungen und der Bemühungen einzelner Vertreter sei ein Euro-Islam nicht in Sicht, der den Muslimen Orientierung und der demokratischen Gesellschaft die geforderte Unterstützung böte. Der Balkan-Experte Xavier Bougarel kommt zum selben Ergebnis, indem er darauf hinweist, dass es mehrere „Islame“ in Europa gebe. 

Der kritische Blick wird weiter verschärft, wo den öffentlichen Islam-Debatten hegemoniale Diskursstrukturen unterstellt werden. Der Islamwissenschaftler Heinz Halm kritisierte 2003 einen nach dem Gusto der Politiker einheitlichen „,Euro-Islam‘ als Schlagwort und Wunschvorstellung“. Die Politikwissenschaftlerin Sabine Riedel unterstellt einen von außen ­gesteuerten politischen Zwangscharakter. Sie sieht die europäischen Muslime zwischen Euro-Islam und Islamophobie eingeengt und vermutet, dass der Begriff den Kampf um die Interpretationshoheit über den Islam lediglich weiter anfacht (Zwischen „Euro-Islam“ und Islamophobie, in: Internationale Politik, Ausgabe „Islam in Europa“, September 2007, 36– 45, 39). Riedels Prognose wird von dem Islamwissenschaftler Udo Steinbach unterstützt:Das Stichwort ,Euro-Islam‘ (ruft) bei einer Mehrheit unter den Muslimen irritierte Assoziationen herauf. Sie bevorzugen eine pragmatische ‚Anpassung an die europäische Lebensweise, ohne die Grundsätze des Islam aufgeben zu müssen‘ (…). Zu stark ist das Unbehagen, ‚Euro-Islam‘ könne eben doch einen Verlust elementarer Glaubensinhalte und zugleich einen Anspruch von Nichtmuslimen bedeuten, ihrerseits zu definieren, was der Islam sei.“ 

So mancher Antagonist eines Euro-Islam unter den Muslimen ist in seiner Abwehr noch schärfer. Weder Boby Sayyid in England, der zu den bekanntesten muslimischen Gegnern eines Euro-Islam zählt, noch die deutschen Verbandsfunktionäre wollen solche Fremdzuschreibungen im Zuge eines Euro-Islam akzeptieren. Das gegnerische Lager unter den Muslimen hat sich die Parole zu eigen gemacht, dass im Euro-Islam mehr Europa steckt und kaum Islam zu finden ist. 

Aller Skepsis und Kritik zum Trotz und ungeachtet der inhaltlichen Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten sowohl eines Euro-Islam als auch der an ihn gerichteten Erwartungen lassen schließlich auch Vorschläge an die Politik nicht auf sich warten. Ausgehend von der allgemeinen Behauptung, dass die religiösen Quellen des Islams keine Aufklärung und gesellschaftliche Modernisierung erlauben würden, hält der Orientalist Rainer Glagow es – ganz im Sinne von Tibi – für notwendig, reformierte Kräfte innerhalb der muslimischen Gemeinschaften zu stärken, damit die gewaltverherrlichenden Koranstellen relativiert und die Dschihad-Regelungen der Scharia außer Kraft gesetzt werden (Die „Islamische Charta“ des Zentralrats der Muslime, in: Hans Zehetmair [Hg.], Der Islam im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog, Wiesbaden 2005, 334 –352, 336). In der Intension der Forderung, einen Reform-Islam zu unterstützen, kann sich Glagow mit Tibi und vielen anderen einigen.

Aus einer empirischen Frage wird eine umfassende Großtheorie 

Diese vielfältigen Assoziationen sind die Ursache dafür, dass das „Allheilmittel“ Euro-Islam am Ende zu einer inhaltsleeren Floskel zu werden droht, nachdem dieser auf der einen Seite für möglich gehalten, gar existent erachtet und bejaht und auf der anderen Seite als unmöglich empfunden, verneint und vehement zurückgewiesen wird. 

