In Kindergärten geht es nicht nur um Betreuung, sondern auch um Bildung. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sie in der Breite umzusetzen, ist allerdings ein offenkundig langwieriges Unterfangen. Die religiöse Dimension dieser Bildungsprozesse in ihrer Breite wird dabei in Politik, Erziehungswissenschaft und bei vielen Trägern von Kindertageseinrichtungen erst langsam entdeckt – selbst die konfessionellen Kindergärten weisen hier noch Defizite auf.
Seit Jahren bereits forschen die beiden Religionspädagogen der Universität Tübingen, Albert Biesinger (katholisch) und Friedrich Schweitzer (evangelisch), auf diesem Feld. Sie haben jetzt zusammen mit Anke Edelbrock Ergebnisse ihrer repräsentativen Studien auf einem Symposium Mitte Dezember in Berlin vorgestellt und dabei auch Empfehlungen für Erzieherinnen und Erzieher, vor allem aber natürlich für deren Ausbilder, Kindergartenträger und die Bildungspolitik ausgesprochen („Empfehlungen zur interreligiösen Bildung in Kindertageseinrichtungen“, www.ravensburger.de/ueber-ravensburger/stiftung/aktuelles/deutschlands-kitas/index.html; vgl. auch die drei Bände mit den Befunden der Einzeluntersuchungen der drei Autoren, die seit 2009 im Verlag Waxmann, Münster, erschienen sind). Die Tagung wie schon das gesamte Forschungsprojekt wurde von der Stiftung Ravensburger Verlag finanziell unterstützt.
Jedes Kind hat ein Recht auf Religion
Grundsätzlich hält das Autorentrio in seinen Empfehlungen fest, dass die „weitreichenden Aufgaben“ einer religiösen Begleitung von Kindern sowie einer entsprechenden Ausbildung bisher stark vernachlässigt worden seien. Zum einen müsse man ernster nehmen, dass auch kleine Kinder im Regelfall auf vielfältige Weise bereits mit religiösen Vollzügen konfrontiert werden und gleichzeitig – auch unabhängig von einem entsprechenden Umfeld – religiöse Fragen haben.
Dies allein rechtfertigt eine intensivere Beschäftigung mit der Religiosität des Kindes und legt nahe, ähnlich wie im Religionsunterricht in der Schule bereits in Kindergärten, für deren Bildungsauftrag zwischenzeitlich mehr oder weniger verbindliche Leitlinien erarbeitet worden sind, das Thema Religion zu berücksichtigen.
Das gilt eben nicht nur für den Kindergarten in kirchlicher Trägerschaft, sondern für alle Einrichtungen. Gerade mit Blick auf Wohngebiete, in denen Eltern bei der Auswahl der Kita wenig oder keine Alternativen haben, dürfe es nicht dem Zufall überlassen bleiben, ob Kinder eine religionspädagogische Begleitung erhalten. Grundsätzlich sei das Recht auf Religion und auf kompetente religiöse Begleitung unabhängig von der Art der Einrichtung seit der Kinderrechtserklärung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1989 auch offiziell verbrieft, betonen die Autoren. Gerade in kommunalen Einrichtungen sei jedoch häufig das Missverständnis anzutreffen, dass eine religiöse Begleitung von Kindern juristisch gar nicht zulässig sei.
Nicht zuletzt angesichts der stärkeren Bedeutung von Religion in der öffentlichen Wahrnehmung müsse darüber hinaus auch in allen Kindertageseinrichtungen ernster genommen werden, dass die Gesellschaft faktisch nicht nur multikulturell, sondern eben auch multireligiös ist.
Während interkulturelle Bildung im Kindergarten inzwischen durchaus ein Thema sei, falle die „interreligiöse Sensibilität“, so die Ergebnisse der Befragung in 487 Kindergärten, deutlich geringer aus. Jedes Kind habe prinzipiell sowohl ein Recht auf eine religiöse Begleitung, die sich an der religiösen Prägung des eigenen Elternhauses orientiert, als auch auf interreligiöse Bildung, die ein besseres Miteinander aller Kinder im Blick hat. Ziel müsse es sein, auch in jungen Jahren bereits eine – natürlich altersgemäße – religiöse Sprachfähigkeit über die Grenzen der eigenen Religionsgemeinschaft hinaus zu erwerben.
Immerhin 77 Prozent aller befragten Erzieherinnen gaben für die Untersuchung an, dass in ihrer Gruppe mehrere Religionszugehörigkeiten vorkommen. In der Regel geht es dabei neben dem Christentum vor allem um den Islam: Jedes neunte Kind hierzulande kommt, bei einem stark steigenden Anteil, inzwischen aus einer muslimischen Familie, in manchen Kindergärten sogar mehr als die Hälfte der Kinder, nachdem die Zahl der Migrantenkinder in Kindergärten zuletzt gestiegen ist.