Eurozentrische Reformvorgaben und eine Fremdbestimmung durch Identitätszuschreibungen, die die muslimische Irritation und Abwehrhaltung nachvollziehbar machen, können sicherlich kritisiert und zurückgewiesen werden. Höchst fragwürdig ist auch eine religionspolitische Einmischung in theologische Sachfragen. Sie wäre auch mit europäischen Leitwerten wie der weltanschaulichen Neutralität des Staates, die als Messlatte für die Europäisierung des Islam fungieren sollen, nicht vereinbar.

Dennoch ist die Problematik viel grundsätzlicher, als dass sie durch den Vorwurf okzidentaler Domestizierung oder der künstlichen Heranzüchtung eines Euro-Islam (Sabine Riedel) abgetan werden könnte. Der Vorwurf der Außensteuerung kann immerhin relativiert werden, weil Muslime selbst einen Reform-Islam, eine neue Lesart theologischer Quellen fordern. Die bekanntesten Vertreter des Konzepts sind immerhin selbst Muslime und können sich auf entsprechende innermuslimische Erneuerungsaufrufe stützen. 

Wie viel Islam verträgt Europa jedoch – und umgekehrt wie viel Europa der Islam? Die grundsätzliche Herausforderung liegt in dem Unterfangen, zwischen Theologie, Epistemologie, und Lebenswelt Brücken zu schlagen. Ein theoretisch schlüssiges Konzept darf sich der Aufgabe nicht verweigern, Glaubenssätze der Religion zu behandeln und muss sich auch mit der These auseinandersetzen, dass der Islam keine Aufklärung kenne und seine religiösen Quellen keine theologische Reform und gesellschaftliche Modernisierung zulassen würden. Ein einfaches Postulat der Reformfähigkeit des Islam und seiner Vereinbarkeit mit der westlichen Zivilisation mündet schließlich in normative und zugleich holistische Ansätze. 

Wie könnte es anders sein, wenn die Universalität europäischer und islamischer Prinzipien und Werte behauptet wird? Die bekanntesten und zugleich umstrittensten Denker eines europäischen Islam beziehungsweise Euro-Islam, Bassam Tibi und Tariq Ramadan (vgl. HK, Januar 2012, 33 ff.), leiden jedoch aufgrund des nachdrücklichen Geltungsanspruchs ihrer Konzepte an den von ihnen selbst verschuldeten Erwartungen, die an ihre ganzheitlichen Ansätze mit einem universalistischen Wahrheitsanspruch herangetragen werden. Dieses ernüchternde Urteil kann kaum für Überraschung sorgen, wird doch aus einer empirischen Frage eine holistische Großtheorie mit weitreichenden normativen Vorgaben zusammengeschnürt – und dafür eine eigens konzipierte Epistemologie und Geschichtsdeutung notwendig. 

Tibis Grundlegung eines Euro-Islam mit fünf oder sechs Prinzipien (Demokratie, Laizismus, individuelle Menschenrechte, Zivilgesellschaft, Pluralismus, säkulare Toleranz), die neuerdings mit dem Neologismus „euro-islamische Asabiyya“ anstatt des von ihm früher bevorzugten Ausdrucks „europäische Leitkultur“ zusammengefasst werden und einem Wertekonsens zugrunde liegen sollen, sind nichts anders als altbekannte modernisierungstheoretische Annahmen. Sie verraten einen ausgeprägten kartesianischen Rationalismus und eine Vorliebe für eine dogmatisierte französische Laïcité. 

Gegenüber einem solchen europäischen Universalismus vertritt Tariq Ramadan mit seinem islamischen Universalismus auf der Metaebene theoretischer Aussagen zwar den Gegenpol. Er macht sich allerdings für einen weitgehenden Rationalismus, den er theologisch zu begründen versucht, genauso stark wie für die islamische Inkorporation europäischer Errungenschaften. Die Radikalität seiner Reform-Absicht ist aufgrund seiner Öffnung für einen philosophischen Diskurs mit Blick auf ein traditionelles Islamverständnis oder gar gegen einen salafitischen Islamismus durchaus als solche zu würdigen.

Beide Vordenker plädieren schließlich, wenn auch mit unterschiedlichen Prämissen, für einen islamischen Ethikdiskurs, der einen Kernbereich islamischer Prinzipien markieren soll. Mehr als ein Appell ist dies allerdings nicht. Denn weder ist ein islamischer Wertekodex herausgearbeitet, der den neuen historischen Kontext berücksichtigt hätte und eine Richtschnur für politische, zivilgesellschaftliche oder religiöse Akteure böte, noch ist ein elementarer Kernbereich des Islam ersichtlich, der für das Muslim-Sein in Europa unverzichtbar wäre, wenn der Euro-Islam nach Tibis eigener Behauptung keine Selbstaufgabe bedeuten soll. 

Gerade bei Tibi sucht man vergeblich nach einem muslimischen Selbst, das mehr wäre als eine nicht weiter definierte individuelle Spiritualität außerhalb jeglicher Einbindung in Kollektivität. In der breiten Grauzone zwischen Theologie, Epistemologie und lebensweltlicher Praxis delegiert Ramadan letztlich die entscheidenden Punkte an Gelehrtenräte, deren Konsultationen mit Zeit und Raum konforme Auslegungen („Idschtihad“) hervorbringen sollen, während Tibi den theologischen Diskurs ganz diskreditiert und sich aufklärerischen Maximen zuwendet.

Von den Euro-Islam-Überlegungen kann man lernen, weshalb ein kontextualisiertes Verständnis des Islam und seiner Quellen notwendig ist. Ein Ansatz mit geballten normativen Vorgaben dafür, wie ein europäischer Islam sein soll, wird hingegen aller Voraussicht nach am eigenen Widerspruch scheitern: einerseits die Aufgabe autoritärer und homogenisierender Islamvorstellungen zu verlangen sowie die Akzeptanz innerislamischer und gesamtgesellschaftlicher Pluralität zur Bedingung zu machen, andererseits diesen Pluralismus durch eigene normative Prämissen zu einer euro-islamischen Homogenität verleiten zu wollen. 

Gelegentlich – und von Bassam Tibi selbst geradezu paradigmatisch – wird der Euro-Islam zur Voraussetzung einer erfolgreichen Integration erklärt. Insofern eine einzige Vorstellung des Euro-Islam als normative Grundlage herangezogen wird, muss er durch die Entgegensetzung der Realität entweder als Bedingung einer erfolgreichen Integration relativiert oder in seiner normativen Überbetonung negiert werden. 

Ein empirischer Zugang hingegen kann das Paradigma umkehren und zeigen, dass die voranschreitende Integration die Entstehung eines europäischen Islam begünstigt, ohne jedoch sichere Zukunftsprognosen abgeben zu können. Die historisch-kontextuellen Sachzwänge nötigen lebensweltliche und theologische Entwicklungen auf, deren Ergebnisse vor allem in soziologischer Hinsicht kategoriale Unterschiede zur übrigen islamischen Welt hervorbringen können, die jedoch in ihrer konkreten Gestalt weder vorhergesagt werden können noch gesamteuropäisch durch ein „social engineering“ steuerbar sind. 

Es wäre für nüchterne Beobachter keine Überraschung und auch keine Enttäuschung, wenn die euro-islamischen Visionen vor der sozialgeschichtlichen Faktizität kapitulieren werden. Der Islam europäischer Muslime wird aller Voraussicht nach seine Eigenart entwickeln, die die Bezeichnung eines „europäischen Islam“ rechtfertigen kann, insofern seine Besonderheit sich im Vergleich mit anderen Weltgegenden beobachten lässt. Eine euro-islamische Homogenisierung durch normative Vorgaben sollte es hingegen nicht geben.

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