Das hat durchaus konkrete Konsequenzen für den Kindergartenalltag. Mehr als die Hälfte der Erzieherinnen berichten, dass Kinder in ihrer Einrichtung aus religiösen Gründen bestimmte Nahrungsmittel nicht essen dürfen, weil sie religiöse Speisevorschriften beachten sollen. Neben der Vernetzung mit Kirchengemeinden könne deshalb – je nach Situation im Umfeld – auch die mit Moscheegemeinden sinnvoll sein, lautet deshalb eine Forderung.
Mehr Augenmerk auf die Elternarbeit
Grundsätzlich müsste neben den christlichen Festen auch einmal ein muslimisches Fest Thema im Kindergarten sein. Im derzeit erscheinenden Band zur Studie finden sich eine Reihe von Best-Practice-Beispielen (Edelbrock, Biesinger und Schweitzer [Hg.], Religiöse Vielfalt in der Kita. So gelingt interreligiöse und interkulturelle Bildung in der Praxis, Cornelsen Scriptor, Mannheim 2012).
Für die interreligiöse Bildung sei es in diesem Zusammenhang auch notwendig, die Ausstattung der Einrichtungen – etwa die zur Verfügung stehenden Bücher und Spielzeuge – im Blick zu haben. Besonderes Augenmerk müsse darüber hinaus auf der Elternarbeit liegen. Schon beim ersten Gespräch sollten die Rolle von Religion in der Familie wie auch im Kindergartenalltag besprochen werden. Aus Angst vor Konflikten die Religionen aus dem Kindergarten zu verbannen, sei jedenfalls problematisch.
Gerade Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft sollten dabei Eltern mit anderer Religionszugehörigkeit vermitteln, dass sie mit ihrer Religion willkommen sind. Kindergärten kommunaler Träger stehen hingegen offensichtlich vor allem vor der Herausforderung, deutlicher zu machen, dass sie offen sind für Religion und Religionen (ohne die Rechte von Kindern und Eltern zu verletzten, die ausdrücklich keine religiöse Erziehung wünschen). Hier besteht nach der Studie „ein erheblicher Klärungsbedarf“.
Um Missverständnisse zu vermeiden sei es in diesem Zusammenhang besonders wichtig, von Bildung und nicht einfach von „religiöser Erziehung“ zu sprechen, wie Biesinger an anderer Stelle betonte (Süddeutsche Zeitung, 23. Dezember 2011).
Umgekehrt könne man die religiöse Kompetenz der Eltern nutzen und etwa eine muslimische Mutter bitten, den Kindern in der Einrichtung zu erklären, wie die Familie beispielsweise das Opferfest feiert. Dies wird auch ausdrücklich mit Blick auf die Tatsache vorgeschlagen, dass muslimische Fachkräfte eine Seltenheit sind, christlich geprägte Erzieherinnen aufgrund ihrer eigenen religiösen Identität schnell an Grenzen kommen können – wobei angesichts mangelnder Vertrautheit mit der eigenen christlichen Kultur so gut wie allen mehr religionspädagogische Anteile in der Ausbildung gut tun würden. In jedem Fall sollten dabei auch muslimische Experten stärker beteiligt werden.
Mit Blick auf derzeitige Fachkräfte gehört zu den jetzt vorgelegten Vorschlägen insbesondere der Appell an die Träger, Erzieherinnen genügend Zeit für Fortbildungen im Bereich interreligiöser Bildung einzuräumen. Alle Träger müssten sich fragen, wie das Recht auf Religion der ihnen anvertrauten Kinder nicht nur formell gewahrt, sondern auch konkret umgesetzt wird.
Kritik an der bisherigen Bildungspolitik
Besonders kritisch äußern sich die Autoren schließlich über die bisherige Bildungspolitik. Eine „weitreichende Vernachlässigung“ der interreligiösen Bildungsaufgaben sei nicht zu übersehen. Diese würden so selten berücksichtigt, dass geradezu von einer „Verdrängung“ gesprochen werden müsse. Das gilt auch für die rechtliche Ausgestaltung des Grundrechts der Kinder auf Religion.
Immerhin weisen die in den vergangenen Jahren erstellten Orientierungs- und Bildungspläne in vielen Bundesländern entsprechende Bereiche eigens aus (in Baden-Württemberg etwa mit „Sinn, Werte, Religion“ überschrieben). Gleichwohl würden die anstehenden Aufgaben nicht immer mit der erforderlichen Klarheit beschrieben. Sie seien, wie die Umfragen jetzt ergeben haben, auch oft genug schlicht gar nicht bekannt.
Hier sei nicht zuletzt auch die Begleitung durch die wissenschaftliche Religionspädagogik auszubauen, zumal die sozial- und erziehungswissenschaftliche Kinder- und Kindheitsforschung weiterhin einem traditionellen, andernorts bereits überwundenen, Säkularisierungsdenken verhaftet bleibe.
Auf dem Weg der Kindergärten von einer Betreuungs- zu einer Bildungseinrichtung bleibt also gerade aus religionspädagogischer Sicht noch Einiges zu tun.